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Arzneimittel und Therapie
Migräne: Den nächsten Anfall vorhersagen
Auf immer wieder dargebotene Reize habituiert das gesunde Gehirn, d. h. die Reizantwort schwächt sich ab. Dies lässt sich neurophysiologisch messen und quantitativ auswerten. Die Habituation wird als protektiver Mechanismus gegen Überstimulation interpretiert.
Migränepatienten weisen in der Zeit zwischen zwei Attacken eine veränderte Reizverarbeitung auf. Sie habituieren auf repetitive Reize nicht in dem Maße wie Gesunde. Während einer Migräneattacke ist die Habituation hingegen vorhanden und vollkommen normal.
Veränderte Reizverarbeitung zwischen den Attacken
An 108 Migränepatienten im schmerzfreien Zeitraum wurde dieses Reizverhalten anhand so genannter visuell evozierter Potenziale (VEP) genau untersucht. Dafür bekamen die Versuchspersonen über einen Bildschirm verschiedene Lichtsignale dargeboten. Bei jedem roten Lichtreiz mussten sie einen Schalter betätigen.
Die mittels Elektrode abgeleitete Kurve nach den ersten 30 Zielreizen wurde mit der nach den zweiten 30 Zielreizen ermittelten Kurve verglichen. 75% der Migräniker zeigten eine fehlende Habituation.
Der Habituationsverlust setzt nicht abrupt nach der Migräneattacke ein, sondern ist ein dynamischer Prozess: In der anfallsfreien Zeit nimmt er von Tag zu Tag zu. Während der Attacke kommt es dann gleichsam als "Reset" zur sehr raschen Normalisierung der Habituation.
Die letzten 48 Stunden sind entscheidend
Neurophysiologische Auffälligkeiten zeigen Migränepatienten auch in einer Erwartungssituation (im Alltag z. B. beim Warten vor einer roten Ampel). In Erwartung eines bestimmten Reizes lässt sich ein langsames kortikales Gleichspannungspotenzial (CNV = Contingent Negative Variation) ableiten, das beim Migräniker in der Zeit zwischen den Attacken eine größere Reaktionsamplitude aufweist als bei Gesunden.
Dies weist auf Veränderungen der kortikalen Informationsverarbeitung hin. Bei Migränikern besteht offenbar eine größere sensorische Offenheit. Außerdem fehlt in der anfallsfreien Zeit auch bei den CNV die für den Gesunden typische Habituation. Wird das kortikale Gleichspannungspotenzial dagegen während eines Migräneanfalls bestimmt, entspricht die Habituation der eines Gesunden, und es lassen sich keine erhöhten Amplituden nachweisen.
In den letzten zwei Tagen vor einem Migräneanfall nimmt die CNV-Amplitude besonders deutlich zu. Untersuchungen zufolge münden gemessene kortikale Auffälligkeiten tatsächlich zu etwa 60% nach 24 bis 48 Stunden in einen Migräneanfall.
Durch die Messung der phasenweise erhöhten kortikalen Erregbarkeit (Exzitabilität) ergibt sich also die Möglichkeit der Vorhersagbarkeit eines Migräneanfalls und die Chance für neue Strategien zur direkten Anfallsverhinderung, bevor der Kopfschmerz einsetzt.
So könnte die erhöhte Erregbarkeit in der Phase vor einem Anfall entweder medikamentös (z. B. durch zentral dämpfende Substanzen) oder durch wirksames Entspannungstraining reduziert werden. In dieser Phase sollten dann bekannte Anfalls-Auslöser wie Alkohol, Glutamat, Fasten, Saunabesuch, starke körperliche Anstrengung und Stress vermieden werden.
Stattdessen sollte ein gezieltes Genusstraining zum Einsatz kommen. Es wäre ein Vorteil, wenn man durch solche Messungen Intervention und Meiden der Provokationsfaktoren auf diesen entscheidenden Zeitraum beschränken könnte. Dazu müsste der Patient einen Indikator für hohe CNV-Amplitude haben, was z. B. in Form einer Neurofeedback-Therapie erlernbar wäre.
Quelle
A. Frese, Münster; P. Kropp, Kiel; J. Áfra, Budapest: Symposium "Vorhersage von Migräneanfällen", im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses, Münster, 11. Oktober 2003.
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