Pharmakoökonomie

V. Ulrich, T. Müller-BohnInnovationen messen, aber

Einer der Hauptstreitpunkte in der politischen Diskussion über den Arzneimittelmarkt sind die Arzneimittelinnovationen. Umstritten ist, was als Innovation gelten und welcher Finanzbedarf den Innovationen zugestanden werden soll. Um die Probleme zu lösen, sind neben politischen Argumenten wissenschaftliche Methoden gefragt. Einen konstruktiven Beitrag hierzu stellt das Konzept einer Innovationskomponente von Wille, Erbsland und Ulrich dar, das bereits in DAZ 8/2001 vorgestellt wurde [5]. Daran anknüpfend sollen hier die zwischenzeitliche Entwicklung des Innovationsbegriffes und neue Daten zur vorgeschlagenen Innovationskomponente vorgestellt werden1.

Einerseits wird der therapeutische und ökonomische Vorteil vieler neu entwickelter Arzneimittel weithin akzeptiert. Andererseits werden mindestens ebenso viele neue Arzneimittel als Me-Too-Produkte abqualifiziert, weil sie angeblich keine oder nur unwesentliche Vorteile gegenüber bereits bekannten Arzneimitteln bringen. Ähnlich wie viele technische Innovationen stellen auch viele neue Arzneimittel, die bekannten Substanzklassen angehören, Schrittinnovationen dar.

Doch nicht nur Sprunginnovationen, sondern auch Schrittinnovationen sind Teil des wissenschaftlichen Fortschritts und können in ihrer Vielzahl die Therapie wesentlich verbessern. Außerdem kann meist erst einige Zeit nach Einführung eines neuen Arzneimittels beurteilt werden, ob und wie es die therapeutischen Möglichkeiten bereichert hat. Daher ist es oft sehr schwer, den innovativen Charakter neuer Arzneimittel bei ihrer Markteinführung anzugeben, und es bleibt ein weiter Spielraum für ideologisch geprägte Diskussionen.

Sowohl die Definition für Innovationen als auch die Methoden, mit denen der Anteil des Innovationseffektes am Marktvolumen ermittelt werden kann, sind Gegenstand des politischen und wissenschaftlichen Diskurses. Doch ist ein Konsens nötig, um die finanziellen Ressourcen zu quantifizieren, die für Innovationen bereitgestellt werden sollten.

Was sind Innovationen?

Bisher existiert keine international anerkannte Definition des Innovationsbegriffes (vgl. [4]). Nationale Ansätze, die auf das Patentrecht oder die Festbetragsregelung zurückgehen, sind zu stark institutionell geprägt, um die wirtschaftliche und therapeutische Realität abzubilden. In der weit verbreiteten Definition nach Fricke und Klaus werden neu eingeführte Wirkstoffe in vier Kategorien mit unterschiedlichem Innovationsgrad eingeteilt (vgl. [2]). Dabei dominieren das Wirkprinzip und die Verbesserung pharmakologischer Effekte als Kriterien. In der Definition des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) werden dagegen zahlreiche Kriterien aufgelistet, die eine Innovation begründen sollen (vgl. [6]). Dabei werden auch nicht mehr patentgeschützte Arzneimittel erfasst, die für eine neue Indikation zugelassen werden.

Doch lässt keine dieser Definitionen erkennen, welche Konsequenzen die neuen Arzneimittel für die Therapie und für die Lebensqualität der Patienten haben. Während sich in der Pharmakoökonomie die Lebensqualität in Verbindung mit gewonnener Lebenszeit zunehmend als Zielgröße von Evaluationen etabliert, bleibt dieser Aspekt bei den Innovationsdefinitionen unbeachtet. Möglicherweise wäre das weit verbreitete pharmakoökonomische Konzept des qualitätsbereinigten Lebensjahres (quality-adjusted life year, QALY) auch als Ansatz zur Bewertung von Arzneimittelinnovationen geeignet. Denn alle Innovationen sollten darauf abzielen, Menschenleben zu verlängern, die Lebensqualität zu verbessern oder möglichst sogar beide Aspekte zu verbinden.

In dieser Hinsicht können Innovationen einen großen Beitrag zur Therapie leisten. In einer Studie des IGES wurde anhand von elf Gesundheitsproblemen sogar aufgezeigt, dass Innovationen in vielen Fällen eine medizinische Behandlung nicht nur verbessern können, sondern überhaupt erst ermöglichen (vgl. [3]). Eine systematische Verknüpfung zwischen dem Innovationsbegriff und dem Konzept der gesundheitsbezogenen Lebensqualität steht aber bisher aus.

Wie teuer dürfen Innovationen sein?

Wenn schon umstritten ist, welche Arzneimittel als Innovationen gelten sollen, bereitet die Quantifizierung des Innovationseffektes erst recht Probleme. Doch sah schon das Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 vor, das damals bestehende Arzneimittelbudget an Innovationen anzupassen. Der medizinische und technische Fortschritt sollte im Budget berücksichtigt werden. Damit ist eine Innovationskomponente gefragt, die das Wachstum des Arzneimittelmarktes aufgrund von Innovationen beschreibt. Dafür wurden verschiedene Methoden vorgeschlagen, eine Entscheidung über eine Anpassung des Budgets an die Innovationen wurde aber nie getroffen.

Stattdessen wurden die Budgets 2002 durch das Arzneimittelbudget-Ablösegesetz abgeschafft. An ihre Stelle traten Arzneimittelvereinbarungen. Doch auch bei der Anpassung dieser Arzneimittelvereinbarungen soll der wirtschaftliche und qualitätsgesicherte Einsatz innovativer Arzneimittel berücksichtigt werden, womit das Problem der Quantifizierung bestehen bleibt. Für die Jahre 2001 und 2002 wurden in Verhandlungen zwischen der KBV und den GKV-Spitzenverbänden 1,9% bzw. 3% als innovationsbedingte Steigerungen festgelegt. Für 2003 konnte keine Steigerung ausgehandelt werden, zumal sogar Vorschläge der verschiedenen Krankenkassen von 0,5% bis 3% reichten. Diese unterschiedlichen Zahlenwerte demonstrieren auch die Vielfalt der Methoden, mit denen die Innovationskomponente ermittelt werden soll.

Parallel dazu wird die Diskussion über eine vierte Hürde für die Erstattungsfähigkeit neuer Arzneimittel und das neue Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin geführt, das im GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vorgesehen ist und noch im Jahr 2004 seine Arbeit aufnehmen soll. Die Bewertung des innovativen Wertes neuer Arzneimittel wird zu den wesentlichen Aufgaben des neuen Instituts gehören. Die Vorgehensweise in anderen Ländern lässt erwarten, dass dabei vorrangig pharmakoökonomische Evaluationen herangezogen werden. Dabei wird typischerweise das jeweils untersuchte Arzneimittel im Vergleich zu einer etablierten Standardtherapie bewertet. Grundsätzliche Erkenntnisse über die Innovationskraft des Gesamtmarktes und eine daraus abzuleitende volkswirtschaftlich angemessene Verteilung von Ressourcen sind von solchen Einzelaussagen nicht zu erwarten.

Konkurrierende Berechnungsmethoden

Damit bleibt die Frage bestehen, wie eine Innovationskomponente für den Gesamtmarkt bestimmt werden kann, die dann auch zur Fortschreibung von Arzneimittelvereinbarungen herangezogen werden könnte. Die bisher vorgeschlagenen Methoden lassen sich insbesondere nach dem Innovationsbegriff unterscheiden. Was als Innovation gelten soll, wird entweder normativ aufgrund pharmakologischer Kriterien festgelegt oder positiv aus den tatsächlichen Daten des Arzneimittelmarktes abgeleitet.

Orientiert an Expertenmeinungen ...

Auf dem normativen Konzept beruhen insbesondere der Ansatz des Instituts für Medizinische Statistik (IMS), die Neuzugangskomponente des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) und ein Ansatz, der sich am Patentmarkt orientiert (vgl. [5]). Beim Ansatz des IMS wird das Verordnungsverhalten in vorab als innovativ definierten Bereichen analysiert und mit Hilfe von Experten bewertet. Dagegen ermittelt das WIdO eine Neuzugangskomponente, die alle neu eingeführten Präparate einschließlich neuer Generika und neuer Packungsgrößen erfasst, aber nur das Jahr der Markteinführung berücksichtigt. Als Alternative dient die Orientierung am Patentmarkt, bei der nur patentgeschützte Innovationen beachtet werden. Diese Vorgehensweise wurde in DAZ Nr. 8/2001 erläutert. Während die Orientierung am Patentmarkt ein sehr starres Konzept darstellt, weisen die anderen Ansätze den gemeinsamen Nachteil auf, dass hier jeweils über den Innovationswert entschieden werden muss. Damit eröffnen sich weite Diskussionsspielräume über den pharmakologischen Wert der Arzneimittel, der in der Frühphase nach der Markteinführung oft besonders umstritten ist.

... oder am Markt

Diesen Nachteil vermeidet das Konzept der Innovationskomponente, das von Wille, Erbsland und Ulrich vorgeschlagen wurde [1]. Dieser mikroökonomische Ansatz geht von den tatsächlichen Umsätzen der Arzneimittel aus und unterstellt einen Entwicklungszyklus, wie er für innovative Produkte typisch ist. Ein neu eingeführtes Arzneimittel gilt dabei solange als innovativ, wie der Umsatz mit steigenden Raten wächst. Bei konstanten oder sinkenden Wachstumsraten des Umsatzes gilt das Produkt dagegen als etabliert und nicht mehr innovativ. Auch diese Vorgehensweise wurde in DAZ Nr. 8/2001 dargestellt. Dieser Ansatz erübrigt nicht nur normative Entscheidungen, ob ein Arzneimittel überhaupt innovativ ist, sondern auch wie lange es ggf. als innovativ gelten soll und welche Wachstumsraten in die Berechnung eingehen sollen.

Die Innovationskomponente eines Jahres wird dann aus dem Umsatzzuwachs der als innovativ geltenden Arzneimittel, dividiert durch den gesamten Umsatz des Arzneimittelmarktes im Vorjahr, errechnet (zur formelmäßigen Darstellung vgl. [1] und [7]). In den Jahren nach der Markteinführung gehen dabei nur die Umsatzzuwächse des jeweils betrachteten Jahres in die Berechnung ein. Die so berechnete Innovationskomponente ist keineswegs identisch mit dem Marktanteil innovativer Arzneimittel, da nur der Umsatzzuwachs, d. h. die Innovationskraft während eines bestimmten Jahres, erfasst wird.

Bei diesem Ansatz wird unterstellt, dass die verordnenden Ärzte in ihrer Gesamtheit den Innovationswert der Arzneimittel angemessen einschätzen. Dieses grundsätzliche Vertrauen in die Unabhängigkeit und die Auswahlentscheidung der Ärzte schließt nicht aus, dass einzelne Ärzte sich von übertriebenen Darstellungen der Pharmaindustrie über den Wert der Arzneimittel täuschen lassen. Dies dürfte aber die bundesweiten Umsätze der Innovation nicht wesentlich erhöhen. Andererseits könnten massive Restriktionen und politischer oder wirtschaftlicher Druck die Ärzte bei ihren Verordnungen langfristig beeinflussen, sodass die hier beschriebene Innovationskomponente tendenziell eher zu niedrige Werte ausweisen würde.

Neue Daten

Während einige der weiter oben dargestellten Konzepte seit Ende der neunziger Jahre nicht mehr konsequent weitergeführt wurden, liegen für die Innovationskomponente nach Wille, Erbsland und Ulrich mittlerweile neue Daten bis zum Jahr 2002 vor (vgl. [7]). Die Bedeutung dieses Modells ist angesichts des Mangels an anderen Daten weiter gestiegen, es dürfte daher bei künftigen Verhandlungen bevorzugt berücksichtigt werden.

In der Zeit 1995 bis 2002 lag die so ermittelte Innovationskomponente mit Preisbereinigung zwischen 2,76% (im Jahr 1995) und 4,80% (im Jahr 2001). Die Daten sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Die geringen Unterschiede für die Daten mit bzw. ohne Preisbereinigung zeigen, dass die Preisänderungen bei Innovationen nach der Markteinführung nahezu bedeutungslos für die Umsatzentwicklung sind.

Da die Arzneimittel hier als innovativ gelten, solange ihre Umsätze mit steigenden Raten wachsen, gehen die meisten neu zugelassenen Arzneimittel über mehrere Jahre als Innovationen in die Berechnung ein. In Tabelle 1 ist die Anzahl der eingehenden Innovationen daher stets weitaus größer als die Zahl der Markteinführungen in dem jeweiligen Jahr.

Dieser Effekt wird auch in den Abbildungen 1 und 2 am Beispiel des Jahres 2002 deutlich. Abbildung 1 zeigt, wie viele Markteinführungen früherer Jahre im Jahr 2002 noch als innovativ galten und daher in die Berechnung der Innovationskomponente einfließen. Sogar jeweils eine Markteinführung aus den Jahren 1991 und 1992 geht noch in die Innovationskomponente von 2002 ein. Abbildung 2 gibt an, welcher Anteil der Neueinführungen verschiedener Jahrgänge im Jahr 2002 noch als Innovation zählt.

Wie lange die neuen Arzneimittel als innovativ gelten, unterscheidet sich offenbar zwischen verschiedenen Neueinführungen beträchtlich. Dass dieser Effekt im Ansatz von Wille, Erbsland und Ulrich berücksichtigt wird, stellt einen wesentlichen Unterschied zur Neuzugangskomponente des WIdO dar, die alle Arzneimittel nur im Jahr ihrer Markteinführung erfasst.

Die nach Wille, Erbsland und Ulrich ermittelten Daten enthalten weder neue Indikationen noch neue Darreichungsformen bekannter Wirkstoffe. Insofern wird der Innovationsbegriff hier eng gefasst. Doch würde das Konzept prinzipiell zulassen, auch solche Formen der Innovation zu berücksichtigen, wenn dies gewünscht ist. Aufgrund ihrer Konzeption ist die hier vorgestellte Innovationskomponente als untere Grenze für die Innovationskraft des Marktes einzuschätzen. Dies sollte berücksichtigt werden, wenn die Berechnungen als Grundlage für Budgets, Richtgrößen oder andere normativ festzulegende Größen herangezogen werden.

Einer der Hauptstreitpunkte in der politischen Diskussion über den Arzneimittelmarkt sind die Arzneimittelinnovationen. Umstritten ist, was als Innovation gelten und welcher Finanzbedarf den Innovationen zugestanden werden soll. Um die Probleme zu lösen, sind neben politischen Argumenten wissenschaftliche Methoden gefragt. Einen konstruktiven Beitrag hierzu stellt das Konzept einer Innovationskomponente von Wille, Erbsland und Ulrich dar. Unser Beitrag stellt die Entwicklung des Innovationsbegriffes und neue Daten zur vorgeschlagenen Innovationskomponente vor.

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