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Aus der Hochschule
Universität Greifswald
Neues Konzept zur ambulanten pharmazeutischen Betreuung
Das Institut für Community Medicine der Universität Greifswald hat in Kooperation mit der Abteilung für Klinische Pharmazie eine Zusatzqualifikation für die als Gemeindeschwester tätige Gesundheits- und Krankenpflegerin entwickelt. AGnES, die arztentlastende gemeindenahe e-Health-gestützte systemische Intervention, soll Hausärzte in ländlichen Regionen unterstützen. Zudem soll sie als verlängerter Arm des Apothekers die pharmazeutische Betreuung der Patienten verbessern.
"Nehmen sie das Arzneimittel eine halbe Stunde vor dem Essen mit einem Glas Wasser ein" – ob diese Empfehlung vom Patienten auch umgesetzt wird, ist kaum zu überprüfen. Zuhause ist der Patient mit seinem Medikament und dem häufig unverständlichen Beipackzettel auf sich allein gestellt. Die darin angeführten Risiken und Eventualitäten sind für den Patienten oft beängstigend, denn er kann deren Bedeutung für sich selbst nicht realistisch einschätzen.
Arzneimittel sind für etwa 3% der internistischen Krankenhausaufnahmen verantwortlich, wobei nur wenige Wirkstoffgruppen die Hauptverursacher der Probleme sind [1, 2]. Multimorbide, eingeschränkt mobile Patienten sind häufiger von dieser Situation betroffen und würden von einer intensiveren pharmazeutischen Betreuung profitieren [3–6].
Die Datenlage hinsichtlich der Erfassung arzneimittelbezogener Probleme und deren Vermeidung aus der Häuslichkeit heraus ist bislang ungenügend. Integrative Versorgungsmodelle könnten die pharmazeutische Betreuung effektiver in den Alltag des Patienten bringen und dabei die Kompetenz der Apotheke vor Ort ergänzen. Zudem zwingt die drohende medizinische Unterversorgung in ländlichen Regionen zur Etablierung neuer Versorgungskonzepte.
Speziell qualifizierte Gemeindeschwestern
Hinter dem Konzept AGnES verbirgt sich eine speziell qualifizierte Gemeindeschwester (engl. Community-Medicine Nurse, CM-Nurse) mit der Primärqualifikation zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und einer umfangreichen Zusatzausbildung in den Bereichen Beratung, Prävention, Public Health, Telemedizin, Ökonomik und Pharmakotherapie.
Während einer ersten Machbarkeitsstudie Ende 2005 wurden für AGnES die Module Unterstützendes Monitoring, Telemedizin, Prävention und Pharmazeutische Betreuung entwickelt. Danach gab es auf der Insel Rügen zwei Folgestudien von März bis Mai 2006 sowie von Dezember 2006 bis März 2007 zur Evaluation des Konzeptes in kleinen Kollektiven von 27 bzw. 40 Patienten. Derzeit läuft eine größere Praxisimplementationsstudie in einem medizinischen Versorgungszentrum im brandenburgischen Lübbenau mit drei Gemeindeschwestern, die derzeit etwa 150 Patienten in der Häuslichkeit besuchen. In Sachsen werden in Kürze vier weitere Gemeindeschwestern hinzukommen. Weiterhin beginnt im Uecker-Randow-Kreis demnächst eine Studie in enger Kooperation mit der kassenärztlichen Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern.
EDV-gestützte Medikamentenanamnese
Die qualifizierte Gemeindeschwester handelt ausschließlich im Delegationsverfahren des Arztes und betreut vor allem ältere, multimorbide und in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen. Neben den ärztlichen Tätigkeiten, wie der Überwachung der Vitalwerte, führt sie (im Rahmen des Moduls Pharmazeutische Betreuung) zu zwei Zeitpunkten Computer-gestützte Patienteninterviews zur standardisierten Medikamentenanamnese durch. Der gesamte Prozess ist papierlos und wird in einem selbst entwickelten Dokumentationsprogramm aufgezeichnet. Bei der Medikamentenanamnese werden auch OTC-Präparate erfasst. Der für das Patienteninterview entwickelte Fragebogen fokussiert auf mögliche Probleme bei der Arzneimittelanwendung wie Compliance, Dosierung, mögliche Interaktionen und Nebenwirkungen.
Alle erfassten Medikamente werden in einen Dokumentationsbogen eingetragen, was dem Apotheker den Arzneimittel-Check mit Dosierungskontrolle, Suche nach Kontraindikationen und Interaktionsprüfung auf Basis der ABDA-Datenbank ermöglicht. Trotz des Mehraufwandes für die Apotheken haben sich bislang in den Studienregionen jeweils alle lokalen Apotheken engagiert beteiligt. Auf Rügen waren neun Apotheken und in Lübbenau sind derzeit fünf Apotheken involviert.
Einnahmefehler korrigiert
Eine klinisch-pharmazeutische Diplomarbeit fasste erste Ergebnisse einer Studie auf Rügen zusammen: In der noch nicht direkt von Unterversorgung bedrohten Region Sassnitz wurden 20 multimorbide Patienten mit einem Durchschnittsalter von 75 Jahren (Altersspanne: 38 bis 86 Jahre) in der Häuslichkeit besucht. Während zweier Erhebungszeitpunkte wurden (bereinigt um die doppelt erfassten Packungen) 284 Medikamente erfasst, davon war bei 11,3% das Verfallsdatum überschritten.
Die Interviews ergaben, dass vor allem orale Antidiabetika und Protonenpumpenhemmer nach anstatt – wie verordnet – vor dem Essen eingenommen wurden. Diese Anwendungsfehler wurden direkt korrigiert, und bei den Folgebesuchen zeigte sich in aller Regel der Erfolg.
Die Interaktionsprüfung in der Apotheke ergab 56 potenzielle Interaktionen, davon ein Drittel mit OTC-Präparaten oder Nahrungsbestandteilen; erfreulicherweise wurde keine schwere Interaktion gefunden. Weiterhin wurden vor allem Complianceprobleme, aber auch Nebenwirkungen aufgrund der systematischen Befragung identifiziert.
Die Patienten begrüßen das Projekt
Die Akzeptanz der pharmazeutischen Betreuung war groß: In der Abschlussbefragung zur Studie gaben 63% der Patienten an, dass sie weiterhin eine regelmäßige kontinuierliche Betreuung wünschen, und 84% werteten die bisherigen Interventionen im Rahmen der Studie als positiv.
Während der Machbarkeitsstudie dauerten die Interviews zur Medikamentenanamnese zwischen 11 und 25 Minuten (Mittelwert 17 min); hinzu kam die zur Erfassung der arzneimittelspezifischen Daten benötigte Zeit. Der Apotheker, der die Medikamentenanamnese im Apothekenalltag kaum so gründlich durchzuführen könnte, wird also wesentlich entlastet und kann die gewonnene Zeit für eine gezieltere Beratung nutzen.
Förderung durch die EU
Die zukünftigen Studien in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg schließen ein größeres Patientenkollektiv ein und dienen der statistischen Validierung des Konzeptes und der gesundheitsökonomischen und therapeutischen Evaluation. Als Outcome-Parameter sollen Blutdruck sowie Blutzuckerspiegel und HbA1c -Wert dienen. Die Apotheker vor Ort sollen wieder in den Prozess der Betreuung eingeschlossen werden und so ihre Kompetenz als Heilberufler stärken. Sie werten die Medikation klinisch-pharmazeutisch aus, informieren den behandelnden Arzt und suchen bei Problemen gemeinsam nach Lösungen.
Das Konzept AGnES kann dazu beitragen, die medizinische Versorgung im dünn besiedelten Raum zu sichern, und weckt deshalb großes öffentliches Interesse. An der Fachhochschule Neubrandenburg werden im Rahmen eines Förderprojektes der EU begleitend die ersten Gemeindeschwestern weitergebildet.
Literatur[1] Schneeweiss S, et al. Admissions caused by adverse drug events to internal medicine and emergency departments in hospitals: a longitudinal population-based study. Eur J Clin Pharmacol 2002;58:285-91.[2] Gandhi TK, et al.Adverse drug events in ambulatory care. N Engl J Med 2003;348:1556-64.[3] Gurwitz JH, et al. Incidence and preventability of adverse drug events in nursing homes. Am J Med 2000;109:87-94.[4] Winterstein AG, et al. Preventable drug-related hospital admissions. Ann Pharmacother 2002;36:1238-48.[5] Howard RL, et al. Which drugs cause preventable admissions to hospital? A systematic review. Br J Clin Pharmacol 2006 June 26.[6] McDonnell PJ, Jacobs MR. Hospital admissions resulting from preventable adverse drug reactions. Ann Pharmacother 2002;36:1331-6.Dipl.-Pharm. Thomas Fiß Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann Prof. Dr. Christoph Ritter Universität Greifswald Thomas.Fiss@uni-greifswald.de
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