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Philosophie
H.P.T. AmmonArzneimittelfindung bei Ayurveda –
Viele Kulturen der Erde haben ihre eigene Form der Medizin entwickelt und teilweise erfolgreich behauptet. Wir nennen sie – im Gegensatz zu unserer modernen Medizin – traditionelle Medizin. Einer traditionellen Medizin liegt häufig eine gewisse Philosophie zugrunde. Nach ihr richten sich Betrachtungsweise von Krankheit, Diagnose und Behandlung.
Philosophischer Hintergrund Eine heute noch weit verbreitete Form der traditionellen Medizin ist in Indien der Ayurveda – das "Wissen vom gesunden Leben". Um zu verstehen, was sich die ayurvedischen Ärzte bei der Findung und Anwendung ihrer Arzneimittel dachten und auch heute noch denken, muss man sich zunächst mit der klassischen indischen Philosophie vertraut machen. Sie beruht auf den vier grundlegenden Büchern des Wissens, den Veden, die wahrscheinlich 500 bis 1000 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung entstanden. Die ersten ayurvedischen schriftlichen Überlieferungen sind die enzyklopädischen Samhitas von Charaka und Sushruta, etwa 800 bis 1000 Jahre vor Christi. Von Bedeutung ist dabei auch die Weitergabe des ayurvedischen Wissens vom Vater auf den Sohn innerhalb vieler Ärztegenerationen.
Die fünf Elemente Nach Ayurveda sind der Körper und alle seine Teile aus den "fünf großen Elementen" (Panchamahabhutas) zusammengesetzt, die gewöhnlich als etwas Substanzielles beschrieben werden:
Prithvi (Erde), Jala (Wasser), Tejas (Feuer), Vayu (Luft) und Akasha (Raum).
Es wird dabei von einer Akzentuierung dieser Elemente in verschiedenen Strukturen (Organen) und grundlegenden Funktionen innerhalb des Organismus (Doshas, s. u.) ausgegangen. Nach Ayurveda ist der Mensch ein Mikrokosmos, ein Abbild des Makrokosmos oder Universums. Er besteht aus denselben Elementen wie der Makrokosmos.
Das Menschenbild Ayurveda definiert das Leben als Einheit von Körper, Sinnen, Geist und Seele. Schematisch gesehen spielen hierbei folgende Faktoren eine Rolle, die zusammen genommen das eigentliche Ich ausmachen (Abb. 1):
- die fünf Elemente, die die Materie des Körpers bilden.
- die Psyche, die ihrerseits von den Sinnesorganen abhängig ist und einen Einfluss auf die Zusammensetzung der Elemente hat (moderne Lesart: psychovegetative Kopplung).
- vererbte Komponenten, darunter das individuelle Temperament und die drei angeborenen Geistesqualitäten (Trigunas): Sattva, Rajas und Tamas.
Ein Mensch mit überwiegender Sattva-Komponente ist ausgeglichen, hat klare, reine Gedanken, ist vergnügt.
Eine Person mit starkem Rajas-Anteil ist sehr aktiv bis hin zu Aggressivität und Gereiztheit.
Eine dominierende Tamas-Qualität bedeutet Trägheit, Passivität, Verwirrung, Wahn und Unwissenheit.
Doshas (Regulatoren des Körpers) Drei Komponenten oder Grundprinzipien (Doshas), die wiederum von den fünf Elementen abhängig sind, regulieren den biologischen Haushalt des Menschen: Vata, Pitta und Kapha (Abb. 2). Wenn die Doshas nicht im Gleichgewicht sind, erleidet der Körper strukturelle und funktionelle Schäden, er wird krank.
- Vata ist eine Art Initiator und Promotor für biologische Aktivität.
- Pitta reguliert die Körperwärme und den Stoffwechsel.
- Kapha sorgt für die Stabilität des Körpers, für die Stärke und Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheit, aber auch für geistige Kompetenz und Seelenstärke (Tab. 1).
Krankheit und Therapie Das Dosha, das in einem Menschen überwiegt, prägt seine Persönlichkeit. Dem Vata-, Pitta- und Kapha-Typ könnte man die drei Konstitutionstypen nach Ernst Kretschmer gegenüberstellen: Athletiker, Pykniker und Leptosome. Wenn ein Dosha überhand nimmt, können typische Störungen und Erkrankungen auftreten (Abb. 3). Auch die moderne Medizin kennt Krankheiten, die für bestimmte Konstitutionstypen typisch sind.
Ayurveda kennt circa 75 Krankheitsgruppen. Behandelt werden sie in erster Linie unter Zugrundelegung des Dosha-Systems. Die Behandlung beschränkt sich also nicht auf das erkrankte Organ, sondern ist ganzheitlich und konzentriert sich auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts. Diesem Ziel dient eine Reihe von Therapieansätzen (Tab. 2). Wichtig sind dabei Reinigungstherapien sowie die Therapie mit Arzneipflanzen (Phytotherapie).
Verminderung überaktiver Doshas Ayurveda behandelt Patienten mit einem überaktiven Dosha nach zwei Prinzipien:
- Samana beruhigt das überaktive Dosha,
- Sodhana eliminiert das überaktive Dosha aus dem Körper durch Reinigungstherapien (z. B. Panchakarma).
Zwecks Elimination werden überaktive Doshas zunächst vom Krankheitsort in den Verdauungskanal überführt, und zwar durch bestimmte Nahrung oder Getränke, Massage und durch Schwitztherapie. Aus dem Körper entfernt werden sie dann durch
- Erbrechen,
- Abführen,
- ölige Einläufe,
- Einläufe mit Dekokten von Kräutern,
- Einblasen von Niespulver in die Nase,
- Aderlass.
Das Erbrechen wird bei Kapha-Erkrankungen eingesetzt, das Abführen bei den beiden anderen. So werden Abführmittel zum Beispiel bei Hauterkrankungen, Fieber, Harnwegserkrankungen, Analfistel, Leibschmerzen, Kopfschmerzen, Flatulenz, Herzerkrankungen, Erkältung, Epilepsie verabreicht.
Einläufe mit Dekokten von Kräutern werden bei Vata-Erkrankungen bevorzugt, um Gifte (Atma), Faeces, Schleim, Galle zu eliminieren.
Das Einbringen der Arznei durch die Nase und das Reinigen des Kopfbereiches über die Nase (Nasya) werden u. a. bei Nackensteifheit, Entzündung der Mandeln und der Zunge, von Mund, Nase, Ohr, Auge, bei Facialisparese und Sprachverlust durchgeführt.
Stärkung schwacher Doshas Die Ayurveda-Arzneitherapie dient vor allem zur Stärkung der unterrepräsentierten Doshas. Die verwendeten Arzneimittel sind in erster Linie pflanzlichen Ursprungs, aber auch mineralische und animalische Produkte werden verwendet. Da Menschen, Tiere und Pflanzen Mikrokosmen sind, sind pflanzliche Arzneimittel ähnlich wie der menschliche Körper zusammengesetzt. Sie beeinflussen den Körper dadurch, dass sie in ihm das Verhältnis der fünf Elemente ändern. Für die Rezeptur einer Arznei werden solche Pflanzen ausgewählt, bei denen die für die Therapie erwünschten Elemente besonders ausgeprägt sind.
Methoden der Arzneimittelfindung Es erhebt sich jetzt die Frage, was auf das Vorhandensein solcher Elemente in der Pflanze hinweist. Es sind teils Eigenschaften, die durch die Sinne, hauptsächlich Geschmack und Gefühl, wahrgenommen werden können, teils sind es feststellbare Wirkungen:
Rasa (Geschmack) Rasa fungiert vor allem als Indikator für die physikochemischen Eigenschaften eines Arzneimittels. Sechs verschiedene Geschmacksarten – Madhura (süß), Amla (sauer), Lavana (salzig), Katu (scharf), Tikta (bitter) und Kashaya (zusammenziehend) – entsprechen Kombinationen von jeweils zwei Elementen (Tab. 3). Zum Beispiel wird Madhura Rasa (süß) durch die Kombinationen von Erde und Wasser hervorgerufen. Nach der Vorstellung des Ayurveda werden die in einem Arzneimittel enthaltenen Elemente von den Sinnesorganen aufgenommen und von diesen an die Psyche und von dort schließlich an den Körper weitergegeben.
Die Kombination verschiedener Elemente und Geschmackstypen ist nur durch die Kombination mehrerer Drogen, die über die erforderlichen Geschmackseigenschaften verfügen, zu erreichen. Daraus erklärt sich die Vielfalt der in einer Rezeptur verwendeten Drogen.
Vipaka (Entstehung von Geschmack im Verdauungsprozess) Unter Vipaka versteht man den Zustand eines Arzneimittels im Stadium der Umwandlung im Darm, denn während des Verdauungsprozesses ändert sich die Elementzusammensetzung des Arzneimittels. Dabei entsteht das eigentliche wirksame Prinzip bzw. Element. In der Nomenklatur der westlichen Medizin könnte man von einem ayurvedischen Prodrug sprechen.
Guna (fühlbare Eigenschaften) Die mit dem Tastsinn fühlbaren Eigenschaften von Arzneimitteln werden als Gunas bezeichnet (Tab. 4). Sie sollen im Körper ähnliche Eigenschaften hervorrufen, wie sie selbst besitzen.
Virya (wärmende/kühlende Wirkungskraft) Unter Virya wird die Wirkungsstärke eines Arzneimittels verstanden. Ein Arzneimittel, dem Virya fehlt, obwohl es über Rasas oder Gunas verfügt, ist demnach unwirksam. Nach einer gewissen Zeit der Wirkung kann ein Arzneistoff seine Virya verlieren (Abklingen der Wirkung nach moderner Terminologie). Ayurveda kennt also auch die begrenzte Wirkungsdauer.
Prabhava (pharmakodynamische Eigenschaften) Die spezifische Wirkung eines Arzneimittels – ohne Zuhilfenahme von Rasas und Gunas – wird Prabhava genannt (entspricht der uns geläufigen pharmakodynamischen Wirkung), so zum Beispiel die kardiotonische Wirkung von Arjuna (Myrobalanen, von Terminalia arjuna) oder die Antileprawirkung von Khadira (Katechu, von Acacia catechu). Auch Emetika, Laxanzien, Narkotika und Antidote zählen dazu.
Drogen und Rezepturen Die bei den einzelnen Krankheiten bzw. Krankheitsbildern verwendeten Drogen sind meist pflanzlichen oder mineralischen Ursprungs und werden als Mischpräparate in den verschiedensten Arzneiformen angewandt. Es gibt ca. 450 Rezepturen [4].
Ayurveda – keine Mystikmedizin Wie stellt sich Ayurveda aus der Sicht der modernen oder westlichen Medizin dar? Um es vorweg zu nehmen, man hüte sich, diese traditionelle Medizin als Mystik oder Scharlatanerie abzuqualifizieren. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung stellte sie eine hohe kulturelle Leistung dar. Freilich hat es Ayurveda versäumt, sich dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand der Zeit anzupassen, insbesondere in den letzten hundert Jahren. Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein, zum Beispiel das besondere kulturelle und religiöse Umfeld in Indien, aber möglicherweise auch ein retardierender Einfluss der Kolonialherrschaft. Zu bieten hat Ayurveda auch heute noch wertvolles Gedankengut, insbesondere den Gedanken der Präventivmedizin, den zu vergessen wir auf dem besten Wege sind.
Das ganzheitliche Prinzip Die westliche Medizin gliedert sich heute in viele Einzeldisziplinen, und Krankheiten werden von Spezialisten behandelt. Bei Ayurveda steht die Erzielung des Gleichgewichtes der Doshas im Vordergrund. Wir setzen Arzneimittel im Wesentlichen aufgrund der Ergebnisse pharmakologischer, toxikologischer und klinischer Studien ein. Ayurveda verwendet Arzneizubereitungen, die fehlenden "Elemente" substituieren. Kommen auf diese Weise die Doshas miteinander ins Gleichgewicht, dann ist die Voraussetzung geschaffen, dass der Patient wieder gesund wird. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die bei Ayurveda verwendeten Arzneipflanzen durchaus pharmakologische Wirkungen im Sinne der westlichen Medizin besitzen können.
Prof. Dr. H. P. T. Ammon
Eine heute noch weit verbreitete Form der traditionellen Medizin ist in Indien der Ayurveda – das "Wissen vom gesunden Leben". Um zu verstehen, was sich die ayurvedischen Ärzte bei der Findung und Anwendung ihrer Arzneimittel dachten und auch heute noch denken, muss man sich zunächst mit der klassischen indischen Philosophie vertraut machen. Sie beruht auf den vier grundlegenden Büchern des Wissens, den Veden, die lange vor der christlichen Zeitrechnung entstanden. Für das Verständnis von Krankheit und Therapie ist das "Dosha" ein zentraler Begriff. Es beschreibt drei Regulatoren des Organismus.
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