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- DAZ 45/2007
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Feuilleton
Ausstellung
Chemische Formeln als künstlerische Inspiration
"Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen." Diese Art der Welterkenntnis kann man verfluchen, wie es einst der Romantiker Novalis getan hat, man kann ihr aber auch einen ästhetischen Reiz abgewinnen, wie es der Pharmazeutische Chemiker Prof. Dr. Hermann J. Roth tut. Unter dem Titel "Molekulare Ästhetik" stellt er Grafiken und Objekte in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe aus, die von den Gesetzmäßigkeiten der Struktur unserer Grundstoffe inspiriert sind.
Buchstaben, akustische Töne und chemische Elemente sind Bausteine, aus denen komplexe Gebilde entstehen: Wörter, Melodien, Moleküle. Durch Zeichen für die Bausteine lassen sich die Gebilde darstellen und von dem, der die Zeichen lesen kann, wiedererkennen. Was zum Zweck der Dokumentation und Kommunikation erfunden wurde, hat aber auch einen ästhetischen Reiz.
Wörter oder Sätze, die man sowohl von vorn als auch von hinten lesen kann, sind Palindrome. Einfache Beispiele sind Uhu, Anna, Otto. Zur Vernissage der Ausstellung demonstrierte die Pianistin Birgit Nerdinger eindrucksvoll, dass es auch in der Musik Palindrome gibt – und zwar nicht nur bei Johann Sebastian Bach, dem Meister des Kontrapunkts, sondern z. B. auch bei Claude Debussy. Und Professor Roth legte dar, dass viele Naturstoffe eine symmetrische Kombination von Bausteinen darstellen, z. B. nach dem Muster a-b-c-b-a. Doch befasst sich Roth durchaus nicht nur mit Palindromen der Chemie, sondern auch mit palindromischen Wörtern – natürlich vorzugsweise mit solchen, die zum Vokabular der Chemie gehören.
Das Lieblings-Palindrom von Hermann Roth heißt Tartrat, weil bei ihm auch der mittlere Buchstabe mit dem Anfangs- und Endbuchstaben identisch ist. Roth hat es zum Beispiel in einem elektrisch beleuchteten Objekt verarbeitet; es ist ein Quadrat mit 49 Feldern, von denen 41 mit den Buchstaben A, R, T besetzt sind – diese weisen vielleicht auch darauf hin, dass es sich hier um "Kunst" handelt – und acht leer sind. Die Buchstaben sind so angeordnet, dass im Quadrat an den Kanten, in der mittleren Zeile bzw. Spalte über Kreuz und diagonal über Kreuz achtmal das Wort Tartrat steht (oder 16-mal, wenn man beide Leserichtungen zählt). Man muss das Wort jedoch nicht linear lesen, sondern kann links oder rechts abbiegen – und ist erstaunt, wie viele Kombinationsmöglichkeiten es auf einer so kleinen Fläche gibt! Im Abstand von wenigen Sekunden werden jeweils sieben andere Buchstaben beleuchtet und machen das Wort immer wieder neu sichtbar – eine Spielerei, der man lange zuschauen kann …
Spiegelbilder
Auch viele organische Verbindungen sind Palindrome, z. B. Ether, Essigsäureanhydrid, Diallyldisulfid, die Dicarbonsäuren Oxalsäure, Bernsteinsäure und auch die meso-Weinsäure, die trotz ihrer beiden asymmetrischen C-Atome eine intramolekulare Symmetrieachse aufweist. Keine echten Palindrome sind die D- und L-Weinsäure (im Verhältnis 1:1 bilden sie das Racemat Traubensäure). Sie sind Enantiomere, die sich wie Objekt und Spiegelbild zueinander verhalten. An solchen Strukturen lässt Hermann Roth ebenfalls mit Vorliebe seine Kreativität aus.
Ein Enantiomerenpaar in zwei Farben ergibt vier verschiedenartige Bausteine. Roth kombiniert sie nach symmetrischen Gesichtspunkten und erhält Einheiten, die er wiederum als Bausteine für größere Gebilde verwendet. So hat er in einem Objekt drei verschiedene Enantiomerenpaare jeweils quadratisch angeordnet und die Quadrate zum Sechserpack zusammengestellt (s. Abb. "Weinsäure"). Der Betrachter kann, während er noch die Struktur analysiert, die Freude am Synthetisieren nachempfinden
Hermann Roth hält begleitend zur Ausstellung noch drei Vorträge, in denen er einige Aspekte der "molekularen Ästhetik" erläutert.
W. Caesar- 20. November: "Spielkartensymmetrie auf molekularer Ebene"
- 11. Dezember: "Molekulare Palindrome und Mesoformen"
- 8. Januar: "Die Zahl 3 als ästhetisches Ordnungsprinzip"
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