Arzneimittel und Therapie

ADHS

"Risiko für Suchterkrankung kann reduziert werden!"

Die Follow-up-Daten der MTA-Studie werfen viele Fragen auf. Wann profitieren ADHS-Kinder von einer Dauertherapie mit dem am häufigsten verwendeten Stimulans Methylphenidat? Welchen Einfluss haben Stimulanzien auf das Wachstum der Kinder und welchen Schutz können sie vor späterem Drogenkonsum und Straffälligkeit bieten? Darüber haben wir mit der leitenden Oberärztin Priv.-Doz. Dr. Katja Becker vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim gesprochen.

DAZ In den 1999 publizierten Ergebnissen der MTA-Studie zeigte sich bei sieben- bis neunjährigen Kindern mit ADHS nach 14 Monaten die Therapie mit Stimulanzien oder die kombinierte Behandlung mit Stimulanzien und Verhaltenstherapie der alleinigen Verhaltenstherapie deutlich überlegen. Nach 36 Monaten war dieses Ergebnis nicht mehr zu finden. Wie ist das zu erklären?

Becker: Nach den im August 2007 publizierten Ergebnissen der MTA-Study Group (Jensen et al.) zeigten alle Therapiegruppen nach 36 Monaten eine Symptomreduktion gegenüber dem Studienbeginn, aber die Therapiegruppen untereinander unterschieden sich nicht mehr in Hinblick auf die Verbesserung der von Eltern und Lehrern benannten Symptome, der Leseleistung, in sozialen Fertigkeiten und Funktionsniveau. Also ist es erst einmal positiv zu werten, dass alle Interventionsformen (Stimulanzientherapie; Stimulanzientherapie in Kombination mit Verhaltenstherapie; Verhaltenstherapie alleine und "Community Care") zur Reduktion der ADHS-Symptome auch längerfristig beitragen. Warum sich die Gruppen nach 36 Monaten nicht mehr unterscheiden, mag unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen nahmen nicht mehr alle Kinder der Medikamentengruppe noch Stimulanzien ein, während Kinder mit ADHS, die ursprünglich der reinen Verhaltenstherapiegruppe oder der Gruppe mit Community Care zugeordnet waren, später teilweise auch mediziert wurden. Auch das Faktum, dass nicht mehr alle Kinder der Medikamenten- und der Medikamenten/Verhaltenstherapie-Gruppe Medikation erhielten, hat unterschiedliche Ursachen: Nicht alle der Kinder sind Therapieabbrecher. Bei einer Subgruppe der Kinder, die im Grundschulalter von sieben bis neun Jahren beim Studienstart eine deutliche ADHS aufwiesen, wird nach drei Jahren (also im Alter von zehn bis 13 Jahren) eine Medikation nicht mehr notwendig sein, weil die Symptome nicht mehr nachweisbar sind. Die Autoren betonen, es sei falsch, aus den Studienergebnissen zu folgern, dass eine medikamentöse Therapie keinen Unterschied mache oder sich die Fortführung der Stimulanzienmedikation nicht lohne. Es ist zu empfehlen, das längerfristige Medikamentenmanagement, bei den Kindern mit ADHS bei denen dies notwendig ist, mit gleicher Intensität fortzuführen und nicht nur Termine in großen Abständen zu vergeben.

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Sollten die Ergebnisse der dreijährigen Nachbeobachtung stimmen, dann kann die Wirksamkeit von Methylphenidat mit der Zeit nachlassen.

Becker: Dass die Wirksamkeit mit der Zeit nachlässt, kann man so nicht sagen. In der MTA-Studie zeigten sich drei Gruppen (Swanson et al. 2007) mit unterschiedlichen Verläufen:

  • ein Drittel zeigte unter Stimulanzienmedikation initial eine leichtgradige Verbesserung, die im Therapieverlauf weiter zunahm,
  • eine zweite Gruppe (52%) zeigte eine deutliche Symptomreduktion am Anfang, die über drei Jahre stabil blieb und
  • eine dritte Gruppe (14%), die am Anfang auf die Medikation ansprach und sich dann wieder verschlechterte.

Auch in der Klinik erleben wir Kinder, die nach Jahren weiterhin gut von der Medikation profitieren. Zu einem guten Therapiemanagement gehört neben den üblichen Kontrolluntersuchungen auch die Überprüfung, ob noch eine Medikation notwendig ist oder nicht mehr; und wenn eine Medikation weiterhin notwendig ist, ob die Dosierung dem steigenden Körpergewicht angepasst werden muss oder, bei Nichtansprechen auf die Medikation trotz ausreichender Dosierung, entweder eine medikamentöse Umstellung erfolgen muss oder, je nach Symptomen und komorbiden Störungen, eine Zusatzmedikation notwendig wird.

Auch ist zu betonen, dass eine medikamentöse Therapie der ADHS einen Baustein in einer multimodalen Therapie darstellt und eine alleinige Pharmakotherapie ohne weitere therapeutische Interventionen und Begleitung nicht den geforderten Therapiestandards entspricht.

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Vorgeschlagen wird, die Stimulanzientherapie immer wieder zu unterbrechen, um zu prüfen, ob sie noch wirksam ist – Stichwort "Ritalin-Ferien" .

Becker: Die Frage, ob eine Stimulanzienmedikation noch notwendig, hilfreich und ausreichend ist, muss der Behandler sich bei jedem Einzelfall stellen und die Eltern entsprechend beraten.

Regelmäßig sollten, in Absprache mit dem Patient, dessen Eltern und dem Lehrer, Auslassversuche unternommen werden, um zu überprüfen, ob eine Pharmakotherapie noch notwendig ist. Dieser sollte in einer Zeit üblicher Belastung stattfinden, also weder genau zu Zeiten von schulischen Abschlussarbeiten (um deren Ergebnis nicht zu verschlechtern) noch in den Schulferien, wenn keine schulische Belastung besteht. Selten ist der Auslassversuch nicht eindeutig, hier kann dann ein Doppelblindversuch hilfreich sein (siehe Bliznakova et al. 2007).

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Viele Eltern haben Angst um die gesunde Entwicklung ihrer mit Methylphenidat behandelten Kinder. Jetzt scheinen die Daten die Vermutung zu bestätigen, dass unter Methylphenidat das Wachstum verzögert wird. Wie bewerten Sie die Daten?

Becker: Es gibt Einzelfallberichte von Kindern mit ADHS, die unter Stimulanzientherapie, ein langsameres Wachstum zeigen. Die Ergebnisse kontrollierter Studien sind heterogen, manche, wie auch nun die MTA-Study (Swanson et al. 2007) zeigen bei Kindern mit ADHS unter Stimulanzientherapie ein im Vergleich zu unbehandelten Kindern geringeres Längenwachstum (2 cm) und weniger Gewichtszunahme (2,7 kg weniger), andere zeigen dies nicht. Unabhängig davon ist es wichtig, regelmäßig in Verlaufskontrollen anhand von Perzentilenkurven das Längenwachstum und die Gewichtszunahme der Patienten mit ADHS zu überprüfen, wie es auch in den Leitlinien der Fachgesellschaften (DGKJP et al. 2007) empfohlen wird. Persistiert eine Appetitminderung und nimmt ein Kind mit ADHS unter Stimulanzienmedikation ab oder nicht zu oder verlangsamt sich das Größenwachstum im klinisch relevanten Bereich, ist eine medikamentöse Umstellung zu empfehlen. Dies ist aber nur selten der Fall.

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Auf welche Medikation wird dann ausgewichen?

Becker: Das hängt vom Einzelfall ab. Entweder auf Amphetaminsulfatsaft, ebenfalls aus der Gruppe der Psychostimulanzien, oder auf Atomoxetin, einem selektiv noradrenerg wirkenden Pharmakon zur Therapie der ADHS. Aber auch bei diesen beiden Optionen ist ein Bestandteil des zu empfehlenden Drug-Monitorings die regelmäßige Kontrolle der Gewichtszunahme und des Längenwachstums.

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Eine Methylphenidat-Behandlung im Kindesalter sollte ADHS-Kinder im Jugend- und Erwachsenenalter vor Drogenmissbrauch und Delinquenz schützen. Nun sieht es so aus, als ob Methylphenidat weder die Kinder vor Drogenkonsum schützen kann, noch verhindern kann, dass sie straffällig werden.

Becker: Kinder mit ADHS haben häufiger als Kinder ohne diese Störung auch eine Störung des Sozialverhaltens, die wiederum häufig mit Delinquenz assoziiert ist und einen Prädiktor für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung darstellt. Es ist bekannt, dass Kinder mit ADHS ein früheres Einstiegsalter beim Rauchen zeigen und insgesamt ein höheres Risiko aufweisen, Drogen zu konsumieren. Eine Methylphenidat-Behandlung kann bei von ADHS Betroffenen das Risiko delinquent zu werden oder eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln nicht verhindern, aber doch minimieren:

Biederman et al. (1999) zeigten bei einem Vergleich von medizierten Kindern mit ADHS, nicht medizierten Kindern mit ADHS und einer Kontrollgruppe in einer Follow-up-Studie vier Jahre später, dass die Kinder mit ADHS, die eine Pharmakotherapie erhalten hatten, ein geringeres Risiko aufwiesen, eine Suchterkrankung zu haben im Vergleich zu den Kindern mit ADHS ohne Medikation. In einer Metaanalyse haben Wilens et al. (2003) sechs prospektive Studien (zwei mit Follow-up im Jugendalter, vier im jungen Erwachsenenalter) mit insgesamt 674 medizierten und 360 nicht medizierten Kindern mit ADHS in Hinblick auf die Entwicklung einer Suchterkrankung analysiert. 97% der medizierten Kinder erhielten Psychostimulanzien (Methylphenidat oder Amphetamine). Es zeigte sich, dass die Stimulanzientherapie das Risiko der Entwicklung einer Suchterkrankung signifikant reduzierte. Stimulanzien wirken also protektiv. Letztlich ist dennoch zu empfehlen, insbesondere bei den Kindern die neben einer ADHS weitere Risikofaktoren aufweisen (wie komorbide Störung des Sozialverhaltens, deviante Peergroup, Abhängigkeitserkrankungen der Eltern), neben der Pharmakotherapie in den verhaltenstherapeutischen Sitzungen bzw. der Beratung auch suchtpräventive Aspekte mit zu berücksichtigen.

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Frau Dr. Becker, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Gespräch führte Dr. Doris Uhl

Priv. Doz. Dr. Katja Becker – Leitende Oberärztin – Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (Ärztl. Direktor: Prof. Dr. Dr. T. Banaschewski) Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Postfach 12 21 20, 68072 Mannheim
Priv. Doz. Dr. Katja Becker
Etwa ein Drittel aller ADHS-Kinder spricht nach den Daten der MTA-Studie nicht auf eine Stimulanzienbehandlung an, etwa jedes zweite Kind profitiert dagegen auch noch nach drei Jahren von dieser Therapieform.
Foto: Imago

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