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Es geht um die Systemfrage

Der Bär ist noch nicht erlegt, doch sein Fell wird schon verteilt. Obwohl nach dem Alleingang des saarländischen Justiz- und Gesundheitsministers in Sachen Zulassung der Filialapotheke einer Aktiengesellschaft bislang weder eine abschließende gerichtliche Klärung noch eine Reaktion des durch die im Saarland praktizierte Nichtanwendung des Apothekengesetzes herausgeforderten Bundesgesetzgebers vorliegt, schaffen die Protagonisten einer bevorstehenden Deregulierung bereits Fakten, allen voran der größte europäische Pharmagroßhändler und Apothekenketteninhaber, die Celesio AG. Eigentlich konnte das niemanden mehr überraschen.
Bereits am 16. März 2007 zitiert die Stuttgarter Zeitung unter der Überschrift "Celesio plädiert für die Öffnung des Apothekenmarktes, Vorstandschef Oesterle: Gute Versorgung der Patienten hängt nicht davon ab, wer Eigentümer der Apotheke ist" den Celesio-Vorstandsvorsitzenden erstmals mit der – gegenüber dem bis dahin geltenden öffentlichen Konsens im deutschen Pharmamarkt durchaus überraschenden – Aussage: "In der Apotheke muss der Mensch im Mittelpunkt stehen. Und ob er dies tut, hängt nicht davon ab, wer Eigentümer der Apotheke ist und ob sie zu einer Kette gehört oder nicht." Die Immobilien-Zeitung meldet am 12. April 2007: "Inten mietet Apotheken wie ein Filialist, ist aber keiner" und zitiert den Prokuristen der 2004 gegründeten Celesio-Tochter, Björn Oellrich, mit der Ankündigung: "Natürlich schaffen wir Handlungsoptionen, um vorbereitet zu sein, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern." Mittelfristig wolle man in Deutschland nicht weniger Apothekenstandorte angemietet haben, als man Apotheken in Ländern wie den Niederlanden, Irland oder Belgien betreibe. Neben Apothekenräumen in Einkaufzentren "werden wir Apotheken in Medizinischen Versorgungszentren eröffnen." Als sich Gehe dann am 28. April 2007 mit einem eiligen Fax an seine Kunden wendet, um ihnen mitzuteilen: "Celesio und Gehe sichern starke Marke für deutsche Apotheken", hat das schon etwas von Chuzpe: immerhin hat sich Celesio mit der Übernahme von DocMorris und seiner deutschen Filialapotheke nicht nur zum Konkurrenten seiner bisherigen Kunden gemacht, sondern sich offenbar zugleich politisch auf die Seite der Investoren geschlagen, die der deutschen Eigentums- und Wettbewerbsordnung für Apotheken den Kampf angesagt haben. Celesio hat die Systemfrage gestellt.
Zentrale Rechtfertigung dieses spektakulären Schachzugs ist das Optiker-Urteil des EuGH vom 21. April 2005, das nach Auffassung Celesios "eins zu eins auf den deutschen Apothekenmarkt übertragen werden" kann. Ist nach dem Optiker-Urteil die Schlacht um das deutsche Fremdbesitzverbot für Apotheken also wirklich schon geschlagen?
Zumindest nicht aus Sicht des Verwaltungsgerichts des Saarlandes. Es beschloss am 20. März 2007 im Hauptsacheverfahren, den Verwaltungsrechtsstreit zwischen der Apothekerkammer des Saarlandes, dem Deutschen Apothekerverband und drei Apothekeninhabern einerseits und dem Saarland und dessen Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales andererseits wegen Anfechtung der Apothekenbetriebserlaubnis der inzwischen Celesio gehörenden DocMorris-Filialapotheke auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Die vorlegende Kammer begründet die Entscheidungserheblichkeit der Frage, ob das Fremdbesitzverbot für Apotheken gegen die durch den EG-Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit für Kapitalgesellschaften verstößt, ausdrücklich mit ihrem Zweifel, ob die Ausführungen des EuGH über den Zugang zu Optikergeschäften auf Apotheken übertragbar seien. Mit der Abgabe von Arzneimitteln in Apotheken könne ein deutlich höheres Gesundheitsrisiko verbunden sein als beim Betrieb eines Optikergeschäfts. Die Erfüllung der für die Volksgesundheit wichtigen öffentlichen Aufgaben durch den Apotheker halte der deutsche Gesetzgeber am besten dann für gewährleistet, wenn die allseitige Verantwortung für den Betrieb der Apotheke in einer Hand liege, d. h. wenn der Apotheker, der für die Erfüllung der öffentlich-rechtlichen Aufgaben einzustehen habe, auch Eigentümer der Apotheke sei. Ziel des Fremdbesitzverbotes, das die Errichtung von Apotheken aus bloßen Gründen der Kapitalanlage bzw. Kapitalnutzung ausschließe, sei es zu verhindern, dass Personen, die für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung keine Verantwortung tragen, Einfluss auf die Führung von Apotheken eingeräumt wird. Auf diese Weise solle sichergestellt werden, dass die im öffentlichen Interesse an der Erhaltung der Volksgesundheit liegende Arzneimittelversorgung sachgerecht wahrgenommen wird.

"Überzeugungsgewissheit" zur Missachtung geltender Bundesgesetze?

Auch die zweite Vorlagefrage an den EuGH hat es in sich: Die vorlegende Kammer möchte wissen, wann eine nationale Behörde aufgrund des Gemeinschaftsrechts die von ihr für gemeinschaftswidrig erachteten nationalen Vorschriften nicht anwenden darf und muss. Die Kammer hat Zweifel, ob eine nationale Behörde aufgrund des Gemeinschaftsrechts berechtigt und verpflichtet ist, die von ihr als gemeinschaftswidrig erachteten nationalen Vorschriften nicht anzuwenden, auch wenn es sich nicht um einen evidenten Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht handelt und eine Unvereinbarkeit der betreffenden nationalen Vorschriften gegen das Gemeinschaftsrecht vom Europäischen Gerichtshof bisher nicht festgestellt worden ist. Die eingetretene unterschiedliche Anwendung nationaler Rechtsvorschriften infolge der Annahme oder Nichtannahme der Gemeinschaftswidrigkeit nationaler Rechtsvorschriften durch verschiedene staatliche Instanzen habe erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge. Während das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes in seinem Beschluss vom 22. Januar 2007 bereits die auf ein Privatgutachten gestützte einfache "Überzeugungsgewissheit" hinsichtlich des Verstoßes nationaler Rechtsvorschriften gegen vorrangiges Gemeinschaftsrecht für ausreichend erachtet hatte, ist die Kammer der Ansicht, dass darüber hinaus bestimmte Anforderungen an die Überzeugungsbildung hinsichtlich der Annahme eines Verstoßes nationaler Bestimmungen gegen Gemeinschaftsrecht zu stellen sind. Letztlich geht es dabei um die Systemfrage, ob die "Normverwerfungskompetenz" nationaler Behörden zur Vermeidung einer "anarchischen Verwerfungspraxis" mit negativen Folgen für Rechtssicherheit und Gewaltenteilung auf Fälle beschränkt werden kann, in denen der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht evident bzw. offenkundig ist oder der Verstoß der betreffenden Vorschriften gegen Gemeinschaftsrecht vom Europäischen Gerichtshof in seiner Rechtsprechung festgestellt wurde.

Italien kämpft für sein Fremdbesitzverbot

Voraussichtlich wird der EuGH bereits vor der Entscheidung über die saarländische Vorlage Gelegenheit haben, sich zum apothekenrechtlichen Fremd- und Mehrbesitzverbot zu äußern, nämlich in den Verfahren der EU-Kommission gegen Italien, Österreich und Spanien. Mit ihrer am 22. Dezember 2006 eingereichten Klage gegen Italien (Rechtssache C-530/06) will die Kommission u. a. festgestellt wissen, dass die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 43 EG und Art. 56 EG-Vertrag verstößt, weil sie das Betreiben von privaten Apotheken nur natürlichen Personen, die ein Pharmaziestudium absolviert haben, und Gesellschaften, deren Gesellschafter ausschließlich Pharmazeuten sind, erlaubt.
In seiner Klageerwiderung wendet sich Italien sehr grundsätzlich gegen die Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Frage der Arzneimittelversorgung durch Apotheken, bestreitet, dass hier ausschließlich wirtschaftliche Fragen des Warenverkehrs und der Niederlassungsfreiheit für Kapitalgesellschaften betroffen sind und verweist auf die besondere "Mission" der Apotheken, die eine Auftrennung in rein wirtschaftliche und rein pharmazeutische Sachverhalte ausschließe. Im übrigen erinnert Italien in seiner Klageerwiderung daran, dass die ausschließliche Inhaberschaft von Apothekern oder von Gesellschaften, die von Apothekern kontrolliert werden, im Großteil der europäischen Mitgliedstaaten wie Österreich, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Portugal, Rumänien, Slowenien, Spanien, Ungarn, Zypern vorgesehen sei und in Schweden die Apotheken sogar allesamt staatlich seien. Überdies unterwerfe die Mehrheit der Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten die Ansiedlung neuer Apotheken der Einhaltung geographischer und/oder demographischer Kriterien. Daher wäre es aus italienischer Sicht angebracht, dass die Position der Kommission, die von der real existierenden Wirklichkeit Europas so weit weg ist, sich diesen Gesetzgebungen einheitlich nähert anstatt sie in einer Art Salamitaktik einzeln anzugreifen. Außerdem stehe die Grundsatzkritik der Kommission im Widerspruch damit, dass selbst die EU-Richtlinien, durch die die Niederlassungsfreiheit umgesetzt wird und die sowohl den Beruf des Apothekers als auch den Arzneimittelhandel regeln, explizite Bestimmungen enthalten, die einige der nationalen Zugangsbedingungen zu diesem Sektor bezüglich des Vertriebsmonopols und der geographischen Verteilung aufrecht erhalten, die noch nicht harmonisiert sind, weil die diesbezügliche Regelung auf Grund des Subsidiaritätsprinzips der "Zuständigkeit der Mitgliedstaaten" anvertraut wird. Die Mitgliedstaaten hätten daher bei der Regelung der Rolle der Apotheker und des Arzneimittelhandels in ihren Rechtsordnungen vernünftigerweise auf die verabschiedeten EU-Richtlinien und auf den damit verbundenen Vorbehalt der nationalen Kompetenz, die in eben diesen Richtlinien enthalten ist, vertrauen dürfen. Gerade Italien habe durch das Bersani-Gesetz erhebliche Schritte in Richtung einer Liberalisierung gemacht, so dass die darüber hinausgehenden Forderungen der Kommission unverhältnismäßig seien.

Die Bundesregierung muss Farbe bekennen

Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, dass der EuGH den Unterschied zwischen Optikern und Apothekern erkennt und das Fremdbesitzverbot für gerechtfertigt erklärt. Gefordert ist jetzt eine klare Positionierung der Bundespolitik, denn es geht um die Anwendbarkeit eines geltenden deutschen Gesetzes. Die Stellungnahmen Österreichs und Italiens in den Vertragsverletzungsverfahren weisen dafür den Weg. Und auch die Bundesregierung hat sich erst kürzlich in einer mit den Ländern abgestimmten Stellungnahme zur exklusiven nationalen Zuständigkeit für die Ausgestaltung und Finanzierung des eigenen Gesundheitssystems bekannt und von der EU-Kommission gefordert: "Um die Kohärenz der solidarisch ausgestalteten Gesundheitssysteme in der Gemeinschaft zu schützen, ist es entscheidend, dass die Steuerungsbefugnis (Hervorhebung im Original) der Mitgliedstaaten mittels verschiedener Instrumente wie Planung, Zulassungssysteme, Preisfindungsmechanismen, Wettbewerbselemente oder Budgetierung gewährleistet wird und Grundprinzipien der Gesundheitssysteme, wie z. B. in Deutschland das Sachleistungsprinzip, uneingeschränkt erhalten bleiben." Auch das apothekenrechtliche Fremdbesitzverbot gehört zu den Grundprinzipien des deutschen Gesundheitssystems. Soll der geltend gemachte Kompetenzanspruch für die Steuerungsbefugnis der Mitgliedstaaten im Gesundheitswesen mehr als bloße Rhetorik sein, muss sich die Bundesregierung im DocMorris-Verfahren klar für das geltende deutsche Apothekengesetz einsetzen. Es geht um die Systemfrage.
Professor Dr. Hilko J. Meyer ist Professor im Fachbereich Wirtschaft und Recht mit Schwerpunkt "Recht und Management im Gesundheitswesen" an der FH Frankfurt/Main

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