Kongresse

Reformen im Gesundheitswesen

Nicht am Patienten vorbeisteuern

Nach dem Willen der Bundesregierung soll der Arzneimittelsektor einen wesentlichen Beitrag zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen leisten. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die aktuellen Reformmaßnahmen tatsächlich dazu geeignet sind und welche Auswirkungen sie letztendlich auf Patienten und Verbraucher haben. Unter dem Titel "Steuerungsinstrumente der Arzneimittelversorgung – neue strategische Optionen?" wurde diese Problematik auf der 7. Jahrestagung "Consumer Health Care" am 26. Oktober 2007 in Berlin von namhaften Experten diskutiert.

Angesichts der Vielfalt der regulativen Elemente könne man zu der Vermutung gelangen, dass der Arzneimittelsektor überreguliert und daher möglicherweise "eine Reform der Reformen" nötig sei, betonte Frau Prof. Dr. Marion Schaefer, Charité Universitätsmedizin Berlin, in ihrer Begrüßungsansprache und Moderation. Letztendlich komme es jedoch vor allem darauf an zu analysieren, wie sich die Reformen auf die Patienten und Verbraucher auswirken.

Christian Siebert, Mitglied der EU-Kommission in Brüssel, erläuterte in seinem Referat die neuen Tendenzen, die sich gegenwärtig im europäischen Arzneimittelmarkt abzeichnen.

Grundsätzlich gehe die Entwicklungsrichtung bei neuen Medikamenten weg von den "Blockbustern" und hin zu Arzneimitteln, die auf den Patienten individuell zugeschnitten sind ("targeted medicine"). Deutlich sichtbar sei auch eine Tendenz zu teureren Medikamenten. Weiterhin werden die Distributionswege für Arzneimittel in Europa immer differenzierter, was unter anderem auch durch die zunehmende Patientenmobilität verursacht ist.

Leider habe man zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Forschungsaktivitäten der pharmazeutischen Industrie in Europa abgenommen haben, wie sich an der sinkenden Anzahl neuer Wirkstoffe zeigt. Um die europäische Wettbewerbsfähigkeit auf diesem Sektor zu stärken, haben die verantwortlichen Politiker zahlreiche Maßnahmen ergriffen. So wurden Gebührensenkungen bei der europäischen Zulassungsbehörde EMEA vorgenommen und Gesetze erlassen, die speziellen Arzneimittelgruppen den Marktzugang erleichtern sollen. Als Beispiele nannte Siebert die "Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden" (Orphan Drugs) aus dem Jahre 2000 und die 2007 erlassene "Verordnung für kindgerechte Arzneimittel".

Das Arzneimittel-Forum der EU

Mit dem primären Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Pharmaindustrie zu stärken, hat sich 2005 in Brüssel das Arzneimittel-Forum der EU ("Pharmaceutical Forum") gegründet, berichtete Siebert. Ihm gehören die Gesundheitsminister aller 27 EU-Mitgliedstaaten an, geleitet wird es von den beiden EU-Kommissaren Verheugen und Kyprianou. Die drei Arbeitsgruppen des Forums bearbeiten folgende strategischen Themen:

  • relative Effektivität/verhältnismäßige Wirksamkeit,
  • Preisermittlung und Erstattung,
  • Patienteninformation.

Damit widmet sich das Forum auch einem aus Patientensicht sehr wichtigen Thema, nämlich der Verbesserung der Informationen über Arzneimittel. Nach Sieberts Ansicht besteht das Hauptproblem dabei vor allem darin, dass es zwar einerseits sehr viele Informationen gibt, aber andererseits die Zugangsmöglichkeiten für Patienten sehr unterschiedlich sind. Das Forum will hier versuchen, Verbesserungen zu erreichen, erste Ergebnisse werden für 2008 erwartet.

Bundesregierung hält am Fremdbesitzverbot fest

Hans-Uwe Timm vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) stellte einige aktuelle Veränderungen im Arzneimittelmarkt sowie die Position seines Ministeriums dazu dar. So halte beispielsweise das BMG weiterhin am Fremdbesitzverbot für Apotheken in Deutschland fest und habe dies auch in einer Stellungnahme für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ohne Einschränkungen verteidigt. Mit Spannung werde nun die anstehende Entscheidung des EuGH erwartet, die klären muss, ob das deutsche Apothekenrecht in diesem Falle europäischem Recht entspricht und welches Recht anzuwenden wäre, wenn dies nicht der Fall ist.

Eine von vielen für den Gesundheitsmarkt in Deutschland relevanten EU-Entscheidungen ist die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen. Abgeschlossene Ausbildungen in den Heilberufen (Arzt, Apotheker, Physiotherapeut und Pflegeberufe) werden demnach in allen EU-Staaten gegenseitig anerkannt. Der Bundesrat hat dem Gesetz zur Umsetzung dieser EU-Richtlinie erst kürzlich, nämlich im Oktober dieses Jahres, zugestimmt.

Apotheken müssen Rabattverträge ausbaden

Wilhelm Hollenhorst von der Amedicon GmbH in Bonn legte dar, dass der Ausgabenanstieg im GKV-Arzneimittelmarkt ungebrochen ist, obwohl die Zahl der Verordnungen deutlich abgenommen hat, wie der jüngst veröffentlichte Arzneiverordnungs-Report 2007 zeigt. Dies verwundere jedoch nicht, wenn man die Kosten pro Verordnung betrachtet. Im Jahr 1991 lagen sie bei 15 Euro, im Jahr 2006 waren sie auf 42 Euro angestiegen.

Zu den Rabattverträgen äußerte Hollenhorst nicht nur, dass sie zu einer grundsätzlichen Umstellung der Abläufe in der Apotheke geführt haben, sondern er ging in seiner Einschätzung noch einen Schritt weiter: "Die einzigen, die das ausbaden mussten, sind die Apotheken."

Szenarien: Wenn das Fremdbesitzverbot fällt …

Hollenhorst brachte außerdem die Befürchtung zum Ausdruck, dass die Aufhebung des Fremdbesitzverbotes für Apotheken die Arzneimittelversorgung "in der Fläche" gefährden könnte, da die Kapitalgesellschaften attraktive Standorte bevorzugen würden.

Auch Prof. Hilko Meyer von der Fachhochschule für Wirtschaft und Recht, Frankfurt am Main, ging auf die möglichen Auswirkungen ein, falls das Fremdbesitzverbot fällt. Während es beispielsweise in England gesetzliche Bestimmungen zur Begrenzung der Zahl der Kapitalgesellschaften im Apothekenmarkt gibt, sei die Situation in Deutschland wegen der Zulassungsfreiheit anders: "Wenn in Deutschland Kapitalgesellschaften auf den Markt kommen, könnte an jeder Ecke eine Apotheke aufmachen".

Falls der EuGH das Fremdbesitzverbot für gemeinschaftsrechtswidrig erklären würde, wäre dieses jedoch nicht sofort nichtig, erläuterte Meyer weiter. Denn die Bundesregierung hält ein subjektives Recht auf sofortige Zulassung von Kapitalgesellschaften auch in diesem Fall für ausgeschlossen und hat bereits vorsorglich eine Übergangsfrist für die gesetzliche Regulierung beantragt.

Ethische Fragen der Reformen

Prof. Dr. mult. Dominik Groß vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Aachen betrachtete die Thematik der Tagung aus medizinethischer Sicht. Das grundsätzliche ethische Dilemma im Gesundheitssystem sei, so Groß, dass wir gezwungen sind, menschliches Leben unter finanziellen Gesichtspunkten zu betrachten, obwohl es eigentlich unbezahlbar ist. Wenn Gesundheitsausgaben dennoch begrenzt werden müssen, seien grundsätzlich die drei Strategien

  • Rationalisierung,
  • Rationierung und
  • Priorisierung

möglich. Gegenwärtig vollzieht sich seiner Ansicht nach in Deutschland ein Paradigmenwechsel von der Rationalisierung ("Was können wir tun, um uns weiterhin alles leisten zu können?") zur Rationierung und Priorisierung ("Welches Gesundheitssystem können und wollen wir uns zu welchem Preis leisten?"). Dabei müsse die Gesellschaft jedoch genau überlegen, welche Kriterien sie für gerecht hält. Vor einer Rationierungsmaßnahme müsse immer die Prioritätensetzung stehen, wobei Prioritäten auch veränderlich sein können, erläuterte Groß. Er brachte die Überzeugung zum Ausdruck, dass die damit verbundenen Reformen im Gesundheitswesen das Arzt-Patienten-Verhältnis stark verändern werden. Seiner Ansicht nach ist es notwendig, diese Veränderungen so zu gestalten, dass sich der Patient nicht fühlen muss "wie ein Zwerg unter vielen Riesen".

Rabattverträge: weniger Beratung, höhere Kosten

Dr. Christian Belgardt, Präsident der Apothekerkammer Berlin, wies vor allem auf die erheblichen negativen Auswirkungen der Rabattverträge auf die Apotheken hin. Neben den gestiegenen Kosten für die damit verbundene Logistik und Lagerhaltung leide auch die Beratung der Patienten. So komme es

  • zu einem erhöhten Beratungsaufwand ohne gesundheitlichen Nutzen für den Patienten,
  • zu einer Verknappung der Zeit für pharmazeutische Qualitätsleistungen,
  • und wahrscheinlich zu negativen Auswirkungen auf die Therapietreue der Patienten.

Nach Belgardts Schätzung sind durch die Rabattverträge pro Arzneimittel zwischen 0,5 und 1,5 min zeitlicher Mehraufwand nötig – durch die Feststellung und Auswahl der Rabattmedikamente, die Verfügbarkeitsprüfung und die Information der Patienten. Bei einem Rabattarzneimittel-Anteil von 20 Prozent könnte dies nach seiner Schätzung in Deutschlands Apotheken zu einer Steigerung der Opportunitätskosten beim pharmazeutischen Personal zwischen 28 und 105 Millionen Euro führen.

Gesundheitsreform entmündigt die Patienten

Wolfram A. Candidus von der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten in Heppenheim beklagte in seinem Vortrag vor allem die negativen Auswirkungen der Gesundheitsreform auf die Patienten. Konkret komme es

  • zu einer weiteren Entmündigung der Versicherten und Patienten,
  • zu einer höheren Beitragsbelastung,
  • zu mehr Zuzahlung,
  • zu Einschränkungen bei den Arzneimitteln,
  • zur Einschränkung der freien Arztwahl und der freien Entscheidung, ob eine ambulante oder stationäre Behandlung in Anspruch genommen wird.

Um diese Auswirkungen abzufangen, müsse es gemeinsame Aktionen von Berufsverbänden, Institutionen und Patienten geben, so Candidus. Er empfahl, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten und diese "von unten nach oben" und nicht umgekehrt durchzusetzen.

Wechselwirkungen der Steuerungsinstrumente

Matthias Diessel, Absolvent des Masterstudienganges Consumer Health Care (s. Kasten), konstatierte, dass es in den vergangenen 30 Jahren 15 Gesundheitsreformen gegeben hat. Gegenwärtig existieren allein 24 verschiedene Steuerungsinstrumente im Gesundheitssektor, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen, was zwangsläufig auch zu Wechselwirkungen führt. Die Wirkrichtung der einzelnen Instrumente sei nicht immer eindeutig, da auch indirekte bzw. Nachfolgeeffekte auftreten. So wird die Richtgrößenregelung bei den Ärzten durch Ausnahmeregelungen unterhöhlt, weil zum Beispiel Kosten für rabattierte Arzneimittel aus dem Budget herausgerechnet werden.

Dringend notwendig wäre eine Evaluierung der verschiedenen Steuerungsinstrumente, die jedoch gegenwärtig praktisch kaum stattfindet, bedauerte Diessel.

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

Quelle:

Prof. Dr. Marion Schaefer, Berlin, Christian Siebert, Brüssel, Hans-Uwe Timm, Berlin, Wilhelm Hollenhorst, Bonn, Prof. Hilko Meyer, Frankfurt am Main, Prof. Dr. mult. Dominik Groß, Aachen, Dr. Christian Belgardt, Berlin, Wolfram Armin Candidus, Heppenheim, Matthias Diessel, Berlin: "Steuerungsinstrumente der Arzneimittelversorgung – neue strategische Optionen?". Referate auf der 7. Jahrestagung "Consumer Health Care", veranstaltet von der Charité Universitätsmedizin Berlin und dem Verein Consumer Health Care e.V. am 26. Oktober 2007 in Berlin.

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