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Marianne Birthler: Gegen Verdrängen und Vergessen
In einem Rückblick auf die Zeit vor dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 meinte Birthler, entscheidend sei eigentlich nicht erst der Fall der Mauer am 9. November 1989 gewesen. Dieser sei eher die Folge der Ereignisse davor, einer Zeit in der sich die Bürger der DDR ihre Freiheit erkämpft hätten. Ein Schlüsseldatum dafür sei der 9. Oktober 1989 gewesen. Die DDR-Führung, zusehends nervöser geworden, hatte geplant, an diesem Montag den ihr immer bedrohlicher werdenden Montagsdemonstrationen und Friedensgebeten ein Ende zu bereiten. Das immer aufmüpfiger werdende Volk sollte mit Gewalt diszipliniert werden. In Leipzig, einer Hochburg der Demonstrationen, waren Schulen und Kindergarten geschlossen und bewaffnete Einheiten zusammen gezogen. Krankenhäuser waren vorbereitet, größere Zahlen von Verletzten versorgen zu können. Doch die Führung des Regimes drehte bei, die Demonstrationen wurden nicht aufgelöst – Anlass für die oppositionellen Kräfte, ihre Aktivitäten zu verstärken und sich dabei unter der Parole "Stasi in die Produktion" (und "ohne zu wissen, dass dort gar nicht genug Platz war", so Birthler) die Staatssicherheit selbst vorzunehmen. Zunächst wurden in gewagten Aktionen regionale Stasi-Dienststellen besetzt, schließlich am 15. Januar sogar die Zentrale in Berlin. Durch diese Besetzungen konnte die oft schon begonnene Vernichtung von Unterlagen gestoppt werden.
Mehrheit für Aktenerhalt
Was mit den Akten geschehen sollte, war – so Birthler – anfangs durchaus nicht unumstritten. Manche plädierten für eine geordnete Vernichtung – es handele sich schließlich um Erzeugnisse von Verbrechern. Die Mehrheit aber wollte die Akten erhalten. Dafür, so Birthler sprachen und sprechen vor allem drei Argumente. Erstens müsse den Opfern die Möglichkeit erhalten bleiben, ihr Schicksal zu rekonstruieren. Zweitens seien die Akten erforderlich, um Fragen nach Verantwortlichkeiten und Schuld (z.B. im Hinblick auf Einstellungen in den öffentlichen Dienst) beantworten zu können – ein Zweck der nach gegenwärtiger Rechtslage Ende 2006 entfallen würde. Drittens würden die Unterlagen benötigt, um zu verstehen, wie der "Apparat" im totalitären DDR-Staat funktioniert habe.
Diese Zwecke für die Aufbewahrung der Unterlagen haben sich auch im Stasiunterlagengesetz wiedergefunden, dass noch im August 1990 von der DDR-Volkskammer verabschiedet wurde. Im Einigungsvertrag fand es erst durch eine nachträglich eingeschobene Zusatzpassage – auf Drängen der ostdeutschen Seite – Berücksichtigung.
Belege für Verrat und Schande
Die Stasiunterlagenbehörde verwaltet 180 Kilometer (!) Akten. Besonders interessant: 16.000 Säcke mit zerrissenen Akten, deren Vernichtung der Stasi offensichtlich besonders wichtig war. Die Schnipsel aus 250 Säcken wurden inzwischen manuell wieder zusammengesetzt. Der Einsatz eines automatisierten Verfahrens scheiterte bislang an zu hohen Kosten.
In den Akten, so Frau Birthler, finden sich Belege für "Verrat und Schande, aber auch für Mut, Anständigkeit und Zivilcourage". Denn niemand habe "IM" werden müssen. Die Opfer des Regimes kommen nun an Unterlagen heran, mit denen sie beweisen können, warum sie – zum Beispiel – inhaftiert worden waren. 1,5 Millionen Menschen haben inzwischen einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt, selbst 2005 gab es noch 80.000 neue Anträge. Die Akten zeugen auch von den "Zersetzungsmaßnahmen" der Stasi. Dazu gehörte z. B., Persönlichkeiten durch Rufmordkampagnen moralisch zu zerstören. Oder es wurden falsche Diagnosen in die Welt gesetzt. Die Rechtfertigung mancher IM (2% der DDR-Bevölkerung war derart verstrickt), man sei zwar dabei gewesen, –"habe aber niemandem geschadet", ließ Birthler so nicht gelten. Denn kein IM habe wirklich wissen können, was in den Händen der Stasi aus seinen Unterlagen gemacht werden würde.
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