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Jede Chemikalie trägt das Risiko toxischen Schadens in sich. Viele chemische Stoffe haben sich als hochgiftig erwiesen, andere können explodieren oder brennen: das sind die akuten chemischen Risiken. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass das Risiko, krank zu werden, steigt, wenn man über längere Zeit bestimmten chemischen Substanzen ausgesetzt ist. Oder dass ein Arzneimittel heute schadlos eingenommen wird, eine Schädigung sich aber erst in der nächsten Generation entwickelt: Das sind die chronischen Risiken, über die wir oft sehr wenig wissen und die schwerer als die akuten zu beherrschen sind.
Die meisten chemischen Risiken lassen sich verringern, aber nicht ohne Preis, denn was den einen schadet, kann den anderen nützen.
Das Insektenvernichtungsmittel DDT und das Schlafmittel Contergan sind Beispiele hierfür.
DDT war wegen seiner guten Wirksamkeit gegen Insekten und der geringen Toxizität für Säugetiere jahrzehntelang das weltweit meistverwendete Insektizid. Doch es hat nicht nur Nutzen, sondern zugleich auch Schaden gebracht, denn wegen seiner chemischen Stabilität und guten Fettlöslichkeit reichert es sich im Gewebe von Menschen und Tieren an. Anfänglich sah man nur seinen Nutzen, für den sein Entdeckter, der Schweizer Chemiker Paul Müller, 1948 den Nobelpreis erhielt.
DDT wurde in der ganzen Welt vor allem im Kampf gegen die Malaria segensreich eingesetzt. In den 1960-er Jahren erkannte man dann in den USA, dass DDT zu lange im Wasser und im Boden verbleibt und damit die Existenz bestimmter Fisch- und Vogelarten bedroht. Rachel Carsons (1907-1964) eindringlich geschriebenes Buch "Der stum-me Frühling” trug maßgeblich dazu bei, dass DDT Anfang der 1970-er Jahre in den USA verboten wurde. Carson ist es zu verdanken, dass man sich auf die Wirkung synthetischer Pestizide auf Organismen und ökologische Systeme zu konzentrieren begann, womit erstmals nachhaltig die Aufmerksamkeit auf Umweltprobleme gelenkt wurde. Sie erhielt 1980 posthum die höchste zivile Auszeichnung der USA, die Presidential Medal of Freedom.
Kurze Zeit nach den USA wurde DDT in Sri Lanka verboten, mit dem Ergebnis, dass dort wie vor der DDT-Zeit tausende von Menschen an Malaria starben. An DDT ist nie ein Mensch gestorben, wohingegen seine Ersatzstoffe, auf die man auszuweichen gezwungen war, zu unzähligen tödlichen Vergiftungen geführt haben. Die USA konnten es sich leisten, den Bann über DDT auszusprechen, denn eine Malaria-Epidemie war nicht zu erwarten. Für das Malariagebiet Sri Lanka hingegen wirkte sich der gleiche Entschluss verhängnisvoll aus.
Der Vorabdruck von Carsons Buch in den USA 1962 fiel zufällig in den Zeitraum, in dem das ganze Ausmaß der Contergan–Katastrophe in Deutschland bekannt wurde. Francis Kelsey, eine skeptische Mitarbeiterin der Food and Drug Administration (FDA), hatte Unterlagen über die mögliche Auswirkung des Medikaments auf Föten verlangt, sie aber nicht bekommen. Gegen den massiven Druck der amerikanischen Lizenzfirma von Grünenthal gelang es ihr, die Zulassung zu verzögern und damit in den USA eine Contergan-Katastrophe zu verhindern, wofür sie von Präsident Kennedy für ihre vorbildliche Haltung geehrt wurde. Heute wird Thalidomid in den USA wieder produziert und die FDA, die sich damals unnachgiebig gezeigt hatte, hat die Substanz unter strengen Sicherheitsauflagen als Heilmittel nun zugelassen.
Thalidomid begann schon 1964 seine zweite "Karriere", nachdem durch Zufall eine besondere Eigenschaft des Wirkstoffs entdeckt wurde: seine gute Wirkung auf die ent-zündlichen Hauterscheinungen der Lepra. Thalidomid ist eine der best untersuchtes-ten Substanzen der Welt, doch bis jetzt kann kein Wissenschaftler erklären, wie es genau wirkt. Vermutlich ist die wachstumshemmende Wirkung auf Blutgefäße ein Grund für seine Wirksamkeit bei der Bekämpfung der Symptome von Lepra, AIDS und Krebs. Es scheint aber auch das Immunsystem zu stärken.
Heute ist Thalidomid in vielen Ländern der Welt zur Behandlung wichtiger Krankheiten wieder zugelassen. Aber auch DDT wird wieder eingesetzt, seit Inkrafttreten der Stockholmer Konvention im Jahr 2004 allerdings nur noch zur Bekämpfung von krank-heitsübertragenden Insekten, insbesondere den Überträgern der Malaria.
Die Geschichte von DDT und Contergan zeigt uns, dass die Erkennung eines chronischen chemischen Risikos voraussetzt, dass Zeit vergeht. Dieses Risiko kann nur im "Experiment" erkannt werden, doch dieses Experiment findet nicht im Labor, sondern an uns selbst und in unserer Umwelt statt, meist über lange Zeiträume hinweg.
Klaus Heilmann
Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" greift Heilmann Themen aus Pharmazie, Medizin und Gesellschaft aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen auf.
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