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- DAZ 6/2006
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Die Seite 3
Am 1. Januar ist eine neue Fassung der Verordnung über verschreibungspflichtige Arzneimittel in Kraft getreten. Einiges daran ist zweifellos sinnvoll. Aber: Durch die komplette Streichung des ehemaligen § 4 wird die Versorgung der Patienten bürokratisiert, sie wird umständlicher und langsamer – ohne einen erkennbaren Gewinn an Sicherheit.
Die nach § 4 bislang gegebene Möglichkeit, nach fernmündlichem Kontakt mit einem Arzt in dringenden Fällen einen Patienten auch dann mit seinem Arzneimittel zu versorgen, wenn das Rezept physisch noch nicht in der Apotheke vorliegt, wurde ersatzlos gestrichen. Ohne vorliegendes Rezept darf nach dem Wortlaut der Verordnung nunmehr weder ein Arzt selbst noch ein Patient in der Apotheke mit einem verschreibungspflichtigen Arzneimittel versorgt werden – auch nicht in dringenden Fällen und auch nicht, wenn keinerlei Zweifel am Wollen des verordnenden Arztes besteht. Einzige Ausnahme ist ein zu rechtfertigender Notstand, der freilich – wie bisher schon – nur unter extrem engen Kriterien angenommen werden darf.
Die Neufassung fußt auf zumindest zwei problematischen Annahmen. Erstens liegt ihr ein idealisiertes Patientenbild zugrunde – das Bild eines jederzeit klar denkenden und planenden Patienten, der immer und überall den Überblick hat, wann er zur Vermeidung einer Versorgungslücke eine Nachverordnung seiner Arzneimittel erbitten muss, um rechtzeitig seine Apotheke aufsuchen oder kontaktieren zu können. Solche Patienten gibt es. Es gibt aber auch viele, die – krankheits- oder auch nur altersbedingt – weit von diesem Idealbild entfernt sind. Auch diese Patienten sollten von ihren Apothekern möglichst gut betreut und versorgt werden. Solche Patienten für ihre Defizite (und sei es auch nur Vergesslichkeit oder bloße Schusseligkeit) ohne Wenn und Aber eiskalt abzustrafen, ist zynisch. Es widerspricht der Maxime nil nocere, der wir uns weiter verpflichtet fühlen sollten.
Zweitens werden die Apothekerinnen und Apotheker in der neuen Verordnung nicht mehr als Fachleute gesehen, denen man zutrauen könnte, auf Basis eines nachgewiesenen Sachverstandes in Sondersituationen verantwortungsbewusst zu entscheiden und zu handeln. Sie werden vielmehr auf die Stufe von Automaten gestellt, die zu verantwortlichem Abwägen und Handeln gänzlich unfähig sind.
Die Verschreibungspflicht ist sinnvoll, sie dient dem Patientenschutz. Wie oft haben wir dies schon Patienten erklärt! Apotheker, die sich skrupellos und gewinnfixiert über die Verschreibungspflicht hinwegsetzen, sind unbarmherzig zu bestrafen – d'accord. Aber jeder Apotheker, der das Leben kennt, weiß auch um viele Fälle wie den des insulinpflichtigen Diabetikers, der am Freitagnachmittag bemerkt, dass er mit seinem Insulin nicht mehr über das Wochenende kommt. Er hat eine Patientenkarte, seine Dauermedikation ist in der Apotheke gut dokumentiert.
Der Apotheker erreicht den Arzt auf dem Weg zu einem Wochenendausflug telefonisch. Dass der Patient die Behandlung fortsetzen soll, steht außer Frage. Bisher durfte der Apotheker den Patienten dann versorgen. Jetzt, nach der ersatzlosen Streichung von § 4, macht er sich strafbar. Erwartet wird, dass der Apotheker den Patienten zum Notarzt schickt, so dieser greifbar ist. Der kennt den Patienten nicht, hat auch keinen Zugriff auf seine Kranken- und Medikationsgeschichte und ist leider oft auch unerfahren. Erst wenn der Patient mit einer von diesem Notarzt ausgestellten "ordnungsgemäßen" Verordnung wieder in der Apotheke erscheint, dürfte er sein Insulin erhalten. Es fällt schwer, dies für sinnvoll zu halten. Nein, schärfer: Das ist Irrsinn pur.
Sinnvoll wäre gewesen, die pragmatischen Aussagen des § 4 beizubehalten, sie aber eher noch zu präzisieren und, ich scheue dies nicht, zu verstärken bzw. zu verschärfen. So könnte zur Auflage gemacht werden, dass sich der Apotheker höchstpersönlich der Identität des anrufenden Arztes vergewissern muss, dass er ferner zu dokumentieren und zu unterzeichnen hat, dass, wann, warum und auf welcher Informationsbasis und mit welchen Einnahmehinweisen er im Ausnahmefall ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel (oder ggf. eine Teilmenge zur) Überbrückung ausgehändigt hat.
In Great Britain ist den Apothekern inzwischen erlaubt, unter bestimmten Umständen Arzneimittel selbst zu verschreiben. Bei uns versucht man es mit Entmündigung. Ist das gewollt?
Klaus G. Brauer
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