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Klare Mängel im Gesundheitssystem

BERLIN (ri). Auch wenn das deutsche Gesundheitssystem so schlecht nicht sei, wie derzeit gerne behauptet wird, und beispielsweise Patienten bei Behandlungen mit den kürzesten Wartezeiten der Welt rechnen könnten, so gibt es nach Auffassung von Professor Dr. Dr. Bert Rürup, der gerade zum Vorsitzenden des Sachverständigenrates ernannt wurde, doch eine Reihe von verbesserungswürdigen Kritikpunkten. So nannte er bei der 13. Informationstagung der Gehe in Berlin mangelnde Transparenz, zu starre Strukturen, eine Reihe von Fehlanreizen und eine wachstums- und beschäftigungsfeindliche Finanzierung des Gesundheitssystems.

Ein Grund, warum im Gesundheitswesen die Ausgaben ständig steigen, ist der deutliche Anstieg der Inanspruchnahme von Ärzten. Diese Zahl stieg im Zeitraum von 1991 bis 2000 von durchschnittlich 5,3 Arztbesuchen auf 7,3 pro Jahr – somit ist ein Anstieg um 38 Prozent zu verzeichnen. Zum Vergleich: Im europäischen Ausland suchen die Patienten pro Jahr im Durchschnitt zwei Arztpraxen auf. Parallel dazu wurde auch ein Anstieg der niedergelassenen Fachärzte um 18 Prozent in den Jahren zwischen 1993 bis 2002 registriert. Rürup: "Ob zuerst die Nachfrage da war oder das Angebot – damit verhält es sich wie mit der die Frage nach der Henne und dem Ei." Gleichzeitig spiegelt die Einkommenssituation der niedergelassenen Ärzte den Leistungszuwachs nicht wider.

Betrachtet man die Entwicklung der Krankenhäuser, so gehen die Zahlen der Kliniken zugunsten von privaten Trägern zurück. Während die Fallzahlen im Zeitraum von 1991 bis 2003 um 18,7 Prozent auf 17,3 Mio. anstiegen, sank die durchschnittliche Verweildauer um 36,4 Prozent auf 8,9 Tage im Jahre 2003. Bei der Bettenauslastung wurde ein Minus von 6,5 Prozentpunkten gemessen.

Geburtenrate unter

Bestandserhalt

Dieser Situation steht die demographische Entwicklung gegenüber: Schon heute werden in Deutschland zu wenig Kinder geboren, um den Bestandserhalt zu sichern. Gleichzeitig geht der Altersdurchschnitt statistisch gesehen pro Jahr um 90 Tage in die Höhe. Die Hälfte aller heute geborenen Mädchen werden voraussichtlich 100 Jahre alt. Da ältere und häufig multimorbide Menschen diejenigen sind, die die meisten Leistungen im Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, ergeben sich für die Ökonomen daraus zwei Schlussfolgerungen:

- Die Kompressionstheorie: Diese optimistische Theorie bezieht sich darauf, dass rund 80 Prozent aller Kosten in den letzen beiden Lebensjahren eines Menschen entstehen und sich somit die Kosten gleichsam nach hinten verschieben. - Die Medikalisierungstheorie: Dieser Theorie zufolge steigt der Behandlungsaufwand, da immer mehr unheilbare Krankheiten wie beispielsweise Aids medizinisch bekämpft werden können. Diese Theorie wird allerdings durch die Tatsache eingeschränkt, dass das Sterben rein ökonomisch gesehen um so billiger wird, je älter die Menschen sind – für sehr alte Menschen werden in der Regel nicht mehr alle technisch mögliche Gerätschaften aufgewendet.

Ungeachtet dessen, welcher Theorie man sich anschließt, so gilt für das Gesundheitssystem nach Beobachtungen von Rürup, dass die Gesellschaft weniger ein Ausgaben-, sondern vielmehr ein Einnahmeproblem hat. Insofern ist auch die Praxisgebühr für Rürup eine unvermeidbare Maßnahme, bei der er allerdings angesichts der eingangs beschriebenen Häufigkeit der Arztbesuche kritisiert, dass sie quartalsweise erhoben wird: "Die Praxisgebühr sollte eher fünf Euro betragen, dann aber bei jedem Arztbesuch anfallen."

Strukturelle Veränderungen

Rürup erinnerte nochmals an die neuen Formen der Leistungserbringung im Rahmen des GMG und listete folgende Stichpunkte auf: die Integrierte Versorgung, das Hausarztsystem, die erweiterten Möglichkeiten der Behandlungen durch das Krankenhaus und die Einführung der medizinischen Versorgungszentren. Darüber hinaus entstehen durch neue Vergütungsformen und die Zulässigkeit des selektiven Kontrahierens (Einzelverträge) nach Rürup genügend neue Spielräume, um verkrustete Strukturen aufzubrechen.

Der Vorsitzende des Sachverständigenrates wies auch auf neue Versorgungsformen im Rahmen der neuen Muster-Berufsordnung (M-BO) für Ärzte hin. Hier nannte er folgende neue Versorgungsformen: die Zulässigkeit überörtlicher Gemeinschaftspraxen und Zweigpraxen, die Erlaubnis der Zugehörigkeit zu mehreren Berufsausübungspraxen, die Zulässigkeit von Ärztegesellschaften sowie die Erweiterung der Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Berufsgruppen.

Ein dezenter Seitenhieb ging in diesem Zusammenhang nach Köln: Rürup bezeichnete die Idee, mittels Prävention langfristig Einsparungen zu tätigen, als "Lauterbach-Mythos". Auch sei es eine trügerische Hoffnung, dass der medizinisch-technische Fortschritt zu Einsparungen führe. Rürup: "Die lebensverlängernde Ausrottung einer Krankheit macht nach unseren Erfahrungen einfach nur Platz für eine andere Krankheit."

Grundsätzlich sind die "Beitragssatzexplosionen" der Krankenkassen nach Rürup eine Folge der Erosion der Beiträge, die wiederum durch eine politische Verschiebebahnhoftaktik und aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen entstanden sei. Der Status quo könne auch nicht durch immer weitere Beitragserhöhungen gehalten werden. Deshalb stelle sich die prinzipielle Frage danach, wie das System langfristig finanziert werden könne. Rürup sprach sich gegen die Bürgerversicherung und für die Einführung einer pauschalen Prämie aus und betonte, dass ihm kein Ökonom bekannt sei, der die Überlegenheit dieser Prämie gegenüber der Bürgerversicherung bezweifle.

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