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DAZ Feuilleton
Chirurgus Schiller – Aus der Jugend eines Genies
Ein verhinderter Pastor
Schillers Vater Johann Caspar Schiller (1723 – 1796) war Feldscher von Beruf. Er hatte die Wundarzneikunst bei einem Meister dieses Faches praktisch erlernt, hatte sich dann mit 21 Jahren von einem Regiment anwerben lassen, sich drei Jahre später in Marbach selbstständig gemacht und dort die Tochter eines Gastwirts geheiratet. Da er von seiner kleinen Praxis die Familie kaum ernähren konnte, musterte Vater Schiller nach sieben Jahren bei einem württembergischen Regiment an, stieg zum Leutnant auf und blieb hinfort im Staatsdienst. War es da dem kleinen Friedrich, als er 1759 geboren wurde, in die Wiege gelegt, dass auch er Chirurg oder Feldscher werden sollte? Keineswegs!
Friedrich Schiller wäre am liebsten evangelischer Pfarrer geworden, ein Beruf, der wegen der zentralen Bedeutung der – damals erheblich längeren – Predigten im Gottesdienst für Personen mit dichterischer Begabung seinen Reiz hatte. Doch bei der Besetzung der staatlichen Stellen – dazu zählten im weiteren Sinne auch die kirchlichen Stellen – und sogar bei der Ausbildung künftiger Staatsdiener hatte im absolutistischen Staat der Landesherr persönlich ein entscheidendes Wort mitzureden. Und so fanden Friedrichs Berufswünsche keine Berücksichtigung.
Des Herzogs Hohe Schule
Der württembergische Herzog Carl Eugen (1728 – 1793, reg. seit 1744) hatte nach Jahrzehnten eines sehr ausschweifenden Lebenswandels um 1770 ein neues Hobby entdeckt: eine von ihm gegründete Eliteschule. Anfangs diente sie nur als Internat für Militärwaisen, doch Carl Eugen ließ sie zügig zu einer höheren Bildungsanstalt ausbauen. 1775 verlegte er sie von der Solitude, einem Landsitz des Herzogs, nach Stuttgart in ein großes Gebäude direkt neben dem Residenzschloss. Dort nahm er persönlichen Anteil an den Fortschritten "seiner" Schüler, die sowohl dem Adel als auch den bürgerlichen Ständen angehörten.
Die etwa 350 Schüler waren interniert. Das Schuljahr begann Mitte Januar und endete Mitte Dezember, Ferien gab es während eines Schuljahres nicht, also auch keinen Kontakt mit der Familie. Solche an eine Kadettenanstalt erinnernden Besonderheiten charakterisierten die Schule als Militärakademie, nicht jedoch der Unterrichtsstoff. Denn neben den Militärwissenschaften waren im Lehrplan auch die bildenden Künste und alle klassischen Fakultäten der Universitäten vertreten, mit Ausnahme der Theologie.
1781 benannte der Herzog die Schule in Hohe Karlsschule um; im selben Jahr erlangte er vom Kaiser deren Anerkennung als Universität. Sie war nicht nur von der Konzeption her, sondern auch bezüglich der Resultate eine Eliteschule, denn aus ihr gingen die meisten führenden Persönlichkeiten Württembergs im frühen 19. Jahrhundert hervor.
Medizin mit einem Schuss Poesie
Als der Herzog den Leutnant Schiller zum dritten Mal aufforderte, seinen Friedrich in die "militärische Pflanzschule" zu geben, konnte dieser nicht mehr dankend ablehnen, obwohl der Knabe erst 13 Jahre alt war. Das Angebot war verlockend, denn die Ausbildung war kostenlos. Zwar war sie mit der Verpflichtung des Zöglings verbunden, dem Herzog nach Abschluss der Ausbildung zu Diensten zu sein, doch war dies nicht die schlechteste Art von Broterwerb.
Schiller erhielt an der Schule sowohl eine hervorragende Allgemeinbildung als auch eine Berufsausbildung. Bereits mit 15 Jahren spezialisierte er sich auf die Medizin. Dabei befasste er sich nicht nur mit den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern, sondern auch mit den Zusammenhängen zwischen Körper, Geist und Seele, mit den Theorien von Gesundheit, Krankheit und Heilung. Er gewann vier Preismedaillen wegen guter schulischer Leistungen, drei davon in den Disziplinen Anatomie, Materia medica und Chirurgie. Er schrieb Sektionsprotokolle und verfasste u. a. die Krankenberichte über einen depressiven Mitschüler, in denen sich seine scharfe Beobachtungsgabe und adäquate Ausdrucksweise zeigten.
Schillers medizinische Abschlussschrift aus dem Jahr 1780 – zugleich seine einzige medizinische Abhandlung, die publiziert wurde – war ein "Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen". Wie es damals üblich war, argumentierte er mit Beispielen aus der Literatur und Geschichte, um seine Thesen zu belegen. Dabei hatte er freilich etwas übertrieben: Seine Lehrer lobten zwar die Arbeit insgesamt, kritisierten aber die dichterischen Ergüsse. Obwohl die Arbeit nach Inhalt und Form eine medizinische Dissertation war, erhielt Schiller keinen Doktortitel, denn erst ein Jahr später erhob der Kaiser die Karlsschule in den Rang einer Universität und erteilte ihr damit das Promotionsrecht.
Von der Freiheit eines Regimentsarztes
Nach dem Examen wurde Schiller als Regimentsmedikus einem in Stuttgart stationierten Bataillon zugeteilt. Er musste täglich bei der Truppe erscheinen, dort gegebenenfalls Kranke versorgen und dem General Rapport erstatten, war aber nicht kaserniert, sondern wohnte privat. So genoss er eine ihm bislang unbekannte Freiheit und ein Übermaß an Freizeit, die er auch zum Schreiben seines Dramas "Die Räuber" nutzte.
Als die "Räuber" in Mannheim mit großem Erfolg aufgeführt wurden, ließ Schiller es sich nicht nehmen, persönlich dabei zu sein. Zweimal entfernte er sich, nachdem er sich krank gemeldet hatte, unerlaubt von Stuttgart, beim zweiten Mal erfuhr der Herzog davon. Dieser verurteilte Schiller zu 14 Tagen Haft und verbot ihm darüber hinaus das Schreiben. Vielleicht wäre das Verbot schon bald in Vergessenheit geraten, doch Schiller wollte sich unter dem Eindruck seines Triumphes keine Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit bieten lassen und floh heimlich aus Stuttgart. Das war schlicht eine Desertion, es gab für ihn kein Zurück mehr.
Ein Rezept von Schillers Hand
Von "Schillers Stuttgart" haben die folgenden beiden Jahrhunderte nicht viel übrig gelassen. Die Hohe Karlsschule ist – im Gegensatz zu dem benachbarten Schloss – nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs nicht wieder aufgebaut worden. Auch die Kaserne und das Lazarett, in denen Schiller Dienst tat, sowie sein Wohnhaus sind verschwunden. Erhalten hat sich jedoch ein Rezept, das Schiller während seiner Stuttgarter Zeit ausgestellt, wenn auch nicht signiert hatte. Der mit Abkürzungen und Zeichen versehene Text lautet in vollständiger Schreibweise:
"Recipe Tartari Emetici grana tria. Solve in Aquae Communis ferventis unciis quattuor. Da signa: Brechwaßer, davon sogleich die Hälfte zu nehmen." Der Apotheker sollte also drei Gran (ca. 0,18 g) Brechweinstein (Antimonylkaliumtartrat) in vier Unzen heißen Wassers (ca. 120 g, ein kleines Trinkglas voll) lösen und dem Patienten gleich zu trinken geben. Auf eine bestimmte Krankheit des Patienten lässt das Rezept nicht schließen. Denn Brechmittel wurden unspezifisch und sehr häufig verordnet.
Chirurg kontra Poet?
Da Schiller seit seinem Fortgang aus Stuttgart den Beruf des Chirurgen nicht mehr ausgeübt hatte und seine medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen auch nicht in sein schriftstellerisches Werk hat einfließen lassen, verwundert es nicht, dass der Allgemeinheit über diesen ersten Brotberuf des Dichters wenig bekannt geworden ist. Dies war in Stuttgart natürlich anders. Als dort im Jahr 1839 – zu Schillers 80. Geburtstag – das Schillerdenkmal von Thorvaldsen enthüllt wurde, erinnerte es den Dramatiker v. Dingelstedt eher an den Chirurgen als den Dichter Schiller.
In einem Spottgedicht reimte er: "Wie? Dieser Kopf- und Nackenhänger, der wie ein Säulenheiliger steht, wär' meines Volkes Lieblingssänger, der deutschen Jugend Urpoet? Nein! Das ist Chirurgus Schiller, Schiller der Dichter ist das nicht!"
Der Kritiker vermisste anscheinend die mitreißende Pose des Freiheitsdichters und interpretierte die ruhige, in sich gekehrte Haltung als Unterwürfigkeit und Stupidität. Dass er diese negativen Charakterzüge mit dem Beruf des Regimentsarzt verband, ist aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigen: Schiller führte in dieser Position ein ausgelassenes Leben und war schriftstellerisch kreativ.
Der Beruf wäre für einen Dichter eigentlich ideal gewesen, wenn er nicht einen schweren Nachteil gehabt hätte: die Residenzpflicht. Hier gab der Herzog kein Pardon, und auch Schiller gab nicht nach. So kam es nicht nur zum Bruch zwischen beiden, sondern Schiller fing ein ganz neues Leben an.
Wolfgang Caesar
Museum
Württembergisches Landesmuseum, im Alten Schloss, Schillerplatz 6, 70173 Stuttgart Tel. (07 11) 2 79 24 81 www.landesmuseum-stuttgart.de. Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr. Katalog: Schiller in Stuttgart. 207 Seiten, 40 s/w und 74 farbige Abb., 24,50 Euro. ISBN 3-929055-63-5
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