Feuilleton

Ethnopharmakologie der Kanaren

Sangre de Drago und Orobal*

Die geographische Besonderheit der Kanarischen Inseln hat immer wieder die Neugierde und das Interesse einer Vielzahl von Naturkundlern geweckt. In der Übergangszone zwischen Subtropen und gemäßigten Breiten hat die isolierte Insellage in Verbindung mit einem sehr milden Klima, dem "ewigen Frühling", und teilweise sehr fruchtbarem Boden zu einer einzigartigen Pflanzenwelt geführt. Einige dieser Pflanzen sind oder waren für die dortige Volksmedizin von Bedeutung.

Etwa 1800 verschiedene Pflanzenarten sollen auf den Kanaren heimisch sein, wobei geschätzt wird, dass etwa 45 % davon endemisch sind, d. h. dort ausschließlich vorkommen. Offensichtlich ist sehr viel Wissen zum Gebrauch dieser Pflanzen in der Volksmedizin der kanarischen Bevölkerung verlorengegangen, auch hat der Gebrauch bestimmter Arten wohl sehr begrenzt stattgefunden; dennoch haben die Arbeiten von Bramwell sowie Darias und Mitarbeitern von der Universität La Laguna auf Teneriffa dazu beigetragen, dass eine Fülle von Daten zur spezifischen Anwendung einer Vielzahl von Pflanzen in der Phytotherapie vorliegt [1–3].

Das "botanische Wahrzeichen" Teneriffas und eine Touristenattraktion ist der Drachenbaum (Dracaena draco (L.) L., Agavaceae) von Icod. Obwohl überall auf den Kanaren Drachenbäume kultiviert werden, findet man nur wenige wildwachsende Exemplare auf La Palma, Gran Canaria, La Gomera und eben Teneriffa. Bei Verletzungen des Stammes tritt ein zunächst farbloser Saft aus, der dann an der Luft zu einem dunkelroten Harz gerinnt. Die Ureinwohner der Kanarischen Inseln, die Guanchen, benutzten dieses Harz, das auch "Drachenblut" (Sangre de Drago, Sanguis draconis) genannt wird, zur Heilung von Knochenbrüchen, aber auch, um ihre Toten zu mumifizieren. Als alkoholische Tinktur wurde es traditionell zur Behandlung von Husten und als Adstringens verwendet [4]. Es soll speziell bei Gingivitis eingesetzt worden sein. Umstritten ist sein Gebrauch als Tonikum. Das Harz enthält Chromone, Flavonoide und das Steroidsaponin Dracogenin. Heute wird es gelegentlich als Färbemittel in der Kosmetik oder zur Herstellung von Lacken und Beizen verwendet.

Strauchmargerite

Eine auch bei uns beliebte Kübelpflanze ist die Strauchmargerite (Argyranthemum frutescens (L.) Schultz Bip., Asteraceae). Auf den Kanarischen Inseln kommen verschiedene Arten vor, die in der Volksmedizin bei Infektionen des Mund- und Rachenraumes, aber auch bei Zahnschmerzen verwendet wurden ("Magarza"). Eine neuere Studie zeigte eine deutliche antimikrobielle Aktivität von methanolischen Extrakten verschiedener Argyranthemum -Arten; darüber hinaus konnte in vitro eine Antimalaria-Aktivität sowie eine antikanzerogene Wirkung bei bestimmten Krebszelllinien nachgewiesen werden [5].

Lindley-Hauswurz

Der Saft der Lindley-Hauswurz Aeonium lindleyi Webb & Berth. ("Gomereta"; Crassulaceae) wirkt als Antidot gegen sukkulente Euphorbiaceen, deren giftiger Latexsaft Hautwunden verursachen kann [6]. Auch bei Hämorrhoiden sollen diese und verwandte Arten Anwendung gefunden haben.

Johanniskraut

Auf den Kanarischen Inseln kommen mindestens drei endemische Johanniskraut-Arten vor (Hypericum canariense L., H. inodorum Miller, H. reflexum L. fil.; Hypericaceae), die ähnlich wie H. perforatum L. als Sedativum und Tranquilizer eingesetzt wurden. Auch sollen Tinkturen zur Schmerzlinderung und Wundheilung nach Verletzungen verwendet worden sein. In Tierversuchen (Injektion der Extrakte) wurde die antidepressive Wirkung der endemischen Arten bestätigt [7, 8].

Justicia

Zu den Bärenklaugewächsen (Acanthaceae) zählt Justicia hyssopifolia L. Verschiedene Vertreter dieser überwiegend in den Tropen vorkommenden Familie wurden als Heilpflanzen verwendet. "Matrapieta", wie J. hyssopifolia auf den Kanaren genannt wird, enthält verschiedene Lignan-Derivate (Justicidon, Elenosid). Von ihnen ist Elenosid wegen seiner Zytotoxizität und neuropharmakologischen Aktivität in den letzten Jahren intensiver untersucht worden [9].

"Kanarischer Ginseng"

"Orobal" (Withania aristata (Ait.) Pers., Solanaceae) wird als "Kanarischer Ginseng” bezeichnet, weil seine oberirdischen Teile als Tonikum und Immunmodulator bei allgemeiner körperlicher und speziell bei sexueller Schwäche eingesetzt werden. Weitere Anwendungen sind: Arthritis, Arthrose, Hexenschuss und andere rheumatischen Beschwerden, Otitis und Augenleiden, nervöse Erschöpfungszustände, Stress und Schlafstörungen, ja sogar Diabetes. Die ihm nachgesagte diuretische Wirkung konnte im Tierversuch bestätigt werden.

Ethnopharmakologische Besonderheiten

Etwa 350 verschiedene Pflanzenarten wurden auf den Kanarischen Inseln volksmedizinisch verwendet [2, 3]. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um endemische Arten, sondern auch um viele eingeführte Arten, deren Anwendungsgebiete übernommen wurden. Interessant bleiben jedoch einige nur auf den Kanaren vorkommende Arten mit speziellen Anwendungen, die bislang kaum untersucht wurden, z. B. die Kanarenraute (Ruta pinnata L. f., Rutaceae) und "Barullo" (Sideritis nutans Svent., Lamiaceae), die bei Alopezie bzw. bei Migräne verwendet wurden. Sicherlich wird die Untersuchung der auf den Kanarischen Inseln endemischen Pflanzenarten in der Zukunft noch manch interessanten Befund ergeben.

Literatur

[1] Bramwell, D.: Medicinal Plants of the Canary Islands. Editorial Rueda S L., Madrid 2004.

[2] Darias, V., et al.: Contribution to the ethnopharmacological study of the Canary Islands. J. Ethnopharmacol. 15, 169-193 (1986).

[3] Darias, V., et al.: New contribution to the ethnopharmacological study of the Canary Islands. J. Ethnopharmacol. 25, 77-92 (1989).

[4] Bruck, M.: Das Drachenblut. Ein Einblick in die Geschichte der Pharmakognosie. Bull. Soc. Sci. Med. Grand Duche Luxemb. 1, 96-101 (1999).

[5] Badisa, R.B., et al.: Pharmacological activities of some Argyranthemum species growing in the Canary Islands. Phytother. Res. 18, 763-767 (2004).

[6] Lisch, K.: Die Wirkung des Milchsafts von Euphorbiazeen auf das Auge. Klin. Monatsbl. Augenheilkd. 176 , 469-471 (1980).

[7] Sánchez-Mateo, C.C., et al.: Antidepressant effects of the methanol extracts of several Hypericum species from the Canary Islands. J. Ethnopharmacol. 79, 119-127 (2002).

[8] Prado, P., et al.: Evaluation of the central properties of several Hypericum species from the Canary Islands. Phytother. Res. 16, 740-744 (2002) .

[9] Navarro, E., et al.: Elenoside, a new cytotoxic drug, with cardiac and extracardiac activity. Biol. Pharm. Bull. 25, 1013-1017 (2002).

[10] Martin-Herrera, D., et al.: Diuretic activity of Withania aristata: An endemic Canary Island species. J. Ethnopharmacol. 113, 487-491 (2007).

[11] Schmidt, H.: Pflanzen auf Teneriffa. Ein naturkundlicher Führer. Marburg 1992.

Für die Verfasser:

Dr. Hans-Peter Hanssen Institut für Pharmazie Bundesstr. 45, 20146 Hamburg hans-peter.hanssen@hamburg.de

Prof. Dr. Jens Rohwer Biozentrum Klein Flottbek Ohnhorststr. 28, 22609 Hamburg rohwer@botanik.uni-hamburg.de
Botanischer Garten und Nationalpark
Der Botanische Garten in Puerto de la Cruz auf Teneriffa wurde im Jahre 1788 auf Anordnung von König Carlos III. angelegt und beherbergt auf einer Fläche von etwa 40.000 m2 vor allem südamerikanische und kanarische Pflanzen. In den kommenden Jahren soll er noch deutlich erweitert werden. Schmuckstück ist eine mehr als 200 Jahre alte Würgerfeige (Ficus macrophylla ssp. columnalis Desf. ex Pers., Moraceae), die ursprünglich von der Ostküste Australiens stammt.
Im Teide-Nationalpark, der sich auf einer Hochebene um den Pico de Teide, den höchsten Berg der Kanaren (und Spaniens; 3718 m), zieht, kommen fast 170 Pflanzenarten vor, von denen 58 endemisch sind.
* Die Autoren Dr. Hans-Peter Hanssen, Dr. Angelika Koch, Rita Richter und Prof. Dr. Jens Rohwer widmen diesen Beitrag Herrn Prof. Dr. Ewald Sprecher, Hamburg, zum 85. Geburtstag. Den herzlichen Glückwünschen schließen sich Prof. Dr. P. Heisig, Prof. Dr. Elisabeth Stahl-Biskup, Sabine Badziong, Dr. Friedrich-Karl Marcus und Dr. Wolf-Gerald Koch an.

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