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Arzneimittel und Therapie
Atomoxetin bietet neuartiges Wirkprinzip
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird heute als neurobiologisch bedingte Verhaltensstörung betrachtet, die durch genetische und umweltbedingte Faktoren verursacht wird (siehe Kasten). ADHS-Leitsymptome sind Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität.
In Abgrenzung zum normalen kindlichen Verhalten sind die Symptome schwerwiegender und definitionsgemäß in mehreren Lebensbereichen über mindestens ein halbes Jahr vorhanden. Das facettenreiche Symptomenspektrum sowie die individuell unterschiedliche Ausprägung und häufige Komorbiditäten (z. B. Angststörungen, Tics, Lernstörungen) erschweren oft die Diagnosefindung. Nach dem ersten Arztbesuch dauert es durchschnittlich 2,2 Jahre, bis ADHS diagnostiziert wird. Entgegen früherer Meinung wächst sich die Krankheit nicht automatisch mit dem Alter aus: Bei über einem Drittel der Betroffenen bleiben Beeinträchtigungen bis ins Erwachsenenalter bestehen.
Störung im Neurotransmittersystem
Die zentralnervösen Defizite von ADHS-Patienten beruhen gemäß aktueller Lehrmeinung auf einer Dysfunktion im neuronalen Netzwerk verschiedener Hirnregionen. Dazu zählen u. a. das vorwiegend Dopamin-gesteuerte vordere Aufmerksamkeitssystem sowie das hintere noradrenerg-dominierte Aufmerksamkeitszentrum.
Während man früher annahm, dass die neurobiologischen Ursachen von ADHS primär im dopaminergen System liegen, ergaben wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre, dass auch der Neurotransmitter Noradrenalin eine zentrale pathophysiologische Rolle spielt. Infolge eines zu raschen präsynaptischen Reuptake von Noradrenalin und Dopamin – vermutlich durch eine erhöhte Zahl an Transporterproteinen – ist die Neurotransmitterkonzentration im synaptischen Spalt bei ADHS verringert. Dies beeinträchtigt die Signalweitergabe und -verarbeitung.
Neuer Wirkmechanismus
In der ADHS-Behandlung ist bislang Methylphenidat das Mittel der Wahl. Dieses Psychostimulanz wirkt durch Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin aus intraneuronalen Speichern sowie durch Reuptake-Hemmung indirekt sympathomimetisch.
Das ursprünglich als Antidepressivum konzipierte Atomoxetin ist das erste zur ADHS-Behandlung indizierte Nichtstimulanz. Es fällt damit auch nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Atomoxetin hat keine direkte Wirkung auf Dopamin-Transporter, sondern agiert präsynaptisch als hochselektiver Noradrenalin-Reuptake-Hemmer. In der Folge steigt die erniedrigte Noradrenalin-Konzentration im synaptischen Spalt wieder an. Durch das Zusammenspiel von noradrenergem und dopaminergem System beeinflusst Atomoxetin dabei indirekt auch die Dopamin-Aktivität im präfrontalen Cortex (Teil des vorderen Aufmerksamkeitszentrums), nicht jedoch im Striatum und Nucleus accumbens, die mit Tics bzw. Suchtverhalten in Verbindung gebracht werden.
Vergleichbare Wirksamkeit
Die Wirksamkeit von Atomoxetin wurde in zahlreichen plazebokontrollierten randomisierten Doppelblindstudien an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nachgewiesen. Dabei war der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer in der Reduktion von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität Plazebo signifikant überlegen und mit der von Methylphenidat vergleichbar. Auch die Responderraten lagen mit rund 80% in vergleichbarer Größenordnung. Die morgendliche Atomoxetin-Einmalgabe besserte sowohl abends als auch am darauf folgenden Morgen die Symptome signifikant. Diese Kontinuität hat in der ADHS-Therapie große Bedeutung, um den gefürchteten Rebound-Effekten am Nachmittag oder Abend entgegenzuwirken und die kritischen Morgenstunden zu kontrollieren.
An unerwünschten Arzneimittelwirkungen traten in den Studien in erster Linie abdominelle Beschwerden, verminderter Appetit, Mundtrockenheit und Kopfschmerzen auf, die jedoch im Laufe der Behandlung wieder abklangen. Einige Patienten zeigten eine geringfügige Steigerung von Puls und diastolischem Blutdruck.
Abgestufte Dosierung
Um potenzielle Nebeneffekte zu minimieren, wird die Atomoxetin-Behandlung mit einer niedrigen Startdosis begonnen und nach einer Woche mit der Erhaltungsdosis fortgeführt. Für Kinder unter 70 kg Körpergewicht (KG) beträgt die Startdosis 0,5 mg/kg KG/Tag, die Erhaltungsdosis liegt bei 1,2 mg/kg KG/Tag. Patienten über 70 kg Körpergewicht erhalten keine gewichtsadaptierte Dosierung, sondern eine Startdosis von täglich 40 mg und eine Erhaltungsdosis von 80 mg; die tägliche Gesamtdosis kann auf maximal 120 mg erhöht werden. Um die Dosisabstufung in der Praxis zu ermöglichen, wird Strattera® in fünf Kapselstärken mit 10, 18, 25, 40 und 60 mg Atomoxetinhydrochlorid angeboten.
Gleichzeitige Nahrungsaufnahme beeinflusst die Resorption von Atomoxetin kaum, so dass das Präparat zum Frühstück eingenommen werden kann. Einmaliges Vergessen einer Kapseleinnahme hat aufgrund der kontinuierlichen Wirkung keine praktischen Konsequenzen. Gemäß klinischer Erfahrung ist die Umstellung eines ADHS-Patienten von Methylphenidat auf Atomoxetin überlappend möglich.
Pharmakokinetische Pluspunkte
Neben der kontinuierlichen Wirkung und compliancefördernden Einmalgabe ist der sanfte Wirkungseintritt ein weiterer Vorteil des Atomoxetin. Während Methylphenidat einen schlagartigen, so genannten "On-Off-Wirkbeginn" zeigt, stellt sich die Wirkung von Atomoxetin erst allmählich im Lauf einer Woche ein. Bis zur vollen Wirksamkeit können vier bis sechs Wochen vergehen. In einer Untersuchung erwies sich Atomoxetin selbst für Patienten mit positiver Suchtanamnese als unattraktiv. Atomoxetin bietet daher auch bei Methylphenidat-Kontraindikationen wie Depressionen oder Suchtanamnese, sowie für Patienten, die Stimulanzien schlecht vertragen oder damit nicht ausreichend eingestellt werden können, eine aussichtsreiche Therapieoption.
Großer pädiatrischer Datenpool
Seit seiner Erstzulassung in den USA vor über zwei Jahren wurde Atomoxetin inzwischen weltweit mehr als zwei Millionen Patienten verschrieben. Die über 6000 Studienteilnehmer lieferten für diesen Wirkstoff außerdem eine der größten Datenbasen im pädiatrischen Bereich.
Strattera® ist im Dezember 2004 vom BfArM zur ADHS-Behandlung von Kindern ab sechs Jahren und Jugendlichen im Rahmen eines umfassenden Behandlungsprogramms, das psychologische, pädagogische und soziale Maßnahmen einschließt, zugelassen worden. Eine Weiterbehandlung ins Erwachsenenalter ist ebenfalls möglich. Die Indikation zur Erstbehandlung von Erwachsenen, wie sie in den USA bereits besteht, wird auch für Deutschland angestrebt.
Quelle
Dr. Peter Wehmeier, Bad Homburg; Dr. Michael Huss, Berlin; Monika Reif-Witt- lich, Urmitz: Einführungs-Pressekonferenz
„Denn der ganze Tag zählt – Strattera®: Neuartige Therapie für eine effektive ADHS-Behandlung“ Frankfurt, 10. Februar 2005, veranstaltet von der Lilly Deutsch- land GmbH, Bad Homburg. www.strattera.de
ADHS-Ursachen
genetische Disposition
- Familien- und Zwillingsstudien belegen eine erbliche Prädisposition für ADHS
psychosoziale Faktoren
- unstrukturierte, instabile, für das Kind unberechenbare Familien- und Umweltverhältnisse
hirnorganische Schädigungen
- Nicotin- und Alkoholabusus während der Schwangerschaft
- geringes Geburtsgewicht bzw. Frühgeburten
ADHS-Selbsthilfeverbände
- Bundesverband Aufmerksamkeitsstörungen/Hyperaktivität e.V. (BV AH), 91291 Forchheim, www.bv-ah.de
- Bundesverband Arbeitskreis Überaktives Kind e.V. (BV AÜK), 12117 Berlin, www.auek.de
- Vereinigung zur Förderung von Kindern und Erwachsenen mit Teilleistungsschwächen e.V. (Juvemus), 56567 Neuwied, www.juvemus.de
- Elterninitiative zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit AufmerksamkeitsDefizitSyndrom (ADS) mit/ohne Hyperaktivität, 73055 Ebersbach, www.ads-ev.de
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