Gesundheitsreform

H. G. SchweimBindung der Erstattung von Arzneimittel

Fortdauernd kommt es zu Diskussionen in der Öffentlichkeit um die Frage des Ausschlusses von nicht-verschreibungspflichtigen (synonym: rezeptfreien) Arzneimitteln aus der Erstattung der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Hier sollen Erstattungsaspekte aus regulatorischer Sicht und aus Sicht der Arzneimittelsicherheit behandelt werden[1].

Leistungsanspruch der Versicherten

Um die Frage des grundsätzlichen Ausschlusses von nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus dem Leistungsumfang der GKV zu beleuchten, muss der Leistungsanspruch der Versicherten auf die Versorgung mit Arzneimitteln näher betrachtet werden. Gemäß SGB V[2] haben Versicherte einen Anspruch auf die Versorgung mit Arzneimitteln im Rahmen der Krankenbehandlung.

Diese können sie immer dann beanspruchen, wenn sie notwendig sind, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Begriff der Krankheit selbst wird im SGB V nicht definiert.

Es wird dabei jedoch grundsätzlich der in Rechtsprechung und Praxis entwickelte Krankheitsbegriff übernommen, wonach unter "Krankheit" ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand zu verstehen ist, dessen Eintritt entweder die Notwendigkeit einer Heilbehandlung des Versicherten oder lediglich seine Arbeitsunfähigkeit oder beides zugleich zur Folge hat[3].

Die GKV hat dabei[4] den Versicherten die Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes des § 12 SGB V zur Verfügung zu stellen, wobei Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben.

Der Anspruch der Versicherten umfasst also die Versorgung nach den Regeln der ärztlichen Kunst auf Grundlage des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse im Umfang einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung.

Gemäß den §§ 31, 34, 35, 92, 92 a SGB V hat der Versicherte also grundsätzlich einen Anspruch auf die Versorgung mit allen nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassenen, verkehrsfähigen Arzneimitteln, sofern sie nicht aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind.

Aus §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 70 Abs. 1 Satz 1, 72 Abs. 2 Satz 1 SGB V sowie den Nummern 3 und 8 der Arzneimittel-Richtlinien folgt, dass eine Versorgung der Versicherten nach den Regeln der ärztlichen Kunst auf der Grundlage des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse zu erfolgen habe. Ergänzend ist der medizinische Fortschritt zu berücksichtigen und durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung hinzuwirken.

Zweck des Gemeinwohls

Durch die Neufassung des SGB V durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) wurde der Leistungsanspruch der Versicherten in § 34 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V dahingehend eingeschränkt, dass nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel grundsätzlich von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen sind.

Der Ausschluss nicht-verschreibungspflichtiger Mittel durch das GMG soll der Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung dienen, einem fraglos vernünftigen Zweck und einer Gemeinwohlaufgabe von hohem Rang[5]. Grundsätzlich ist also ein Ausschluss von Arzneimitteln aus der Erstattung[6] auf einer gesetzlichen Grundlage mit dem vernünftigen Zweck des Gemeinwohls möglich. Zu untersuchen ist allerdings, ob dieses Ziel mit dem GMG erreichbar ist. Auch ist eine Güterabwägung vorzunehmen, ob Eingriffszweck und Eingriffsintensität in einem angemessenen Verhältnis stehen.

Da es sich bei der GKV um eine Versicherung mit Beiträgen, nicht um eine staatliche Leistung (z. B. aus Steuermitteln) handelt, ist das grundgesetzlich geschützte Eigentumsrecht[7] des Bürgers berührt. Die Maßnahmen dürfen daher die Betroffenen nicht übermäßig belasten[8]. Zu diskutieren ist nun, ob das Merkmal der Nicht-Verschreibungspflicht eines Arzneimittels als Kriterium für dessen Ausschluss aus der Erstattung diesen Maßstäben genügt.

Was hat die Verschreibungspflicht mit der Qualität zu tun?

Im SGB V[9] wird die Leistungspflicht bei "Qualität und Wirksamkeit" gemäß dem "allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse" unter Berücksichtigung der "therapeutischen Vielfalt"[10] (also auch der "Besonderen Therapierichtungen") garantiert. Was bedeutet nun im Hinblick auf Verschreibungspflicht oder Nicht-Verschreibungspflicht die Aussage "Qualität und Wirksamkeit"?

Nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel werden nach denselben Bewertungsmaßstäben wie verschreibungspflichtige Arzneimittel zugelassen[11]. Sie erfüllen also die gleichen Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit. Gemäß Beschluss der Dritten Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts[12] muss die GKV dann die Kosten eines Arzneimittels übernehmen, wenn dessen therapeutischer Nutzen nachgewiesen ist. Hiervon ist also im Falle nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel auszugehen.

Es soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, dass das Bundesverfassungsgericht pauschal die Auffassung vertritt, dass die GKV stets die Kosten eines Arzneimittels zu übernehmen hat, wenn dessen therapeutischer Nutzen nachgewiesen ist.

Vielmehr hat der Gesetzgeber in einem sehr weiten Rahmen die Möglichkeit eigenständig zu bestimmen, welche Leistungen[13] erstattet werden sollen und welche nicht, und zwar unabhängig von ihrer Wirksamkeit. Eine implizite Gleichsetzung zwischen Nicht-Verschreibungspflicht und mangelndem therapeutischem Nutzen und damit zulässigem Ausschluss von der Erstattung[14] ist dennoch unzulässig und abzulehnen.

Nicht alles Rezeptfreie eignet sich für die Selbstmedikation

Die Herausnahme der nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel aus der Kassenleistung wurde auch damit begründet, dass bereits mehr als die Hälfte dieser Arzneimittel in der Selbstmedikation beheimatet ist[15] und man die "restlichen" Arzneimittel ebenfalls dem Patienten für die Selbstmedikation überlassen sollte.

Tatsächlich betrifft die Gesetzesänderung aber 30% aller verordneten Arzneimittelpackungen[16] und nicht nur die "restlichen 40%" der Selbstmedikation. Der obige Ansatz verkennt auch, dass unter den nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln viele Präparate sind, die wegen ihres Anwendungsgebietes (z. B. ist bei Mitteln gegen Prostatahyperplasie die Absicherung notwendig, dass keine Krebserkrankung vorliegt) oder wegen ihrer Applikationsform (z. B. 0,9% NaCl-Lösung zur Infusion) überhaupt nicht für die Selbstmedikation geeignet sind.

Auch verschreibungsfreie Arzneimittel zur Behandlung von z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz, Depression usw. können wegen des Problems der Diagnosestellung und z. T. wegen der fehlenden (Rest-)Fähigkeiten der Patienten, autonom-verantwortlich zu entscheiden, nicht in die Selbstmedikation überführt werden.

Ausnahmeliste ist nur die zweitbeste Lösung

Teilweise wird diesen Bedenken durch die Ausnahmeliste Rechnung getragen: Im Auftrag des Gesetzgebers hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Liste von rezeptfreien Arzneimitteln erstellt, die für die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten und daher mit Begründung ausnahmsweise zulasten der GKV verordnet werden können[17].

Richtiger wäre es aus fachlicher Sicht, dass alle Arzneimittel der oben genannten Problemkreise für die Patienten grundsätzlich auch auf Verschreibung zur Verfügung stehen. Dies brächte die Möglichkeit der "arztgestützten Selbstmedikation" ("collaborative care"), einer modernen Entwicklung, die wegen der sicheren Medikation (trotz der Kostensituation im Gesundheitswesen) immer wichtiger werden wird.

Naturheilmittel nicht bei schweren Erkrankungen

Ein weiterer Aspekt für die Erarbeitung von Ausnahmen durch den G-BA ist die Vorgabe, dass der "therapeutischen Vielfalt" Rechnung zu tragen ist, also auch die naturheilkundlichen Arzneimittel (pflanzliche Arzneimittel, Homöopathika, Anthroposophika usw.) zu berücksichtigen sind.

Da für den G-BA in der Begründung zu § 34 Abs. 1 SGB V in der Fassung von Artikel 1 Nr. 22 GMG ausgeführt wird, "der Gemeinsame Bundesausschuss nimmt in diese Richtlinie Fertigarzneimittel, die nicht der Verschreibungspflicht unterliegen, auf, sofern diese unverzichtbare Standardwirkstoffe für die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen z. B. für die Onkologie, für die Nachsorge nach Herzinfarkt, zur Behandlung des Klimakteriums enthalten", ist zu prüfen, ob naturheilkundliche Arzneimittel diese Anforderungen überhaupt erfüllen können.

Aus Art und Schwere der beispielhaft aufgeführten Therapiegebiete ist abzuleiten, dass Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen nach dem Wortlaut des Textes nur in Ausnahmefällen Berücksichtigung finden können, wie sich in der Liste des G-BA auch zeigt,. Erkrankungen von diesem Schweregrad können eben üblicherweise nicht mit derartigen Arzneimitteln behandelt werden.

Der Gesetzgeber spricht in der Begründung des Gesetzes davon, dass bei den Entscheidungen über Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen Vertreter der besonderen Therapierichtungen gemäß § 92 Abs. 2 Satz 5 und 6 SGB V beteiligt werden.

Es heißt dort, dass bei der Formulierung der Arzneimittel-Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesausschuss bezüglich des Ausschlusses von nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die Therapievielfalt zu gewährleisten ist ("Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen, insbesondere der Anthroposophie, Homöopathie und Phytotherapie, sind zu berücksichtigen"). Wie das geschehen soll, steht aber nicht in dem Gesetz; dass die Meinungen darüber sehr geteilt sind18, zeigt die aktuelle Diskussion[19].

Wirtschaftlichkeitsgebot contra Behandlungsverpflichtung

Gemäß § 12 SGB V gilt das "Wirtschaftlichkeitsgebot": Die Leistungen[20] müssen "ausreichend zweckmäßig und wirtschaftlich" sein. Genauso verhält es sich beim Ausschluss nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus der Leistungspflicht der GKV aber möglicherweise nicht.

Die Konfliktrolle des Vertragsarztes (Kassenarztes) zwischen den Prämissen des SGB V einerseits und der ärztlichen Behandlungsverpflichtung nach medizinischen bzw. haftungsrechtlichen Gesichtspunkten andererseits ist offensichtlich. Der Arzt ist gemäß seinen Berufsordnungen (bis zurück zum "Hippokratischen Eid") verpflichtet, Patienten, denen er bislang nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel zur Behandlung ihrer Erkrankung ("Leidensdruck") verordnet hat, weiter zu behandeln.

Geht man davon aus, dass die Verordnung der nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimittel bisher "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" war, so würde der Arzt, der nun auf verschreibungspflichtige Präparate ausweicht, zumindest gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit verstoßen, da es sich bei den nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in der Regel um Arzneimittel im unteren Preisbereich handelt[21], während verschreibungspflichtige Arzneimittel im Mittelwert etwa dreimal so teuer sind[22].

Wenn der Arzt aber den Patienten auf die Alternative des "Selbsterwerbs" des bisher verschriebenen Arzneimittels verweist, so ist zu befürchten, dass dieser dann aus finanziellen Gründen das Arzneimittel nicht erwirbt und folglich auch nicht anwendet, sodass zu den "normalen" Problemen der Non-Compliance ein pekuniäres Compliance-Problem hinzutritt.

Ob die sich u. U. daraus ergebenden Folgekosten – durch Verschlimmerung eines Krankheitszustandes wegen nicht rechtzeitiger, nicht angemessener und nicht zweckmäßiger Therapie – letztlich nicht das Sparziel für die GKV unterlaufen, erscheint noch offen.

Kurzfristige und nachhaltige Wirtschaftlichkeit

Das Bundessozialgericht hat in der Vergangenheit ausgeführt, dass der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt mit der Rechtsmacht beliehen ist, für die Krankenkasse verbindlich das Vorliegen einer Krankheit des Patienten festzustellen und eine bestimmte Dienst- oder Sachleistung zu verordnen[23].

Der Krankenversicherungsträger ist somit grundsätzlich rechtlich an die medizinischen Erkenntnisse, d. h. Diagnose und Therapie, des ordnungsgemäß handelnden Kassenarztes gebunden[24]. In Ausübung dieser Konkretisierungsfunktion ist der Vertragsarzt allerdings gleichzeitig den für ihn verbindlichen Rechtsnormen, insbesondere also dem Leistungsrecht des SGB V, verpflichtet. Er muss dabei stets die wirtschaftliche Behandlungsalternative wählen.

"Wirtschaftlich" im engeren Sinne ist das Mittel, durch das der größtmögliche Erfolg mit dem geringstmöglichen finanziellen Aufwand erreicht werden kann[25]. Für die Berechnung der Wirtschaftlichkeit sind nicht allein die Kosten des Mittels maßgeblich, sondern auch der medizinische Nutzen der Behandlung, also insbesondere Art, Dauer und Nachhaltigkeit des Heilerfolges[26]. Es wird daher infrage gestellt, ob der Ausschluss von nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln dem Wirtschaftlichkeitsgebot tatsächlich Rechnung trägt.

Verschreibungspflicht und Arzneimittelsicherheit

Zusätzlich gerät der Gesetzgeber dadurch, dass er nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel aus der Erstattungsfähigkeit durch die GKV ausschließt, mit einem anderen gesundheitspolitischen Ziel, der "Verbesserung der Qualität und der medizinischen Versorgung", in unmittelbaren Konflikt.

Die Richtlinie 92/26/EWG[27] harmonisiert die grundlegenden Prinzipien für die Einstufung zur Abgabe von Arzneimitteln in den EU-Mitgliedstaaten, hat aber dadurch die erheblichen Unterschiede in der Selbstmedikationspraxis der einzelnen Mitgliedstaaten nicht beseitigt[28].

Sie unterscheidet zwischen "verschreibungspflichtig" und "nicht-verschreibungspflichtig". (Die deutschen Zusatzkriterien "apothekenpflichtig" bzw. "freiverkäuflich" kommen dort nicht vor.) Gemäß dem Geist der Richtlinie ist davon auszugehen, dass Arzneimittel im Normalfall "nicht-verschreibungspflichtig" sein sollten; denn Verschreibungspflicht ist nur dann vorgeschrieben, wenn das Arzneimittel

  • ohne ärztliche Kontrolle eine Gefahr darstellen könnte,
  • häufig und in starkem Maße unter anormalen Bedingungen verwendet wird,
  • eine Wirkung oder Nebenwirkung hervorrufen kann, die noch genauer erforscht werden muss[29],
  • normalerweise zur parenteralen Anwendung von einem Arzt verschrieben wird.

Die Richtlinie, die mit den §§ 48 und 49 AMG in nationales Recht umgesetzt worden ist, soll bisher unbekannte bzw. auch bekannte Gesundheitsrisiken minimieren und damit die Arzneimittelsicherheit gewährleisten. So wird z. B. vor der Abgabe risikoreicherer Medikamente, obwohl sie ordnungsgemäß zugelassen sind, eine individuelle Nutzen-Risiko-Abschätzung für einen konkreten Patienten durch den Arzt vorgeschaltet[30].

Ist ein Arzneimittel hingegen nicht (mehr) verschreibungspflichtig, so impliziert dies die Prognose, dass weder eine potenzielle Gesundheitsgefährdung noch ein Missbrauch zu befürchten ist[31]. Das Kriterium der Verschreibungspflicht bezieht sich somit ausschließlich auf die Arzneimittelsicherheit.

Daher ist das Kriterium der (Nicht-)Verschreibungspflicht als Entscheidungsparameter für die Leistungspflicht der GKV völlig ungeeignet. Diese Ansicht stützt sich auch auf die Verordnung über die automatische Verschreibungspflicht[32]. Der Sachverständigenausschuss, der gemäß § 53 Abs. 2 AMG anzuhören ist, wenn das Bundesministerium beabsichtigt, bestimmte Stoffe der Verschreibungspflicht zu unterstellen, hat folgenden Prüfauftrag:

Liegen

  • bestimmungsgemäßer Gebrauch,
  • unmittelbare Gesundheitsgefährdung,
  • mittelbare Gesundheitsgefährdung,
  • Umweltgefährdung,
  • Notwendigkeit der ärztlichen Kontrolle,
  • Missbrauch bzw. Missbrauchspotenzial und -möglichkeiten,
  • Höchstmengen, d. h. Freistellung bestimmter Dosen, vor?

Zusätzlich sind die Anwendungserfahrung in Deutschland und im Ausland – insbesondere negative ausländische Erfahrungen sind immer zu berücksichtigen – zu prüfen.

Die Beurteilung von Qualität und Wirksamkeit des fraglichen Stoffes und seine positive Nutzen-Risiko-Bilanz wurden hingegen bereits im Rahmen der Zulassung geleistet. Auch aus den Angaben zu § 63 AMG "Stufenplan" und dort aus den Leitsätzen[33] ist abzuleiten, dass die "Empfehlung an den Verordnungsgeber zur Unterstellung unter die Verschreibungspflicht" eine reine arzneimittelsicherheitsrechtliche Frage ist.

Fazit

Zwar kann das legitime Ziel, Arzneimittel aus der Leistungspflicht der GKV auszuschließen, um Kosten zu sparen, ein vernünftiger Zweck im Sinne des Gemeinwohls sein. Aber wer die Verschreibungspflicht zum Maße der Erstattungspflicht macht, kann damit das Eingehen eines Risikos für den Patienten belohnen[34].

In einigen Studien ist von 15 000 bis 25 000 – in einem Bericht sogar von 58 000[35] – Todesfällen[36] pro Jahr durch Nebenwirkungen von Arzneimitteln die Rede. Durch die vermehrte Verordnung verschreibungspflichtiger statt risikoärmerer nicht-verschreibungspflichtiger Arzneimittel wird möglicherweise der zusätzliche Tod von Menschen in Kauf genommen[37].

Das hohe Rechtsgut "Volksgesundheit" ("risk to public health") wiegt so schwer, dass eine Rechtsgüterabwägung wohl nur gegen die Regelungen des GMG ausfallen kann.

Ferner ist zu bezweifeln, ob durch diese Maßnahme, die Einsparungen von unter 900 Mio. Euro bringen soll[38], das Ziel der "finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung" erreicht werden kann; denn im Jahr 2003 betrug das Ausgabenvolumen der GKV knapp 145 Mrd. Euro und das Defizit rund 2,9 Mrd. Euro[39]. Auch unter finanziellen Gesichtspunkten muss die Sinnhaftigkeit der Maßnahme wohl verneint werden.

* Dieser Beitrag ist eine private Meinungsäußerung und keine aus dienstlicher Funktion.

1 Dieser Beitrag verwendet als wesentliche Quelle das Rechtsgutachten "Die Neuordnung der Arzneimittelversorgung im Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG)" von Prof. Dr. U. M. Gassner, Augsburg. 2 §§ 11 Abs. 1, 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V. 3 vgl. Gesetzesbegründung des Gesundheitsreformgesetzes – BR-Drucksache 200/88, BT-Drucksache 11/2237. 4 gemäß § 2 Abs. 1 SGB V. 5 BVerfG, NJW, 1992, 735, NJW, 2000, 1781, NJW, 2001, 1779. 6 GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), BGBl I S. 2190 vom 19. 11. 2003. 7 Art. 14 GG. 8 BVerfGE, 83, 1, 80, 297, 90, 145. 9 § 2 SGB V. 10 geänderte Fassung nach GMG. 11 § 25 (2) 4. AMG i.d.F. vom 11. 12. 1998 und nachfolgenden Änderungen, BGBl I S. 3586. 12 BVerfG, NJW, 1992, 735. 13 lies hier: Arzneimittel (der Verf.). 14 BVerfG, NJW, 1992, 735. 15 vgl. Gesetzesbegründung – Gesundheitsreformgesetz – BR-Drucksache 200/88, BT-Drucksache 11/2237. 16 Schierholz, EHK 2004; 53; 119 – 121. 17 Pressemitteilung des G-BA vom 16. 3. 2004. 18 Neues Deutschland vom 18. 3. 2004, "Homöopathen wollen klagen". 19 Die Welt vom 9. 3. 2004, "Sozialministerin will gesetzliche Sparvorgaben für Arzneimittel wieder aufweichen"; Frankfurter Allgemeine vom 8. 3. 2004, "Kassen sollen weiter für pflanzliche und homöopathische Mittel zahlen". 20 lies hier: Arzneimittel (der Verf.). 21 BT-Drucksache 15/1525, S. 86. Im Schnitt 2002 = 11,60 Euro. 22 BPI, Pharmadaten 2003, S. 41 (Datenbasis 2002). 23 BSGE, 73, 271, 277 ff. 24 BSG, Urteil vom 17. 1. 1996, 3 RK 26/94 – Remedacen. 25 Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB, § 12 SGB V, Rn. 23. 26 BSGE, 64, 255, 257. 27 Richtlinie 92/26/EWG vom 31. 3. 1992. 28 Kommission, (97), 581, final, vom 14. 11. 1997. 29 vgl. auch § 49 AMG. 30 Lippert, in Deutsch/Lippert, Kommentar zum AMG 2000, § 48 Rn. 3. 31 Wartensleben, MDT 34/2003, S. 29. 32 BGBl I, S. 917 vom 26. 6. 1978 und nachfolgende Änderungen. 33 Leitsätze des BMJFG vom 12. 11. 1975 unter Nr. 9, "Maßnahmen". 34 Kreisch, "Teures Sparen", gpk 8/2003, S. 8. 35 Prof. Dr. Jürgen Frölich am 26. 8. 2003 im NDR-Fernsehen "Visite". 36 Derartige Zahlen sind, da Schätzungen, sehr umstritten. In den Maximalzahlen sind meist auch unvermeidbare Fälle (z. B. Todesfälle von Schwerstkranken auf Intensivstationen) enthalten. Vermutlich liegt die Zahl vermeidbarer Fälle deutlich niedriger, Schätzungen sprechen von 8000 bis 16 000. 37 Schierholz, EHK 2004; 53; 119 – 121. 38 Süddeutsche Zeitung vom 4. 3. 2004. 39 Pressemitteilung des BMGS vom 2. 3. 2004.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Bindung der Erstattungsfähigkeit von Arzneimitteln an die Verschreibungspflicht ist ein Fehlgriff im GMG.
  • Das Kriterium der (Nicht-)Verschreibungspflicht ist ausschließlich für die Arzneimittelsicherheit relevant. Es macht keine Aussage über Qualität und Wirksamkeit dieser Arzneimittel gemäß § 25 AMG.
  • Eine Gleichsetzung von nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln mit unwirksamen Arzneimitteln ist nicht zulässig. Zweifelhaft ist, ob der Ausschluss dieser Arzneimittel aus den Leistungen der GKV dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V Rechnung trägt.
  • Ein Arzt, der für Erkrankungen, die üblicherweise mit nicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln therapiert werden, verschreibungspflichtige Arzneimittel verordnet, verstößt möglicherweise gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot. Da verschreibungspflichtige Arzneimittel risikoreicher sind, könnte er auch die vom Gesetzgeber gewollte Verbesserung der Qualität in der Medizin beeinträchtigen.
  • Die Berücksichtigung der "therapeutischen Vielfalt", wie von der Bevölkerung gewünscht und vom Gesetzgeber ausdrücklich angesprochen, ist mit den beschlossenen Regelungen bei wortlautgetreuer Auslegung vermutlich nicht erfüllbar.
  • Eine Rechtsgüterabwägung der Maßnahme ergibt: Das Risiko für die Volksgesundheit überwiegt den finanziellen Nutzen für das Gemeinwohl.

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