Fortbildung

Naturstoffe in der Pharmaforschung

Die pharmazeutische Naturstoffforschung geht neue Wege. Dies veranschaulichte eindrücklich ein zweitägiger Workshop, zu dem die Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung (GA) und das Department für Pharmakognosie der Universität Wien eingeladen hatten. Wissenschaftler aus Industrie und Universitäten diskutierten am 30. und 31. März neueste Strategien, Techniken und konkrete Projekte zum Thema "Naturstoffe in der Wirkstofffindung".

"Concepts and Techniques"

Die eine Hälfte des Kongresses war den Konzepten und Techniken gewidmet. Dr. Frank Petersen (Novartis) und Dr. Franz von Nussbaum (Bayer Health Care) referierten aus der Sicht der Industrie über die Wirkstofffindung durch das Screening von Naturstoffen. Schon etwa 90 Jahre lang engagiert sich die Firma Novartis (bzw. ihre Vorgänger) auf diesem Sektor. Zu den neueren Erfolgsgeschichten gehören die Einführung von Artemisinin (Riamet®) in die Malariatherapie oder dem Ascomycin-Derivat Pimecrolimus (Elidel®) zur Behandlung entzündlicher Haut–erkrankungen. Petersen betonte in seiner Präsentation "Drug Discovery from Natural Sources for Innovative Therapeutic Concepts" die Bedeutung von Naturstoffen für die Suche nach innovativen Pharmakophoren, insbesondere auf dem Gebiet antibakteriell wirksamer Therapeutika. Durch ihre Modulation zellulärer Signaltransduktionswege können Naturstoffe auch als "Pfadfinder" betrachtet werden, die neue Arten von molekularen Interaktionen aufzeigen.

Am Beispiel "Chemical Postevo–lution of Antibacterial Natural Products" erläuterte Dr. Franz von Nussbaum die Problematik von Naturstoffen. Ihre meist sehr komplexen Strukturen sowie die häufig limitierte Zugänglichkeit haben die meisten großen Pharmafirmen inzwischen zum Rückzug aus diesem Bereich veranlasst – auch wenn gerade im Bereich der Antibiotika große Erfolge zu verzeichnen waren. Zwei Strategien zur Entdeckung neuer Wirkstoffe sind derzeit üblich:

  • Beim der funktionellen Genomik läuft die Entwicklung vom Gen zum Target und anschließend über das Screening und die Leitstrukturoptimierung zum Wirkstoff.
  • Beim "Reversed Genomics" werden die Wirkstoffe über ihren antibakteriellen Effekt selektioniert und anschließend ihr Wirkmechanismus und das Target aufgeklärt. Die Kenntnis des Targets ermöglicht es dann, den Wirkstoff zu optimieren.

Gerade bei der Antibiotika-Entwicklung wird deutlich, dass Naturstoffe oft nicht den klassischen Regeln der Wirkstoffforschung folgen, dafür aber innovative Wege aufzeigen, die der medizinische Chemiker weiter optimieren kann. Eindrücklich belegt dies die Entwicklungsgeschichte von Daptomycin, das eine neuartige Klasse von Antibiotika (zyklische Lipopeptide; siehe Formel) repräsentiert und 2006 auf dem europäischen Markt erwartet wird.

Reale und virtuelle Naturstoffsammlungen

Womit die Pharmaindustrie ihre Screening-Systeme "füttert", berichtete Dr. Bernd Sontag (Discovery Partners International, DPI): Neben den durch die klassische Synthese gewachsenen und den durch die kombinatorische Synthese erzeugten Substanzbibliotheken verwendet sie auch Naturstoffsammlungen.

Diese punkten zwar mit einer hohen strukturellen und funktionellen Diversität und einer entsprechend schnellen Hit-Identifizierung, haben aber oft den großen Nachteil, dass die "Wiederbeschaffung" der Substanzen aus schwer zugänglichen Quellen aufwändig und teuer ist. DPI begegnet diesem Problem durch die Sammlung seltener Mikrobenstämme, aus denen Subfraktionen gewonnen und in verschiedenen Testmodellen geprüft werden. Nach der Hit-Identifizierung werden die entsprechen–den Stämme fermentiert, die Wirkstoffe isoliert, ihre Strukturen aufgeklärt und medizinisch-chemisch optimiert.

Es gibt aber auch rein virtuelle Naturstoffsammlungen, die über eine entsprechende Software abgerufen werden können. Prof. Thierry Langer (Universität Innsbruck) demonstrierte in seinem Vortrag "In Silico Tools for the Successful Identification of Bio-active Natural Products" Stra–tegien des "Pharmacophore Modeling" und zeigte, wie in Kombination mit geeigneten Datenbanken Wirkstoffe virtuell vorselektioniert werden können.

Forschung real

Wieder auf "realen Boden" führte Prof. Andreas Bechthold (Universität Freiburg). Mittels gentechnischer Veränderungen von mikrobiellen Genclustern, die naturstoffproduzierende Multienzymkomplexe kodieren, lassen sich heute neue Naturstoffe erzeugen. In seiner Arbeitsgruppe konzentriert man sich auf Glykosyltransferase-Gene und ihren Einsatz zur Modifizierung von Naturstoffen durch Glykosylierung. Eindrucksvoll konnte Bechthold belegen, wie wichtig Zuckerbausteine für die Wirksamkeit von Naturstoffen sein können.

Vom holistischen zum reduktionistischen Ansatz

Noch unbelastet von "Targets" und "molekularen Angriffspunkten" entdeckten bereits unsere Vorfahren die meisten der heute offizinellen Arzneipflanzen. Im einfachen "Test" am gesamten Organismus (holistischer oder ganzheitlicher Ansatz) fanden sie beispielsweise die relevanten Coffein-Drogen Coffea, Camellia, Cola und Ilex, wie Prof. R. Verpoorte (Universität Leiden) darlegte. Heute dagegen verfolgt man einen stark reduktionistischen Ansatz (Gen =>Target => Wirkstoff-Screening), der darauf abzielt, einen spezifischen Wirkstoff für ein bestimmtes Target zu finden. Die Wirksamkeit im Gesamtorganismus wird dagegen erst sehr spät geprüft – und bei weitem nicht immer mit zufrieden stellendem Ergebnis. Hier weisen Pflanzen, deren Wirk–samkeit volksmedizinisch erprobt ist, für die Wirkstoffsuche einen Vorteil auf.

Eine Strategie, die ebenfalls versucht, eher ein Gesamtbild der Wirkung einer Droge oder eines Stoffes zu zeigen, ist das Metabolomics. Dabei werden metabolische Fingerprints (eine Zusammenschau aller vorkommenden Metaboliten) in Test–organismen vor bzw. nach Exposition gegenüber der Prüfsubstanz erstellt. Zur Analytik wird hierbei bevorzugt die zweidimensionale Kernresonanzspektroskopie (NMR) eingesetzt.

Prof. Kurt Hostettmann (Universität Genf) bestätigte und betonte an Hand verschiedener Projekte seiner Arbeitsgruppe, dass eine konsequente Analyse traditioneller Arzneidrogen immer wieder neuartige Wirkstoffe hervorbringen kann. Wichtig ist eine effektive instrumentelle Analytik, begleitet von einer wirkungsvollen Dereplikation (Techniken, die bereits bekannte Wirkstoffe frühzeitig identifizieren und falsche Neuentdeckungen verhindern) und einfachen, aber aussagekräftigen Bioassays, die möglichst online an das System gekoppelt sind.

Zukünftige Strategien müssen die Detektion von Prodrugs in Pflanzenextrakten ermöglichen, die über Bioassays kaum auffindbar sind. Bekanntes Beispiel ist das Salicin aus der Weidenrinde, das erst nach Magen- und Leberpassage enzymatisch in die wirksame Salicylsäure umgewandelt wird und deshalb in Bioassays nicht auffällt.

Compounds and Targets

Im zweiten Teil des Workshops folgten Beiträge zu bestimmten Substanzklassen und Zielstrukturen. Prof. Stéphane Quideau (Universität Bordeaux) konnte in seinem Vortrag über "C-glykosidische Ellagtannine aus dem Wein" zeigen, dass Wein, der in Eichenfässern ausgebaut worden ist, Kondensationsprodukte aus genuinen Polyphenolen des Weins mit Ellagtanninen des Eichenholzes enthält. Diese C-glykosidische Ellagtannine können nicht nur den Wein geschmacklich beeinflussen, sondern auch biologisch aktiv sein, indem sie die Topoisomerase II hemmen.

Dr. Huige Li (Universität Mainz) stellte die endotheliale NO-Synthase (eNOS) als Target in den Mittelpunkt seines Vortrags. Endotheliales Stickstoffmonoxid (NO) ist ein zentraler antiatherosklerotischer Mediator. Substanzen, die seine Konzentration erhöhen, z.B. durch Aktivierung der eNOS, sind daher interessante Wirkstoffkandidaten. Li zeigte, dass Extrakte von verschiedenen chinesischen Arzneidrogen in der Lage sind, die humane eNOS zu stimulieren. Drei dieser Arzneidrogen wurden molekularpharmakologisch näher charakterisiert und bewirkten erwartungsgemäß eine erhöhte NO-Freisetzung aus Endothelzellen.

Prof. Karl-Heinz Altmann (ETH Zürich) berichtete über die Substanzklasse der Epothilone und ihr Potenzial für die Krebstherapie. Epothilone sind Makrolide mit einem Wirkmechanismus, der dem des Paclitaxels (Taxol®) entspricht: Sie stabilisieren Mikrotubulin und behindern dadurch die Zellproliferation. Allerdings wirken Epothilone gegen verschiedene Tumorzellen, interessanterweise sogar gegen Paclitaxel-resistente, in niedrigeren Konzentrationen. Altmann zeigte, wie Epothilone modifiziert und dadurch optimiert werden können.

Virtuelles Screening erfolgreich

In einem gemeinsamen Vortrag präsentierten Prof. Angelika Vollmar (Universität München) und Prof. Hermann Stuppner (Universität Innsbruck) ein gemeinsames Projekt: das virtuelle Screening in einer Naturstoff–datenbank nach Chemosensitizern, also Substanzen, die Tumorzellen gegenüber Chemotherapeutika sensibilisieren. Als Target wurde XIAP ausgewählt, ein inhibitorisches Protein in der Apoptose-Signalkaskade. Eine Substanz, die in silico die Sensitivität von Leukämiezellen gegenüber Etoposid wieder herstellte, wurde anschließend mit dem gleichen Ergebnis in vitro getestet.

Von Vancomycinen und Abyssomicinen berichtete Prof. Roderich Süssmuth (TU Berlin). Wäh–rend das Glykopeptid Vancomycin als Notfall-Antibiotikum gegen multiresistente grampositive Bakterien bereits im Einsatz ist, sind Abyssomicine eine vergleichsweise junge Antibiotikagruppe. Süssmuths Team entdeckte sie bei einem Screening seltener Stämme des Actinomyceten Verrucosispora in Tiefseegräben um Japan. Abyssomicine hemmen die 4-Aminobenzoesäure-Biosynthese und zeigen ebenfalls eine starke Aktivität gegen grampositive Bakterien.

Abschließend zeigte Prof. Hanns Häberlein (Universität Bonn), wie man Ligand-Rezeptor-Interaktionen und spezifische Veränderungen von Membraneigenschaften mit Hilfe der Fluoreszenz-Korrelations-Spektroskopie sichtbar machen kann. Häberlein betonte das große Potenzial dieser Technik sowohl für das Screening nach neuen Wirkstoffen als auch für die Vorhersage der Wirkungsweise noch un–charakterisierter Verbindungen.

Prof. Dr. Verena Dirsch vom Department für Pharmakognosie der Universität Wien gebührt großer Dank für die Organisa–tion der Veranstaltung. Nach den sehr vielseitigen und interessan–ten Vorträgen und konstruktiven Diskussionsbeiträgen konnten die Teilnehmer abends beim Wiener Heurigen die Kontakte vertiefen.

Naturstoffe bilden nach wie vor ein wichtiges Reservoir für potenzielle Arzneistoffe. Dies liegt auch an der Optimierung der Screening-Methoden. In diesem Jahr kommt das zyklische Lipopeptid Daptomycin, Vertreter einer neuen Antibiotikagruppe, auf den Markt, und als nächste erfolgversprechende Antibiotikagruppe werden derzeit die Abyssomicine getestet. Große Hoffnungen richten sich auch auf neu entdeckte Naturstoffe, die antiatherosklerotisch oder antitumoral wirken.

Naturstoffforschung in Wien

Innerhalb der neu strukturierten Fakultät "Life Sciences" der Universität Wien stellt "Drug Discovery from Nature" einen Forschungsschwerpunkt dar. Naturstoffe sind durch die Evolution optimiert und deshalb geradezu als Leitstrukturen für neue Arzneistoffe prädestiniert. www.univie.ac.at/drug_discovery_from_nature

Das könnte Sie auch interessieren

Mit welchen computergestützten Methoden die Umwelt geschont werden kann

Neue Wege in der Wirkstoffentwicklung

Von bedrohlichen Resistenzen, Innovationslücken und aktuellen Entwicklungen

Stumpfe Antibiotika?

Doktoranden und junge Postdoktoranden trafen sich in Münster

Phytoforschung exzellent präsentiert

Wissenschaftlerin mit Leib und Seele lehrt und forscht an der Universität Wien

Dr. Elke Heiss habilitiert

Einblicke in eine akademische Karriere in der Medizinischen Chemie

Prof. Dr. Laudatio: Gunda I. Georg zum 75. Geburtstag

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.