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Arzneimittel und Therapie
Hoffnungsträger Thalidomid: Ein Wirkstoff mit vielen Gesichtern
Nach der Zulassung 1957 glaubten die Wissenschaftler, mit Thalidomid ein ausgesprochen gut verträgliches Schlaf- bzw. Beruhigungsmittel gefunden zu haben. Als willkommener Nebeneffekt galt die antiemetische Wirkung, deretwegen gerade schwangere Frauen gerne zu Contergan® griffen.
Rund 10000 Kinder kamen daraufhin mit missbildeten Gliedmaßen zur Welt, 4000 davon allein in Deutschland. Aufgrund dieser schwerwiegenden Nebenwirkung wurde Thalidomid 1961 vom Markt genommen. In den letzten Jahren beschäftigten sich zahlreichen Studien erneut mit den erstaunlich vielseitigen Wirkweisen von Thalidomid.
Therapieerfolge beim multiplen Myelom
Neben der bekannten sedierenden Wirkung verfügt Thalidomid sowohl über immunmodulatorisches als auch über antiangiogenetisches Potenzial. Auf Grund der letztgenannten Eigenschaften konnte Thalidomid in diversen klinischen Studien Erfolge bei der Behandlung des multiplen Myeloms erzielen.
Dieser seltene Knochenkrebs gilt als schwer behandelbar, selbst nach einer hochdosierten Chemotherapie sind die Aussichten schlecht. Besonders ungünstig auf die Prognose wirkt sich eine Gefäßneubildung im Bereich des Knochenmarks aus. Durch seine antiangiogenetische Wirkung soll orales Thalidomid diese Gefäßneubildung unterbinden und somit, anders als herkömmliche Zytostatika, zu einer Senkung des Rezidivrisikos beitragen.
In zahlreichen Therapiestudien wurde die Thalidomid-Monotherapie beim rezidivierenden und therapieresistenten multiplen Myelom getestet. Die Ansprechraten variierten in verschiedenen Studien zwischen 25 bis 78 Prozent bei einer täglichen oralen Dosis von 50 bis 800 mg Thalidomid. In einigen Fällen kam es zur kompletten Remission.
Bei Patienten, die weder auf eine Chemotherapie noch auf Thalidomid alleine ansprachen, zeigte mitunter eine Kombination der beiden Therapieansätze Wirkung. Erste Studien beschieden der Kombination von Thalidomid und Dexamethason Erfolg in der First-line-Therapie bei neu diagnostiziertem multiplem Myelom.
Zu den am häufigsten erwähnten Nebenwirkungen gehörten naturgegeben Sedierung und Müdigkeit. Ebenfalls vermehrt traten unter anderem Obstipation, periphere Neuropathien und Hautausschläge auf. Vor allem bei der Kombination von Thalidomid und Chemotherapie kam es vereinzelt zu tiefen Beinvenenthrombosen.
Hoffnung bei Lupus erythematodes
Ebenfalls gute Ergebnisse erzielte niedrigdosiertes Thalidomid bei Patienten mit therapieresistenter Hautmanifestation von systemischem Lupus erythematodes. Grund hierfür ist neben den immunmodulierenden Eigenschaften der hemmende Einfluss, den Thalidomid auf den proinflammatorischen Tumornekrosefaktor-alpha (TNF-α) ausübt.
Retrospektiv wurden die medizinischen Aufzeichnungen von 23 Patienten des Department of Dermatology, Wake Forest University School of Medicine in Winston-Salem, NC, betrachtet. Sie alle litten unter Lupus erythematodes, dessen kutane Manifestation nicht auf die konventionellen Therapiemöglichkeiten ansprach.
Infolgedessen erhielten die Patienten über mindestens einen Monat hinweg eine tägliche Dosis von 100 mg Thalidomid. Bei 17 der 23 Patienten (74 Prozent), kam es zu einem kompletten Rückgang der Symptome. Bei drei der Betroffenen (13 Prozent) verbesserte sich die kutane Manifestation um 75 Prozent oder mehr, bei den restlichen drei behandelten Personen gingen die Symptome um weniger als 75 Prozent zurück.
21 Patienten sprachen auf das Thalidomid innerhalb der ersten acht Wochen nach Therapiebeginn an. Diese positiven Ergebnisse lassen hoffen, dass baldmöglichst auch prospektive Studien durchgeführt werden, um die gewonnenen Erkenntnisse zu bestätigen.
Lepra-Patienten profitieren bereits
Für eine weitere Indikation – die Behandlung des Erythema nodosum leprosum (ENL) – ist Thalidomid in den USA bereits zugelassen. Leprapatienten leiden häufig unter diesen schmerzhaften, entzündlichen Hautveränderungen, die in Folge einer Immunreaktion auf Abbauprodukte des Lepraerregers auftreten können.
Die Wirksamkeit von Thalidomid auf diesem Gebiet erklären die Wissenschaftler auch hier mit dessen hemmendem Einfluss auf den entzündungsfördernden TNF-α. Durch die verminderte Produktion von TNF-α kann die Immunreaktion des Körpers gezügelt werden. Die Medikation ist auf Grund der bekannten Teratogenität von Thalidomid an strenge Sicherheitsvorschriften gebunden.
Diese betreffen den Apotheker, den Arzt und auch den Patienten. Nach einer ausführlichen Information müssen sich Patientinnen und Patienten unter anderem dazu bereit erklären, während des gesamten Behandlungszeitraums streng zu verhüten.
Die Fähigkeit von Thalidomid, die Produktion von TNF-α zu hemmen, könnte auch der Ansatz für weitere Indikationsgebiete sein. In Frage kommen dabei vor allem Krankheiten, die auf eine übersteigerte Immunreaktion des Körpers zurückzuführen sind. So wird Thalidomid z. B. auf seine Wirkung bei Morbus Crohn, rheumatoider Arthritis, aber auch Abstoßungsreaktionen von Hauttransplantaten getestet.
In diversen Studien konnten zudem einige Symptome der Aids-Krankheit gelindert werden, wie beispielsweise die schmerzhaften Aphthen im Mund- und Rachenraum und das Wasting-Syndrom, welches mit einem bedrohlichen Verlust an Körpermasse einhergeht. Des weiteren wird derzeit der Einfluss von Thalidomid unter anderem auf das Mamma-, das Bronchial- und das Prostatakarzinom untersucht.
Vor rund vierzig Jahren machte Thalidomid unter dem Namen Contergan Schlagzeilen. Seiner teratogenen Nebenwirkung wegen wurde damals dem Schlafmittel die Zulassung entzogen. Heute findet der Wirkstoff erneut Beachtung: aktuelle Studien lassen hoffen, dass Thalidomid aufgrund seiner immunmodulatorischen und antiangiogenetischen Eigenschaften bei der Bekämpfung des multiplen Myeloms eine gewisse Bedeutung erlangen könnte. Unter anderem erfolgreich erwies sich die Substanz auch bei der Behandlung des Lupus erythematodes; in der Therapie von Erythema nodosum leprosum ist die Verbindung bereits seit einiger Zeit etabliert.
Beantragte Wiederzulassungen noch nicht entschieden
Die Europäische Zulassungsbehörde EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products) prüft derzeit zwei Anträge von Pharmaunternehmen auf die europäische Wiederzulassung für die Behandlung des Erythema nodosum leprosum, einer schweren Form der Lepra, sowie für das Plasmozytom.
Sachverständige der EMEA und Vertreter der beiden Unternehmen Pharmion (USA) und Laphal (Frankreich) diskutieren gemeinsam mit dem Bundesverband der Contergangeschädigten und mit Betroffenen aus Großbritannien und Schweden die Frage, welche Schutzmaßnahmen im Zuge der Verbotsaufhebung getroffen werden müssten.
Die Vertreter der Betroffenen hatten keine grundsätzlichen Einwände gegen den Wiedereinsatz von Thalidomid, auch um damit zu vermeiden, dass ein Schwarzmarkt entsteht. In einer gemeinsamen Stellungnahme von BfArM und den Arzneimittelkommissionen der Deutschen Ärzteschaft und der Deutschen Apotheker vom 22. Dezember 2003 wurde festgestellt:
- Thalidomid hat neben seiner sedierenden Wirkung auch bei verschiedenen anderen Indikationen ein therapeutisches Potenzial. Es wirkt unter anderem immunmodulatorisch und wird deswegen in klinischen Prüfungen erprobt und in individuellen Heilversuchen angewendet. Aufgrund der bekannten Risiken von Thalidomid, insbesondere seiner teratogenen Wirkung, muss bei der Anwendung in jedem Fall die Einhaltung höchstmöglicher Sicherheitsvorkehrungen gewährleistet sein. Ohne diese ist der Einsatz von Thalidomid-haltigen Arzneimitteln medizinisch nicht vertretbar und das Inverkehrbringen arzneimittelrechtlich als bedenklich anzusehen.
- Die Anwendung eines Thalidomid-haltigen Arzneimittels erfolgt in persönlicher Verantwortung des Arztes; § 84 des Arzneimittelgesetzes zur Gefährdungshaftung ist nicht anwendbar.
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