Fortbildung

Abwehr von Arzneimittelrisiken: Pharmakovigilanz und Verbraucherschutz

Die 5. Jahrestagung "Consumer Health Care" in Berlin stand unter der Thematik "Pharmakovigilanz und Verbraucherschutz". Namhafte Experten der Bundesregierung, aus Zulassungsbehörden, der pharmazeutischen Industrie, der Klinik, der Krankenhausapotheke und der öffentlichen Apotheke diskutierten Anliegen und Methoden der Pharmakovigilanz und des Verbraucherschutzes aus Sicht ihrer Arbeitsbereiche.

Prof. Dr. Marion Schaefer, Charité Universitätsmedizin Berlin, betonte in ihrer Begrüßungsansprache, dass es bei der Erfassung von Arzneimittelrisiken nicht darum gehe, "Daten-Friedhöfe" zu errichten. Die gewonnenen Informationen und Erkenntnisse sollten vielmehr so schnell wie möglich für die Betreuung der Patienten verfügbar gemacht werden.

Wachsamkeit nach der Markteinführung

Unter Pharmakovigilanz (vigilant, engl.: aufmerksam, wachsam) sind alle Aktivitäten und Instrumente zu verstehen, die der Vorbeugung, Entdeckung, Beurteilung sowie der Abwehr von unerwünschten Wirkungen oder anderen Problemen in Verbindung mit Arzneimitteln nach der Markteinführung dienen. Etwas kürzer lässt sich der Begriff auch als das "Analysieren und Abwehren von Arzneimittelrisiken" (WHO 2004) definieren.

Dr. Horst Möller, Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, nannte drei wesentliche Gründe für deren Notwendigkeit:

  • Die meisten klinischen Studien werden nur mit einer begrenzten Patientenzahl durchgeführt (unter 3000).
  • Die Patientenkollektive in den klinischen Studien entsprechen nur bedingt den späteren Behandlungskollektiven (vor allem hinsichtlich Alter, Multimorbidität, Komedikation).
  • Langzeitwirkungen lassen sich mittels klinischer Studien nicht erfassen. Eine gesetzliche Pflicht zur Meldung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) sei jedoch nicht notwendig, so Möller. Die Verankerung dieser Verpflichtung in den Berufsordnungen der Ärzte und Apotheker reicht seiner Ansicht nach aus.
     

"Deutschland ist auf dem Gebiet der Pharmakovigilanz kein Entwicklungsland." 
Dr. Horst Möller

Reportingrate erhöhen

Obwohl in Deutschland jährlich bereits etwa 40.000 UAWs an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet werden, ist noch ein "Underreporting" zu verzeichnen, betonte Möller. Die Bundesregierung hat zahlreiche Maßnahmen in die Wege geleitet, um dies zu ändern.

Dazu zählen:

  • die Optimierung des Spontanmeldesystems (z.B. dürfen ab 1. Oktober 2005 pharmazeutische Unternehmer UAWs nur noch in elektronischer Form an das BfArm melden);
  • die Forcierung des Aufbaus von Pharmakovigilanz-Zentren (von den zwölf geplanten sind erst vier errichtet worden, und zwar in Greifswald, Rostock, Weimar und Jena);
  • der Aufbau einer pharmakoepidemiologischen Datenbank aus Abrechnungsdaten der Krankenkassen;
  • die Förderung von Studien zur Arzneimittelsicherheit.

Möller regte an, in Analogie zum jährlich erscheinenden "Arzneiverordnungsreport" einen "UAW-Report" für Deutschland zu erstellen.

 

"In Deutschland soll ein Pharmakovigilanz-Sachverstand heranwachsen."
Dr. Horst Möller

Elektronische Erfassung mit MedDRA

Wie Dr. Jutta Krappweis, BfArM, erläuterte, arbeitet die Behörde seit März diesen Jahres mit einem neuen elektronischen Erfassungssystem für unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf Basis des elektronischen Lexikons zur Kodierung medizinischer Fachbegriffe MedDRA (Medical Dictionary of Drug Regulatory Activities). Dieses stellt nicht nur in der EU, sondern auch in den USA und Japan die Standardterminologie für Nebenwirkungsmeldungen an die Zulassungsbehörden dar.

Die Risikoinformationen, die das BfArM erreichen, stammen hauptsächlich aus Spontanberichten, klinischen Studien, Kasuistiken oder externen Datenbanken. Laut Krappweis kommt der überwiegende Teil (87%) der Spontanberichte aus der pharmazeutischen Industrie. Der Anteil der Meldungen von den Arzneimittelkommissionen der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker machen dagegen nur etwa 6,5 Prozent aus, Direktmeldungen von Ärzten und Apothekern sogar nur drei Prozent. Meldungen von Patienten ("consumer reports") erreichen das BfArM nur äußerst selten und leider in schlechter Qualität, so dass sie schwer zu beurteilen sind.

Krappweis verwies in diesem Zusammenhang drauf, dass es nicht reiche, nur die Forderung nach einer höheren Reportingrate aufzustellen. Es sei dringend notwendig, auch eine höhere Qualität der Meldungen einzufordern.

Pharmakovigilanz als europäische Aufgabe

Die europäische Zulassungsbehörde EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products) in London, seit der EU-Erweiterung für 25 Mitgliedstaaten zuständig, feierte kürzlich ihr zehnjähriges Jubiläum. Nach den Worten von Dr. Priya Bahri, wissenschaftliche Administratorin im Bereich Pharmakovigilanz, sieht die EMEA als "Netzwerk-Agentur" auch unter den neuen Anforderungen der zunehmenden Globalisierung ihre Hauptaufgabe darin, die Gesundheit von Mensch und Tier umfassend zu schützen. Um die Pharmakovigilanz europaweit zu verbessern, wurden in den letzten Jahren zahlreiche gesetzliche Regelungen und Projekte auf den Weg gebracht. So beispielsweise der Aufbau der Datenbank "EudraVigilance", die Bildung der Pharmakovigilance Working Party (die das Mandat besitzt, auch schon vor Zulassung eines Arzneimittels tätig zu werden) und die European Risk Management Facilitation Group. Die Anforderungen an die pharmazeutischen Unternehmer sind dabei enorm gestiegen.

Erweiterte Anforderungen an die Pharmaindustrie

Welche großen Herausforderungen die neuen gesetzlichen Regelungen zur Weiterentwicklung der Pharmakovigilanz in Europa konkret für deutsche Pharmaunternehmen darstellen, skizzierte Dr. Elmar Kroth vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH). Die europäischen Richtlinien wurden kürzlich mit der 12. und 14. AMG-Novelle in nationales Recht umgesetzt.

Wichtige Neuerungen waren:

  • die Einführung der Periodischen Sicherheitsberichte (Periodic Safety Update Reports, PSURs), zunächst alle fünf, ab November 2005 alle drei Jahre;
  • die Pharmakovigilanz-Inspektionen in den Firmen zur Überprüfung der "regulatorischen Compliance";
  • die Implementierung der Pharmakovigilanz in die Zulassungsunterlagen.

Letzteres bedeutet für den Unternehmer beispielsweise, dass er in den Zulassungsunterlagen eine detaillierte Beschreibung des Risikomanagementsystems im Unternehmen einschließlich der namentlichen Benennung eines verantwortlichen Mitarbeiters vornehmen muss.

Ganz aktuell tritt zudem am 30. November 2005 eine Rechtsverordnung zur elektronischen Übermittlung schwerer Nebenwirkungen im elektronischen Format (E2B-M2) in Kraft, was vor allem für kleinere Firmen eine große finanzielle und personelle Herausforderung bedeutet.

 

"Zurzeit herrscht in der Arzneimittelsicherheit in Deutschland eine spannende Phase."
Dr. Elma Kroth

Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie

Prof. Dr. Eckart Rüther von der Psychiatrischen Klinik der Georg-August-Universität Göttingen stellte in seinem Vortrag ein fortlaufendes Spontanerfassungssystem (AMSP) für UAW bei stationär psychiatrischen Patienten vor. Bei AMSP handelt es sich um ein multizentrisches Programm, mit dessen Hilfe seit 1993 in derzeit 45 Kliniken in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Ungarn jährlich ca. 20.000 Patienten überwacht werden. Die Zentrale befindet sich am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die UAWs werden jedoch nicht nur erfasst, sondern auch im Rahmen regionaler oder zentraler Fallkonferenzen eingehend bewertet. AMSP bietet darüber hinaus den Vorteil, dass - im Gegensatz zu klinischen Studien - ein realistisches Abbild von den Arzneimittelnebenwirkungen im klinischen Alltag erstellt werden kann. Dies erscheint auch vor dem Hintergrund, dass zunehmend neue Wirkstoffe auf den Markt kommen, für die therapeutische Entscheidung des Arztes sehr nutzbringend.

Pharmakovigilanz in der Anthroposophie

Nicht nur die Schulmedizin, sondern auch der Sektor der komplementären Therapien braucht Arzneimittelsicherheit, erläuterte Dr. Harald Matthes vom Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, einer Klinik für anthroposophisch erweiterte Heilkunst. Am Forschungsinstitut Havelhöhe, das dem Krankenhaus angegliedert ist, wird seit 2003 das Projekt EvaMed (Evaluation anthroposophischer Medizin) durchgeführt. Ziel ist es, wissenschaftlich fundierte Daten zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit anthroposophischer Arzneimittel zu sammeln, um damit letztendlich eine Voraussetzung für deren europaweite Zulassung zu schaffen.

Derzeit beteiligen sich 35 anthroposophisch orientierte Ärzte aus dem niedergelassenen Bereich sowie aus Kliniken an EvaMed. Sie haben die Aufgabe, indikationsbezogene Verordnungsdaten und UAWs in speziell dafür entwickelte Software einzutragen. Das Projekt wird in enger Kooperation mit den Firmen Wala und Weleda durchgeführt und kann als eine methodische Prinziplösung für die systematische Erfassung und zeitnahe Bewertung von UAWs auch für andere Bereiche angesehen werden.

Beitrag der Krankenhausapotheker

Auch Krankenhausapotheker leisten einen wichtigen Beitrag zur Arzneimittelsicherheit, betonte Dirk Keiner, Leiter der Apotheke im Waldkrankenhaus Eisenberg und gleichzeitig Pharmakovigilanz-Beauftragter des Krankenhauses. Er erläuterte, welche "Sicherheitsbarrieren" in der Klinik existieren, mit deren Hilfe das Auftreten von UAWs möglichst verhindert werden soll.

Dazu zählen:

  • die Arzneimittelauswahl durch die Arzneimittelkommission des Krankenhauses,
  • die Lagerung in der Apotheke und die Stationsbelieferung,
  • die Lagerung auf den Stationen,
  • die Arzneimittelverordnung und -zubereitung,
  • klinisch-pharmazeutische Dienstleistungen (z.B. Therapeutisches Drug-Monitoring, zentrale Zytostatikaherstellung).

Dennoch ist Wachsamkeit geboten, da selbst durch diese Barrieren unerwünschte Ereignisse immer wieder "hindurchschlüpfen" können.

 

Foto: DAZ / diz
Risiko Wechselwirkungen: Wenn der Arzt unachtsam verschreibt oder die sonstige Medikation nicht kennt, kann das für den Patienten drastische Folgen haben – hier ist der Apotheker gefragt.

Falsche Dosierung oder falsches Medikament am häufigsten

Am Waldkrankenhaus Eisenberg wurden in den vergangenen Jahren zwei Pharmakovigilanzprojekte initiiert: die Arzneimittelanamnese am Aufnahmetag und das "Medication Error Reporting System" (MERS). Bei letzterem handelt es sich um ein Meldesystem von Medikationsfehlern auf den Stationen, wobei unter Medikationsfehler eine Arzneimittelgabe zu verstehen ist, die von dem Vermerk in der Krankenakte abweicht.

Gemeldet werden müssen:

  • die Art des Fehlers (z.B. Dosierungs-, Applikationsfehler),
  • der Grund des Fehlers (z.B. Übertragungsfehler, Fehler wegen Arbeitsüberlastung),
  • die Auswirkung des Fehlers auf den Patienten (Fehler hat nicht geschadet, Fehler mit Schaden).

Bei der Analyse von 29 im Zeitraum Oktober 2004 bis September 2005 nach dem MERS-Schema abgegebenen Fehlermeldungen hatte sich gezeigt, dass bezüglich der Art des Fehlers am häufigsten Dosierungsfehler (38 %) und die Gabe eines falschen Arzneimittels (34 %) auftraten.

Das Wichtigste in Kürze 

"Consumer Health Care" 

  • postgradualer Masterstudiengang
  • vermittelt pharmazeutisches, medizinisches, wirtschaftliches, juristisches und kommunikationstheoretisches Wissen
  • Studierende sollen befähigt werden, die komplexen Zusammenhänge und Veränderungen im Gesundheitswesen und auf dem Arzneimittelmarkt besser verstehen und sektorübergreifend beurteilen zu können.
  • Studiendauer: drei Semester in Form von fünf 14-tägigen Blockveranstaltungen
  • Masterarbeit über sechs Monate
  • Studiengebühren: 557 Euro pro Semester (insgesamt 7671 Euro), auf Antrag Stipendium möglich
  • weitere Informationen auf www.consumer-health-care.de

Pharmakovigilanz in der öffentlichen Apotheke

Die öffentliche Apotheke bietet besonders gute Voraussetzungen für die Abwehr von Arzneimittelrisiken, erläuterte Apothekerin Anna Mattenklotz, Teilnehmerin am Masterstudiengang Consumer Health Care. Die Gründe dafür liegen hauptsächlich in der ständigen Präsenz von qualifiziertem Personal und der Möglichkeit des direkten Gesprächs mit dem Patienten bei geringer Hemmschwelle.

Es herrsche dennoch eine gewisse "Meldefaulheit", deren Ursachen Mattenklotz vor allem darin sieht, dass

  • die Dokumentation von UAWs keine Routine ist,
  • diese Dokumentation nicht vergütet wird,
  • die EDV-Ausstattung teilweise minimal ist.

Was die Erkennung von UAWs im ambulanten Bereich erschwert ist die Verordnung von Arzneimitteln durch verschiedene Ärzte und die Selbstmedikation. Verbesserungen erhofft man sich von der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte.

In der abschließenden Diskussion wurde von den anwesenden Experten unter anderem ein Vorschlag von Nabel, Wolfsburg aufgegriffen, der darauf zielt, das Meldeformular von UAW für die Apotheken so zu verändern, dass eine entsprechende Meldung künftig einfacher auszulösen ist. 

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

 

Quelle: 
Prof. Dr. Marion Schaefer, Berlin, Dr. Horst Möller, Berlin, Dr. Jutta Krappweis, Bonn, Dr. Priya Bahri, London, Dr. Elmar Kroth, Bonn, Prof. Dr. Eckart Rüther, Göttingen, Dr. Harald Matthes, Berlin, Dirk R. Keiner, Eisenberg, Anna Mattenklotz, Berlin: „Pharmakovigilanz und Verbraucherschutz“, 5. Gemeinsame Jahrestagung der Charité Universitätsmedizin Berlin und des Vereins Consumer Health Care e.V. am 21. Oktober 2005 in Berlin.

 

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