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Biologie
Quallen – nicht nur lästige Plagegeister
Sommerliche Quallenplagen
Jahr für Jahr verbreiten sich im Sommer die Schreckensmeldungen zu Quallenplagen, zunächst vom Mittelmeer, ab Ende Juli dann auch von der Nord- und Ostseeküste. Fragt man einen Schüler, der aus den Sommerferien vom Badeurlaub zurückkommt, nach Quallen, kommt mit Sicherheit die Antwort: "Quallen sind glibberig und eklig und manchmal auch gefährlich", und dann folgt unweigerlich die – wenn auch nicht selbst beobachtete, so doch gehörte – Geschichte von dem Freund oder Bekannten, der die unangenehme Bekanntschaft mit Feuerquallen gemacht hat. Solche Geschichten sind nicht unbegründet: In jedem Jahr kommt es bei schätzungsweise 150 Millionen Menschen nach Kontakt mit Quallen zu Verbrennungen und Hautausschlägen. Die Zahl der tödlichen Unfälle weltweit, vor allem im pazifischen Raum, pro Jahr ist zweistellig [1].
Was sind Quallen?
Man kann Quallen als "freischwimmende, gallertige Tiere von scheibenförmiger Gestalt" definieren [1]. Sie bestehen aus zwei einfachen Zellschichten und einer dazwischen liegenden Stützgallerte (Mesogloea; Abb. 2). Der Schirm enthält einen Hohlraum mit Verdauungs- und Geschlechtsorganen. Nach diesem Charakteristikum werden sie als Hohltiere (Coelenterata) bezeichnet. Innerhalb der Hohltiere bilden die "echten" Quallen den Stamm der Nesseltiere (Cnidaria). Alle dazu gehörigen Arten besitzen Nesselkapseln (Cniden), die von speziellen Nesselzellen gebildet werden und mit Gift gefüllt sind.
Quallen sind weltweit verbreitet. Ihre größten Vertreter können einen Durchmesser von mehr als zwei Metern erreichen, während die kleinsten Exemplare nur etwa ein Millimeter groß sind. Die Letzteren treiben meistens als gelatinöses Zooplankton im Meer, sie können sich aber auch zu Kolonien zusammenschließen. So sind die Staatsquallen keine einzelnen Individuen, sondern Verbünde aus vielen hochspezialisierten Einzelpolypen. Ein Beispiel hierfür ist die in tropischen und subtropischen Meeren vorkommende Portugiesische Galeere (Physalia physalis; Abb. 1).
Quallen gehören stammesgeschichtlich zu den ältesten Lebewesen überhaupt, sie lassen sich 670 Millionen Jahre weit bis ins Präkambrium zurückverfolgen. Neben den Cnidaria bilden die Kamm- oder Rippenquallen (Ctenophora) den zweiten Stamm der Hohltiere. Die etwa 80 Arten haben keine Nesselzellen und unterscheiden sich auch im Aussehen deutlich von den "echten" Quallen (Abb. 3), weisen aber eine erstaunliche Formenvielfalt auf. Einige Arten, so die auch in der Nordsee heimische, etwa 3 cm große Seestachelbeere (Pleurobrachia pileus), können massenhaft auftreten und dabei die Küstenfischerei durch Verstopfung der Netze behindern [2].
"Falsche Quallen"
Bestimmte Manteltiere (Tunicata), die zum Stamm der Chordata gehören und insofern mit den Wirbeltieren (Vertebrata), aber ganz und gar nicht mit den Hohltieren verwandt sind, erinnern in ihrem Aussehen an Quallen. Sie besitzen einen Gallertmantel und sind mehr oder weniger durchsichtig.
Medusen und Polypen
Von den Nesseltieren sind etwa 9000 Arten bekannt; da die Entwicklungszyklen aber z.T. nicht vollständig aufgeklärt sind, findet man auch andere Angaben zur Artenzahl. Sie gliedern sich in die Klassen der
- Schirm- oder Scheibenquallen (Scyphozoa) mit etwa 200 Arten, zu denen die bekanntesten Vertreter der Nesseltiere zählen (Abb. 2),
- Würfelquallen (Cubozoa) mit etwa 20 Arten, darunter die Seewespe (Chironex, Abb. 6),
- Hydrozoen (Hydrozoa) mit etwa 3000 Arten, die meistens gesellig leben, und
- Blumentiere (Anthozoa), darunter die Korallen bildenden Polypen.
Charakteristisch für die ersten drei Klassen ist der metagenetische Generationswechsel (Abb. 4); die Quallen wechseln zwischen asexueller und sexueller Vermehrung (Metagenese) und treten in zwei völlig verschiedenen Erscheinungsformen auf, nämlich
- als Meduse, das ist die mit Tentakeln und Geschlechtsorganen ausgestattete Schwimmform (die "Qualle" im allgemeinen Sprachgebrauch) oder
- als Polyp, das ist die meistens sesshafte, nur selten aktiv oder passiv schwimmende Form, die sich asexuell fortpflanzt oder in die Meduse umwandelt; der Polyp entwickelt sich aus der Planula-Larve, die wiederum aus der befruchteten Eizelle entsteht [2].
Bei den Anthozoa, der wahrscheinlich urprünglichsten Klasse der Nesseltiere, gibt es keine Medusen, sondern nur Polypen, die sich jedoch sexuell fortpflanzen können; auch bei ihnen ist im Fortpflanzungszyklus eine Planula-Larve nachgewiesen.
Nesselzellen
Für Nesseltiere sind die Nesselzellen (Nematocyten oder Cnidocyten) charakteristisch. Dabei handelt es sich um hochspezialisierte Zellen, die die Nesselkapseln (Nematocysten, Cnidocysten oder Cniden) enthalten (Abb. 5). Insgesamt werden mehr als 25 Nesselkapseltypen unterschieden, wobei die Differenzierung vorwiegend die Form der Kapsel und des in ihr enthaltenen Nesselschlauchs betrifft.
Die Anzahl der Nesselzellen ist enorm, und "strenggenommen sind Nesseltiere hauptsächlich mit der Produktion von Nesselzellen beschäftigt" [1]. Schon bei einfach aufgebauten Polypen sind etwa zwei Drittel der insgesamt 100.000 Zellen Nesselzellen. Es wird geschätzt, dass eine erwachsene Seewespe (Chironex fleckeri; Abb. 6) über 150 bis 250 Millionen Nesselkapseln verfügt. Die darin enthaltene Giftmenge reicht theoretisch aus, um 250 erwachsene Menschen zu töten.
Durch Einlagerung höhermolekularer Polyanionen (Poly-γ-glutamate) in der Kapsel können sehr hohe Konzentrationen an Kationen (Ca++ und Na+) gebunden werden. Dadurch wird ein hoher osmotischer Kapselinnendruck von bis zu 150 bar erreicht [3]. Dieser Befund bildet die Grundlage für die Osmohypothese der Dynamik der Nesselzellentladung. Sie geht davon aus, dass unmittelbar vor oder während des Entladungsvorgangs die Grundsubstanz in der Kapsel anschwillt und so in Bruchteilen einer Sekunde dieser enorme Druck aufgebaut wird. Die Spitzen der Stilettdornen werden aneinandergelegt und mit einer ungeheuren Energie "abgefeuert", wobei ihre Beschleunigung dem 40.000fachen der Erdbeschleunigung entspricht. Diesen "Geschossen" können selbst Krebspanzer nicht standhalten [1]. Nach der Verankerung der Kapsel auf der Hautoberfläche des Opfers dringt der Nesselschlauch tiefer in die Haut ein. Die Kapsel löst sich vom Nesseltier und gibt das Nesselgift über den Nesselschlauch kontinuierlich an das Opfer ab.
Nesselgifte
Nesseltiere haben einige der stärksten Gifte entwickelt, die es im Tierreich gibt. Über ihre chemische Zusammensetzung ist erst wenig bekannt. In der Regel handelt es sich um einen aus vielen Einzelkomponenten bestehenden Cocktail. Gemeinsam ist den Nesselgiften, dass sie
- sehr schnell wirken,
- häufig die Zellmembran verändern,
- zumeist aus Proteinen bestehen.
Eines dieser Gifte ist ein Polypeptid mit 27 bis 49 Aminosäuren, das durch zwei bis drei intramolekulare Disulfidbrücken stabilisiert wird. Es wirkt ähnlich wie Curare als Nervengift, indem es die Synapsen anhaltend depolarisiert und eine Muskellähmung hervorruft. Andere Gifte sind höhermolekulare Peptide, deren Struktur noch unaufgeklärt ist und die zytolytische (Hautnekrosen) und kardiotoxische Effekte haben.
Die meisten Quallenkontakte beim Baden verlaufen harmlos: Man verspürt zunächst ein unangenehmes Brennen, das nach ein paar Stunden nachlässt; die betroffene Haut ist möglicherweise leicht gerötet. In schweren Fällen verursachen die Nesselgifte äußerst schmerzende Hautrötungen und Schwellungen, eventuell mit Nekrosen. In schwersten Fällen treten Muskellähmungen auf, im Extremfall kommt es zur Lähmung des Herzmuskels und zum Tod [4].
Erste Hilfe und Prophylaxe
Zur ersten Hilfe kann die Haut mit Sand oder verschiedenen Flüssigkeiten behandelt werden (s. Tab. 1). Der Patient sollte unnötige Bewegungen vermeiden. In schweren Fällen kann als Komplikation ein Schock hinzukommen, der eine spezifische Erste-Hilfe-Behandlung erfordert. In verschiedenen Ländern (Australien, Bermudas) weisen Warntafeln an Badestellen auf besonders gefährliche Quallen wie die Portugiesische Galeere (Physalia physalis) oder die Seewespe (Chironex fleckeri) hin.
Tab. 1: Erste Hilfe-Maßnahmen bei Quallenverletzungen (verkürzt nach [5])
Maßnahme | durch Laien | durch Arzt |
---|---|---|
Topische Behandlung | sofort: Sand, Urin, zuckergesättigte Kokosnuss danach: Papayafruchtfleisch (falls verfügbar) | sofort: Essig (nicht bei Physalia) oder Isopropanol danach: Antihistaminika, Glucocorticoid-Externa |
Systemische Behandlung | Calcium i.v. (bei Muskelkrämpfen), Antihistaminika, Morphium (bei sehr starken Schmerzen) | |
Entfernung der Tentakelreste | mit scharfem Gegenstand abschaben | mit Pinzette herausziehen |
Die Firma Nidaria Technology Ltd. hat eine Sonnenschutzcreme entwickelt, die zugleich die "Verbrennungen" durch Quallen verhindern soll und unter dem Namen SafeSea im Handel ist; das Wirkprinzip ist den Korallen-, Anemonen- oder Clownfischen abgeschaut, die in Symbiose mit Blumentieren leben von ihren Nesseln keinen Schaden nehmen: Sie überziehen ihre Haut mit einem von den Blumentieren produzierten Schleim und tarnen sich dadurch [6].
Quallen in der Medizin
In der traditionellen chinesischen Medizin werden Quallen u.a. zur diätetischen Begleittherapie bei der Behandlung von Hypertonie empfohlen. Kapseln, die u.a. Quallenextrakte enthalten, wurden in China als Arzneimittel zur Behandlung von Lungenneoplasmen patentiert [7]. Präparate zur Behandlung von rheumatoider Arthritis, die aus Quallen-Collagen (Typ 2) gewonnen werden, befinden sich in der Entwicklung [8]. Weltweit untersuchen Forscher das therapeutische Potenzial verschiedener von Quallen produzierter Wirkstoffe. Sie könnten dereinst zum Beispiel zur Behandlung von Schuppenflechte oder Hautkrebs dienen.
Mit einer ganz anderen Zielsetzung befasst sich das israelische Biotechnologie-Unternehmen NanoCyte mit Nesseltieren. Es untersucht den Mechanismus der Nesselkapseln und die Möglichkeit, diese direkt als "Miniatur-Injektoren" zur Applizierung von Medikamenten einzusetzen. Erste Erfolg versprechende Tests wurden bei der Entwicklung eines lokalen Betäubungsmittels durchgeführt [9].
Hans-Peter Hanssen
Literatur
[1] Heeger, T., Quallen – Gefährliche Schönheiten, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2004.
[2] Westheide, W., Rieger, R.M. (Hrsg.), Spezielle Zoologie, Bd. 1: Einzeller und Wirbellose Tiere, Spektrum Akademischer
Verlag, Heidelberg 2003.
[3] Weber, J., Poly-γ-glutamic acids are the major constituents of nematocysts in Hydra (Hydrozoa, Cnidaria), J. Biol. Chem.
265, 9664 – 9669 (1990).
[4] Informationen unter: www.vs-c.de.
[5] Raupp, U., et al., Fallstudie einer Quallenverletzung, Hautarzt 47, 47 – 52 (1996).
[6] N.N., Licht- und Quallenschutz in einem, Dtsch. Apoth. Ztg. 148, 3970 (2003); www.nidaria.com/main_jellyfish.html.
[7] Zhang, L., Bofeng capsule for treating lung neoplasm and its manufacture. Chinesisches Patent CN146 1644 A (2003).
[8] Hsieh, Y.-H. P., Use of jellyfish collagen (type II) in the treatment of rheumatoid arthritis. US Patent US 6894029 B 1
(2005).
[9] Kantara, J.A., Der brennende Kuss der Meduse, „Die Zeit“ v. 6. 4. 2005.
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