Europa

Gesundheitsversorgung und Apothekenwesen i

Mit rund 2,4 Millionen Einwohnern ist Lettland die zweitgrößte der drei baltischen Republiken, die nach der Erlangung der Unabhängigkeit von der ehemaligen Sowjetunion im Rahmen des EU-Beitritts mit ähnlich gelagerten Problemen zu kämpfen haben. Auch hier ist das Gesundheitssystem bei weitem noch nicht stabil. Seine finanzielle Ausstattung ist dünn und der Erstattungsumfang bei Arzneimitteln demzufolge gering. Bemerkenswert sind die Erfahrungen der Letten mit dem Fremd- und Mehrbesitz. Nach einem recht kurzen "Ketten-Intermezzo" haben die Gesundheitspolitiker umgehend die Kehrtwendung eingeleitet, zurück zum "Apotheker in seiner Apotheke".

 

Wirtschaftlich noch schwach

Nach Erhebungen des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften Eurostat steht Lettland unter den "Neuen" in der EU nicht gerade besonders gut da. Im Jahr 2003 lag das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (in KKS, Kaufkraftstandards) bei 15,7% des EU-15-Durchschnitts [51], beziehungsweise bei 41% des EU-25-Durchschnitts, zum Vergleich: Deutschland: 108%, Estland: 49%, Litauen: 46%. Damit bildet Lettland das Schlusslicht der EU-Mitgliedsländer [43]. Innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre soll diese Diskrepanz überwunden sein, so die eigene Zielvorgabe [9], nach Expertenmeinungen eine recht optimistische Hoffnung [13].

Entsprechend der Wirtschaftskraft des Landes ist auch der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt mit 6,2% in 2002 recht niedrig [35] (zum Vergleich: Deutschland: 11,1%) [42]. Unter den neuen EU-Mitgliedstaaten investiert Lettland den geringsten Anteil seines Bruttoinlandsproduktes in die Gesundheit seiner Bürger [51].

Dezentralisierung des Gesundheitswesens

Erste Krankenversicherungen gab es in Lettland bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Im Jahr 1930 war die gesamte arbeitende Bevölkerung hiervon erfasst. Nach der Phase des zentralisierten, staatlich verwalteten Gesundheitssystems der Sowjetunion (Semashko-Modell) begann der Prozess der Dezentralisierung nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991. 1994 wurden die Krankenversicherungen wieder eingerichtet.

Die Reformen, die wesentlich vom lettischen Ärzteverband vorangetrieben wurden, waren vordringlich auf die Verbesserung der primären Gesundheitsversorgung auf Basis des Hausarztmodells ausgerichtet. Zwischen 1990 und 2003 wurden die Bettenkapazitäten der Krankenhäuser und Polikliniken halbiert und die der Einrichtungen ambulanter Versorgung verfünffacht [7]. Neue Kostenstrukturen halfen mit, die stationäre Verweildauer der Patienten deutlich zu senken und die Effizienz der Versorgung zu verbessern [9].

Erneute Rezentralisierung

Eine große Anzahl regionaler Versicherungen erschwerte allerdings die Koordination der Versorgung und der Entscheidungsprozesse, so dass im Jahr 1997 erneut ein Rezentralisierungsprozess eingeleitet wurde, der schließlich zu den heute bestehenden acht regionalen Krankenversicherungen führte. Durch weitere Rahmengesetze wurde das System der Gesundheitsversorgung zementiert (Tab. 1).

Im Jahr 1998 wurde die Staatliche Agentur für die gesetzliche Krankenversicherung (State Compulsory Health Insurance Agency, SCHIA) errichtet, die heute die zentrale Koordinierungsfunktion inne hat (Tab. 2). Gleichzeitig wurde ein Zertifizierungssystem für medizinische Einrichtungen eingeführt, um einen gleichbleibenden Standard der Versorgung zu gewährleisten. Regelmäßige Fortbildungsmaßnahmen sind für Angehörige des medizinischen Personals verpflichtend. Der private Gesundheitssektor, der in letzter Zeit deutlich zunimmt, umfasst eine Reihe privatisierter Polikliniken sowie fast alle Zahnarztpraxen und Apotheken [9, 36, 46].

Gesundheitsstatus verbesserungswürdig

Die grundlegenden politischen und sozialen Umwälzungen waren für weite Teile der lettischen Bevölkerung mit einem massiven Abfall des Lebensstandards und des Gesundheitsstatus verbunden. Zwischen 1990 und 1999 halbierte sich die Geburtenrate, und auch die dramatisch hohe Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche ging nur langsam zurück. Die Lebenserwartung liegt heute fast zehn Jahre unter dem EU-15-Durchschnitt [7, 9, 51].

Unter den Todesursachen stehen zwar wie in vielen Ländern Herz-Kreislauf-Erkrankungen an erster Stelle, jedoch ist die Zahl der tödlichen Verletzungen und Vergiftungen viermal so hoch und die Tuberkuloserate achtmal so hoch, und es gibt dreimal so viele Alkohol-Tote wie im EU-15 Durchschnitt [51].

System wird noch nicht recht akzeptiert

Theoretisch sind zwar alle Letten in das gesetzliche Krankenversicherungssystem einbezogen, aber das Modell der klaren Trennung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Gesundheitsversorgung wird von den Patienten nicht in dem gewünschten Umfang realisiert. De facto nimmt nach dem lettischen Sozialbericht 2000 knapp die Hälfte der Bevölkerung das Angebot nicht wahr, weil sie sich die Zuzahlungen nicht leisten kann, aber auch wegen der Wartezeiten, wegen zu langer Anfahrtswege oder aus Unzufriedenheit mit der Behandlung [9]. Zudem werden immer noch viel zu häufig Leistungen, die der primären Gesundheitsversorgung zuzurechnen sind, in kostspieligeren Einrichtungen der sekundären und der tertiären Versorgung abgefragt und erbracht [46].

Finanzierung der Gesundheitsversorgung

Das lettische Budget für die Gesundheitsausgaben wird von Parlament und Regierung jährlich festgelegt. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen setzen sich zusammen aus einem fixen Steuerbetrag (28,4% der Einkommensteuereinnahmen), aus Zuschüssen aus anderen Steuereinnahmen sowie aus der Kostenbeteiligung der Versicherten. Die Staatliche Agentur für die gesetzliche Krankenversicherung verteilt das Budget auf die acht regionalen Krankenversicherungsfonds, die dann vor Ort die Versorgung durch Verträge mit den Leistungserbringern sicherstellen. Da im Falle von Budgetüberschreitungen keine speziellen Maßnahmen vorgesehen sind, können diese lediglich durch Leistungseinschränkungen ausgeglichen werden [9, 46].

Was zahlt die lettische Krankenversicherung?

Erstmals wurde im Jahr 1994 ein Basis-Versorgungsprogramm definiert, das von dem staatlichen Gesundheitsbudget abgedeckt sein sollte. Seine Inhalte werden jährlich überprüft und aktualisiert. Der Umfang der Leistungen umfasst die Behandlung akuter und chronischer Krankheiten, die Notfallversorgung, Vorbeugung und Behandlung sexuell und anderer übertragbarer Krankheiten, die Versorgung bei Mutterschaft sowie Impfprogramme und Arzneimittel. Zahnbehandlung ist lediglich für Kinder bis zu 18 Jahren mit eingeschlossen. Zusätzlich zu der Basisversorgung finanziert der Staat weitere spezielle Programme direkt aus dem Staatshaushalt. Für darüber hinausgehende medizinische Leistungen müssen die Patienten selbst aufkommen oder diese zusätzlich privat versichern [46].

Wie hoch ist die Eigenbeteiligung?

Seit 1999 sind im Rahmen der Basisversorgung folgende Zuzahlungen zu leisten:

  • Pro Arztbesuch Erwachsene 0,50 LVL, Kinder 0,20 LVL,
  • Stationär: für die Aufnahme 5,00 LVL; pro Tag 1,50 LVL für Erwachsene und 0,45 LVL für Kinder.

Die maximale Eigenbeteiligung eines Patienten an der Gesundheitsversorgung ist auf 80 LVL (ca. 120 Euro) pro Jahr beschränkt. Eine Reihe von Patientengruppen, darunter Kinder unter einem Jahr, behinderte Kinder unter 16 Jahren, Schwangere und Tuberkulose-Patienten, sind von der Eigenbeteiligung ausgenommen.

Ein großes Problem sind die "Unter der Hand"-Zahlungen, die die Patienten zusätzlich an das medizinische Personal leisten. Über die Höhe dieser Geldleistungen gibt es nur ungenaue Angaben, es liegt jedoch auf der Hand, dass vornehmlich in Riga ansässige, einkommensstärkere Bevölkerungsschichten auf diese Weise eine bessere Versorgung herausholen. Die Folge ist ein erhebliches Ungleichgewicht in der Versorgung [46].

Preisbildung und Zuzahlung bei Arzneimitteln

Die Basis-Regelungen zur Preisbildung von Arzneimitteln wurden im Jahr 1998 erlassen [30]. Für alle nicht-erstattungsfähigen, so zum Beispiel für sämtliche OTC-Arzneimittel, ist der Herstellerabgabepreis frei. Es gibt jedoch festgelegte, degressive Handelsspannen, die für den Großhandel zwischen 5 und 15% und für die Apotheken zwischen 20 und 38% liegen [37, 46].

Für die Erstattung gelten folgende Eckpunkte:

  • Die staatliche Agentur für die Arzneimittelpreise und Erstattung verabschiedet eine Liste von erstattungsfähigen Wirkstoffen für spezielle Erkrankungen nach Maßgabe der Behandlungsrichtlinien der zuständigen ärztlichen Fachverbände.
  • Auf Basis dieser Positivliste handelt die Agentur die Festbeträge mit den Pharmaunternehmen aus.
  • Es gibt vier Erstattungs-Kategorien: zu 50%, 75%, 90% oder 100% Erstattung, je nach Erfordernis oder Erfolgsaussichten der Therapie.
  • Die Patienten zahlen die Differenz zwischen Apothekenabgabepreis und Erstattungsbetrag [27, 33, 35].

In Bezug auf den Erstattungsumfang bei Arzneimitteln liegen die Letten deutlich hinter ihren baltischen Nachbarn (Tab. 3) [1, 4, 5, 48].

Da das Budget in der ambulanten Versorgung bei weitem zu knapp bemessen ist, kommt es häufig vor, dass Ärzte Verordnungen verweigern und dass Apotheken die verschriebenen Arzneimittel zwar abgeben, danach jedoch um die Erstattung kämpfen müssen. Patienten weisen verordnete Arzneimittel gegebenenfalls in der Apotheke zurück, wenn sie mit den Zuzahlungen überfordert sind. Längst nicht alle wissen überhaupt von der Möglichkeit der Erstattung. Insgesamt gilt die Arzneimittelversorgung in Lettland derzeit noch als unzureichend [46, 50].

Kontrolle des Arzneimittelverkehrs

Das lettische Arzneimittelgesetz stammt aus dem Jahr 1997. Es regelt die Zuständigkeiten des Gesundheitsministeriums sowie der Staatlichen Arzneimittelagentur (State Agency of Medicines, SAM) und der Staatlichen Arzneimittelüberwachung (State Pharmaceutical Inspectorate, siehe Abb. 1). Die staatliche Arzneimittelagentur, die 1996 gegründet wurde, erlebte speziell 2001 ein Jahr mit großen Umwälzungen. In einem gewaltigen Kraftakt wurde die Zulassungspraxis an europäisches Recht angeglichen, und es wurden neue Abteilungen für Arzneimittelsicherheit und für Arzneimittelwerbung eingerichtet [41].

Lettische Pharmaunternehmen und ihre Konkurrenz

Die chemische und pharmazeutische Industrie zählen in Lettland zu den wichtigsten Produktionssektoren, obwohl der Gesamtmarkt mit 90 Mio. Euro (nach Herstellerabgabepreisen, nur Apotheke; zum Vergleich: Estland: 82 Mio. Euro, Litauen: 214 Mio. Euro) relativ klein ist [6]. Die Ausgangsposition nach dem Austritt aus der Sowjetunion war nicht schlecht, denn Lettland war auf die Forschung für diesen Produktionszweig spezialisiert (siehe Kasten). Nach wie vor exportieren die Letten heute in großem Umfang Arzneimittel nach Russland. Im Jahr 2004 waren in Lettland 41 Pharmaunternehmen registriert. Die vier größten sind Grindex, gefolgt von Olainpharm, Medpro und Rigas farmaceitiska fabrika [38].

Der Anteil der Importe aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ist heute wegen der nicht GMP-gerechten Herstellung deutlich geschrumpft und durch Produkte aus Westeuropa, aber auch aus Slowenien ersetzt worden. Zu den ausländischen Marktführern auf dem lettischen Arzneimittelmarkt zählen GlaxoSmithKline, Berlin Chemie, Mennarini, Pfizer, Janssen Cilag und AstraZeneca [13, 50]. Der Anteil der Generika belief sich im Jahr 2003 auf 77% (nach Einheiten) bzw. 40% (nach Umsatz) [50].

Im Großhandel dominiert Tamro

Unter den Großhandelsunternehmen nimmt die skandinavische Tamro, die im Mai 2004 komplett von der deutschen Phoenix AG übernommen wurde, unbestritten die Spitzenposition ein (Marktanteil 2004: 29%) [39, 44], gefolgt von Recipe plus, Oriola Riga, Briz und Magnum Medical [38].

Apothekerausbildung an zwei Universitäten

Pharmazie wird in Lettland an zwei Universitäten gelehrt, an der Riga Stradin's Universität, die jedes Jahr etwa 25 Absolventen in den Beruf entlässt, und der Universität Lettlands mit jährlich rund 15 Studienabgängern. Pharmazeutisch-technische Assistenten werden in Riga in einem Zwei-Jahres-Kurs an einer gesonderten Einrichtung ausgebildet.

An der Stradin's Universität wird noch nach dem "alten Modell" studiert (fünf Jahre Studium plus ein halbes Jahr Praktikum), während an der Universität Lettlands bereits das Bachelor-Master-System eingeführt ist. Wer an die Stradin's Universität möchte, muss tief in die Tasche greifen. Die Studiengebühren liegen bei 3000 Euro pro Jahr, allerdings gibt es 36 bis 40 Freiplätze. An der Latvian University kommen die Studenten mit 700 bis 800 Euro deutlich günstiger weg.

Die Studieninhalte umfassen neben den gängigen Fächern auch Anatomie, Erste Hilfe- und Katastrophenmedizin, industrielle Arzneimittelherstellung und Sozialpharmazie [40, 49]. Pharmazie ist auch in Lettland "Frauensache". Nur etwa 20 Prozent sind Männer. Im Gegensatz zu ihren estnischen Nachbarn gehören Apotheker in Lettland rechtlich zu den Gesundheitsberufen.

Die Letten wollen keine Ketten mehr

Rund 880 Apotheken gibt es in Lettland. Davon sind allein 300 in der Hauptstadt Riga angesiedelt. Der Service-Gedanke wird hier groß geschrieben: Die Apotheken sind – auch an Samstagen und Sonntagen – von acht Uhr morgens bis 23 Uhr in der Nacht, manche sogar bis Mitternacht geöffnet.

Wie die Nachbarn in Estland und Litauen haben auch die Letten ihre Erfahrungen mit dem Fremd- und Mehrbesitz gemacht. Nach der Liberalisierung im Jahr 2000 schossen die Ketten wie Pilze aus dem Boden, eine Entwicklung, die von der Gesundheitspolitik nicht gern gesehen wurde, wie der Ministerialbeamte Juris Bundulis sagt. Bereits eineinhalb Jahre danach kam die Kehrtwendung. Nach einer Übergangszeit soll es ab dem Jahr 2011 keinen Fremd- und Mehrbesitz mehr geben. Auch Filialapotheken sollen nur noch in geringem Umfang zulässig sein, pro Apotheke in ländlichen Gebieten nicht mehr als zwei, und dies auch nur dann, wenn in einem Umkreis von fünf Kilometern nicht bereits eine andere Apotheke oder Filialapotheke vorhanden ist.

Große Apothekenketten werden demnach in den nächsten Jahren den Löwenanteil ihrer Apotheken verkaufen müssen. Der lettische Apothekerverband sieht das neuerliche Verbot des Fremd- und Mehrbesitzes überwiegend positiv. Befürchtet wird aber ein Preisverfall der Apotheken, wenn diese unter Marktwert verkauft werden [45].

Einblicke in die Praxis

Die Autorin dieses Beitrags besuchte zwei Apotheken in Riga: die "Saules Aptieka 10", die zu der Kette der Sonnen-Apotheken (insgesamt 20 Mitglieder) gehört, und die topmoderne "Gimenez Aptieka", eine Tamro-Kettenapotheke. Letztere beschäftigt drei Apotheker und drei technische Assistenten, alle in Vollzeit.

Die leitenden Apothekerinnen Ilze Kalve und Inta Krumina finden ihren Beruf heute nach der Marktöffnung viel interessanter als früher. Dagegen fällt ihnen die Orientierung in dem breiten Arzneimittelangebot nach eigenem Bekunden oft schwer. Ein bisschen hilft die Fortbildung, die seit einiger Zeit ortsnah im ganzen Land angeboten wird. Auch kleinere Firmenseminare haben sich bereits eingebürgert. Erste Ansätze für Apothekenwerbung manifestieren sich in speziellen Serviceangeboten, wie Blutdruck- oder Blutzuckermessung.

Ärzte lernen von Apothekern

Der soziale Status der Apothekerschaft hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, nicht zuletzt deswegen, weil sie in Gesundheitsfragen zum zentralen Ansprechpartner für die Patienten geworden ist. Nach den Erfahrungen der beiden Apothekerinnen kennen sich heute viele Ärzte nicht gut aus im Arzneimittelsortiment. Während sie diesbezüglich früher ausschließlich von den Apothekern beraten wurden, wird diese Aufgabe seit Anfang der 90er-Jahre vorwiegend von den Außendiensten der Firmen wahrgenommen. Dennoch kommen manche Ärzte gelegentlich in die öffentlichen Apotheken, um sich dort über Neuheiten auf dem Arzneimittelmarkt zu informieren.

Job-Hopping und Arbeiten im Ausland

Vor allem jüngere Apotheker wechseln heute in Lettland häufig ihren Arbeitsplatz. Schließlich gibt es große Gehaltsunterschiede, auch innerhalb einer Apothekenkette. Besonders auf dem Land ist das Gehaltsniveau deutlich niedriger. Jobangebote finden sich nicht in der Fachzeitung, sondern in einem speziellen Web-Portal für Apotheker. Bevorzugt sind Arbeitsplätze in der Stadt. Wer einmal in Riga studiert hat, möchte dort bleiben.

Die lettischen Apotheker haben außerdem gute Kontakte mit ihren baltischen Nachbarn. Schon zu Beginn der 90er-Jahre sind die Esten, Letten und Litauer mit der Gründung des Baltic Forum on Medicines auf dem Gebiet der Arzneimittelversorgung enger zusammengerückt. Attraktive Arbeitsplätze suchen sie neuerdings auch in anderen EU-Mitgliedstaaten. Kristine Vrublevska, nach eigener Aussage Apothekerin aus Leidenschaft und derzeit bei der Fachgesellschaft der lettischen Apotheker beschäftigt, pflegt schon seit der Studentenzeit Kontakte ins Ausland. Sie möchte gerne einmal in einer deutschen Apotheke arbeiten.

Mehr Stabilität ins System

Obwohl die Entwicklung des lettischen Gesundheits- und Apothekenwesens zumindest für die absehbare Zeit keinen Anlass zu übertriebenen Hoffnungen zu geben scheint, hat das Land die erste Hürde auf dem Weg hin zu einem praktikablen System sicherlich genommen. Nun gilt es vor allem, das auch im Vergleich zu Estland und Litauen recht dünne Gesundheits-Finanzbudget aufzustocken, um den installierten Strukturen hiermit mehr Stabilität zu verleihen.

Schlecht ist die Ausgangsposition Lettlands nicht. Schließlich verfügt die mittlere der drei baltischen Republiken über eine etablierte einheimische Pharmaindustrie, auch wenn sich diese im Konkurrenzkampf mit den großen global tätigen Unternehmen naturgemäß schwer tut.

Auf dem Apothekensektor hat sich die lettische Gesundheitspolitik bereits erstaunlich lernfähig, flexibel und konsequent gezeigt. Erste Erfahrungen mit der Kettenbildung wurden, ohne den Dingen erst einmal ihren Lauf zu lassen, zeitnah ausgewertet und zügig die – vom Apothekerstand für richtig befundenen – Gegenmaßnahmen ergriffen.

 

 

Nachdem Lettland 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten war, haben sich Wirtschaft und Gesellschaft dort grundlegend gewandelt. Das gilt auch für das Gesundheitswesen, das schon einige Reformen überstanden hat. Das ehemals staatliche und zentral geleitete System wurde Anfang der 90er Jahre ziemlich plötzlich privatisiert, was die Versorgung der Bevölkerung verschlechterte. Seit 1994 meldete sich der Staat zurück und reglementierte es in zunehmendem Maße. Er führte eine gesetzliche Krankenversicherung ein, die von einer staatlichen Behörde überwacht wird. Die Apotheken sind fast alle privatisiert, doch dominieren hier die Ketten. Auch dies will die Regierung ändern: Sie hat beschlossen, bis 2011 den Fremd- und Mehrbesitz abzuschaffen. Lettland hat zudem eine beachtliche Pharmaindustrie, die ihren traditionellen Absatzmarkt in Russland behauptet hat.

Die Neuen in der EU

Seit dem 1. Mai 2004 hat die Europäische Union zehn neue Mitgliedstaaten. Die dortigen Gesundheitssysteme haben aufgrund der überwiegend sozialistischen Vergangenheit grundlegende strukturelle Reformprozesse durchmachen müssen. Vor allem für die kleineren Staaten war dies mit gewaltigen Kraftanstrengungen verbunden. Die DAZ möchte ihre Leser mit einer Beitragsserie zu einer "virtuellen" Rundreise durch einige neue EU-Länder einladen. Dabei sollen Fakten zum Gesundheitswesen zur Arzneimittelversorgung, aber auch persönliche Eindrücke vermittelt werden, die die Autoren vor Ort gesammelt haben. Der erste Bericht über Estland erschien in DAZ 39/2004, S. 50 – 67.

Forschung hat Tradition in Lettland

Chemie und Pharmazie haben in Lettland bereits eine lange Geschichte. David Hieronymus Grindel (1776 – 1836), Apotheker und Arzt in Riga, war einer der ersten herausragenden Naturwissenschaftler Lettlands.

Während der sowjetischen Zeit unterhielt die lettische Akademie der Wissenschaften insgesamt 15 Forschungsinstitute – darunter die Vorzeigeinstitution Latvian Institute of Organic Synthesis –, die größtenteils heute noch bestehen. 30.000 Menschen waren dort wissenschaftlich tätig, ein sehr hoher Anteil verglichen mit anderen Volkswirtschaften. Ein Viertel aller in der UdSSR erfundenen Arzneimittel stammte aus Lettland. International bekannt sind heute die einheimischen Pharmaunternehmen Grindex und Olainfarm [47].

Allgemeine Fakten zu Lettland

Name: Republik Lettland, Latvijas Republika Sprachen: Lettisch ist die Amtssprache; Russisch weit verbreitet Einwohner: 2,355 Mio. (55,8% Letten, 32,3% Russen, 3,9% Weißrussen, 2,9% Ukrainer, 2,2% Polen, 1,3% Litauer) Staatsgebiet: 64.597 km² Staatsform: parlamentarische Demokratie (freie Marktwirtschaft) Staatsoberhaupt: Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga (seit 7. 7. 1999) Seit August 1991 unabhängig (Austritt aus der Sowjetunion) Seit 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union Hauptstadt: Riga (ca. 740.000 Einwohner) Währung: 1 Euro = 0,654 LVL; 1 LVL = 1,529 Euro (April 2004) Quelle: [3, 8]

Apotheker-Fachgesellschaft

Vor zehn Jahren wurde die Lettische Fachgesellschaft der Apotheker (Pharmacists Society of Latvia, PSL) gegründet. Auch pharmazeutisch-technische Assistenten haben dort Zugang. Sie hat derzeit 1250 Mitglieder. Dies macht bei insgesamt rund 1500 Apothekern und einer ebenso großen Anzahl an PTA knapp die Hälfte des Berufsstandes aus.

Kontakt: Latvijas Farmaceitu biedriba, Riga, Lacplesaiela 60, LV-1011, Tel. 00371-7280522, Fax 00371-7502572, E-Mail lfb@parks.lv. Der Präsident der lettischen Apotheker-Fachgesellschaft Aigars Enins und seine Assistentin Kristine Vrublevska.

Autorin

Dr. Helga Blasius studierte Pharmazie an der Universität Bonn. 1981 Approbation. 1984 Promotion im Fach Pharmazeutische Chemie. 1985/86 hauptberufliche Redakteurin bei der Deutschen Apotheker Zeitung. 1987–1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. in Bonn. 1990/91 Leiterin der Abteilung Regulatory Affairs bei der Janssen GmbH in Neuss. 1994 Weiterbildung zur Apothekerin für Arzneimittelinformation. 1996 Abschluss als Diplom-Übersetzerin an der Universität Bonn (Japanisch und Koreanisch). Forschungsaufenthalte in Korea und Japan. Seit 1991 freie Tätigkeit in den Bereichen Wissenschaft, Schulung, Beratung, Fachjournalismus, Übersetzungen. Kontakt: helga.blasius@web.de

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