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Scheele-Tagung
Herz und Kreislauf – Risiken für die Gesundheit
Priv.-Doz. Dr. Thomas Jira, Greifswald, Vorsitzender der Scheele-Gesellschaft, betonte die große Bedeutung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zugleich verwies er auf die große symbolische Bedeutung des Herzens, das früher als Sitz der Seele und des Bewusstseins angesehen wurde. Heute besteht kein Zweifel, dass das Gehirn der Sitz der Persönlichkeit ist; das Herz wurde zu einem Muskel degradiert, der repariert und transplantiert werden kann. Nicht der Herztod, sondern der Hirntod gilt als Kriterium für das Lebensende.
Prof. Dr. Hubert Speidel, Kiel, erinnerte an die herausragende Bedeutung des Herzens in der Literatur – als "Joker der deutschen Dichtung", wie es der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ausdrückte. Doch auch in der Medizin gebe es zahlreiche Belege, wonach Menschen "an gebrochenem Herzen" sterben können, denn bei Menschen mit Problemen in sozialen Beziehungen wurden in epidemiologischen Studien Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermehrt beobachtet. Als soziale Risikofaktoren für Herzinfarkte wurden Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, übersteigerte Verausgabungsbereitschaft, Partnerschaftskonflikte, große berufliche Anforderungen, hohe Verausgabung bei niedriger Belohnung und die Zugehörigkeit zu einer unteren Sozialschicht ermittelt.
Depressionen und Stress können zu messbaren physiologischen Veränderungen wie einem erhöhten Cortisolspiegel (Hypercortisolämie) führen und so das metabolische Syndrom begünstigen. Etwa jeder fünfte Herzinfarkt wird auf Stress zurückgeführt.
Schlüsselfaktor Bluthochdruck
Als messbarer Risikofaktor für einen Herzinfarkt hat hoher Blutdruck eine wesentliche Bedeutung. Wie die Blutdruckregulation funktioniert, erläuterte Prof. Dr. Rainer Rettig, Greifswald. Kurzfristig wird der Blutdruck über arterielle Barorezeptoren gesteuert. Über Zeiträume in der Größenordnung von Stunden wird der Blutdruck zusätzlich sehr effektiv durch das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) beeinflusst. Obwohl die primäre Ursache für Bluthochdruck nur selten im RAAS zu finden ist, setzen hier die meisten Arzneistoffe zur Blutdruckregulation an.
Langfristig wird der Blutdruck wesentlich von der Ausscheidungsfunktion der Nieren beeinflusst, die im höheren Lebensalter nachlässt; der daraus resultierende Blutdruckanstieg korreliert oft mit einem zu hohen Kochsalzverzehr, wobei die genetische Prädisposition eine große Rolle spielt. Bisher konnten nur sehr selten solche monogenetisch bedingten Störungen der Blutdruckregulation aufgeklärt werden, während die multigenetischen Einflüsse weiterhin unklar sind.
Ansätze für innovative Arzneimittel
Prof. Dr. Thomas Unger, Berlin, zeichnete die Entwicklung der Antihypertensiva nach. Für einige Arzneistoffgruppen wie die ACE-Hemmer sind im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neue Indikationen gefunden worden. Solche Erkenntnisse ergeben sich meist aus kontrollierten Studien mit unterschiedlichen Substanzen derselben Klasse; dies unterstreicht den Nutzen von Molekülvariationen, weshalb die Derivate des zuerst zugelassenen Vertreters einer Arzneistoffklasse nicht einfach als "Me-toos" abgetan werden sollten.
Zu den neuesten etablierten Antihypertensiva zählen die AT1 -Antagonisten oder Sartane, die sich bisher durch eine sehr gute Verträglichkeit auch in hohen Dosierungen auszeichnen. Die besten protektiven Effekte für Herz und Nieren werden mit höheren Dosierungen erreicht, als sie für eine angemessene Blutdrucksenkung erforderlich sind. Für eine langfristige präventive Medikation ist die Verträglichkeit enorm wichtig, um die Compliance zu sichern. Daher sind Diuretika – entgegen dem Vorbericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG (s. u.) – nach Meinung von Unger für die langfristige Prävention nicht praktikabel.
Als mögliche Medikamente von morgen nannte Unger Moleküle, die die antihypertensiven Effekte von Sartanen mit den antidiabetischen Wirkungen von Glitazonen verbinden.
Aliskiren ist der erste zugelassene direkte Renin-Inhibitor. Dieses nach langen Versuchen erstmals erfolgreich umgesetzte antihypertensive Wirkprinzip hat den Vorteil, dass es die Kaskade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems ganz am Anfang blockiert (s. Grafik).
Allerdings bildet der Körper bei der Hemmung des Renins aufgrund einer negativen Rückkopplung noch mehr Renin; ob dies unerwünschte Folgen hat, muss noch weiter erforscht werden.
In Ungers Arbeitsgruppe wird nach einem Reninrezeptorblocker gesucht, der nicht zur Blutdrucksenkung, sondern zur Vermeidung von Endorganschäden dienen soll. Ein weiterer interessanter Ansatz für die Forschung ist ein AT2 -Rezeptor-Agonist, der als Vasodilatator wirkt.
Pflanzliche Arzneimittel
Im Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden nicht nur innovative Synthetika, sondern auch bekannte Phytopharmaka eingesetzt. Für die Prävention stehen einige Phytopharmaka mit nachgewiesener Wirksamkeit zur Verfügung, erklärte Prof. Dr. Matthias Melzig, Berlin. Extrakte aus Artischockenblättern senken nachgewiesenermaßen erhöhte Lipidspiegel und Blutdruckspitzen, sodass sie bei genetischer Disposition für diese Anomalien zur Prävention geeignet sind. Die Wirkung von Knoblauch wurde in Tausenden In-vitro-Studien mit positiven Ergebnissen untersucht. Eine Metaanalyse der relativ wenigen In-vivo-Untersuchungen spricht für eine geringgradige Wirksamkeit. Auch Ginkgo ist aufgrund einer Metaanalyse zur Vorbeugung gegen Schlaganfälle geeignet.
Die regelmäßige Einnahme von Perillaöl (aus den Früchten von Perilla frutescens , Schwarznessel), das in Nahrungsergänzungsmitteln enthalten ist, beugt Entgleisungen des Lipidstoffwechsels vor, wie Verzehrsbeobachtungen gezeigt haben. Die in Europa noch wenig bekannte nordamerikanische Apfelbeere (Aronia melanocarpa) könnte ebenfalls künftig als Nahrungsergänzungsmittel Bedeutung erlangen; der Fruchtextrakt ist aber nur dann wirksam, wenn er mindestens 25 Prozent oligomere Procyanidine enthält.
Den Anforderungen an eine zeitgemäße Therapie werden nach Meinung von Melzig nur wenige Phytopharmaka gerecht. Eingestellter Weißdornextrakt hat sich in einer Metaanalyse als signifikant wirksam bei beginnender Herzinsuffizienz erwiesen. Extrakte von Adoniskraut, Maiglöckchen und Meerzwiebel – jeweils als Monopräparat – sind wegen ihrer geringen therapeutischen Breite problematisch; dagegen zeichnet sich ein Fertigarzneimittel, das die drei Extrakte und Oleanderblattextrakt miteinander kombiniert (Miroton®), durch eine relativ große therapeutische Breite aus und hat die Nachzulassung erhalten.
Verwirrende Interaktionen
Wie bei jeder Arzneitherapie drohen auch bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen Wechselwirkungen. Wie schwer diese vorherzusagen sind, verdeutlichte Prof. Dr. Heyo Kroemer, Greifswald. Denn pharmakokinetische Interaktionen können bei der Aufnahme, der Metabolisierung und der Elimination des Arzneistoffes auftreten; hinzu kommen mögliche pharmakodynamische Effekte.
Das Augenmerk hinsichtlich der Wechselwirkungen konzentriert sich oft auf die Metabolisierung, weil die Konkurrenz um einzelne Cytochrom-P450-Isoenzyme und die Blockierung einzelner CYP-Isoenzyme für viele Interaktionen verantwortlich sind. Da strukturverwandte Arzneistoffe derselben Stoffklasse oft über unterschiedliche Isoenzyme verstoffwechselt werden, können sie zu ganz unterschiedlichen Wechselwirkungen führen. Daher müssen Patienten, die auf einen solchen Arzneistoff umgestellt werden, individuell ebenso sorgfältig überwacht werden, als wenn sie den Vertreter eines ganz neuen Therapieprinzips erhalten würden.
Auch die Konkurrenz um Transportproteine (z. B. P-Glykoprotein, Pgp) kann zu erheblichen Wechselwirkungen führen. Das gleichzeitige Auftreten von Effekten des CYP-Systems und des Pgp ist die Ursache für die verhängnisvolle Interaktion von Cerivastatin und Gemfibrocil gewesen.
Talindolol und Digoxin sind ein Beispiel für eine relevante Wechselwirkung bei der Elimination eines Arzneistoffs. Talindolol blockiert eine "Eliminationspumpe" des Digoxins, sodass dessen Konzentration bei gleichzeitiger Einnahme mit Talindolol erheblich steigen kann.
Galenik ist entscheidend
Am Beispiel der Calciumantagonisten veranschaulichte Prof. Dr. Henning Blume, Oberursel, wie bedeutend pharmazeutisch-technologische Aspekte und die Arzneimittelqualität für die Wirksamkeit von Antihypertensiva sind. Die Wirksamkeit sollte kalkulierbar und reproduzierbar sein und durch die Einnahme von Mahlzeiten möglichst nicht beeinflusst werden. Der antihypertensive Effekt von Nifedipin und anderen Pharmaka hängt wesentlich von der Anflutungsgeschwindigkeit ab. Bei sehr schneller Anflutung wird über Barorezeptoren, die den Blutdruckabfall messen, eine Reflextachykardie vermittelt, die die blutdrucksenkende Wirkung vollständig kompensieren kann. Deshalb ist eine verzögerte Freisetzung des Arzneistoffs notwendig.
Ob die Retardierung auch bei der Nahrungsaufnahme gelingt, hängt vom technologischen Konzept ab. Während ein OROS-System mit einer semipermeablen Membran den Arzneistoff weitgehend unabhängig vom pH-Wert freisetzt (der bei vollem Magen anders ist als bei leerem Magen), soll eine in den Niederlanden erhältliche Matrix-Tablette zu bis zu dreifach höheren Wirkstoffkonzentrationen führen, wenn sie nach einer Mahlzeit geschluckt wird.
Zu hohe Wirkstoffkonzentrationen treten auch dann auf, wenn sich eine Tablette im Magen aufgelöst hat und die Lösung innerhalb kurzer Zeit mit einer Mahlzeit in den Darm transportiert wird; trotz der Retardierung wird in einem solchen Fall die ganze Dosis auf einmal resorbiert. Demnach ist das Verhalten von Retardzubereitungen nach dem Essen ein besonders wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Austauschbarkeit wirkstoffgleicher Präparate.
Als allgemeines Fazit folgerte Blume, neben der formalen Bioäquivalenz auch die Austauschbarkeit in der Praxis zu beachten. Entsprechend der diesbezüglichen DPhG-Leitlinie und den in Südafrika gelten Regelungen sollte in folgenden Fällen nicht substituiert werden:
•bei Arzneistoffen mit enger therapeutischer Breite,
•bei Arzneiformen mit problematischer Bioverfügbarkeit und
•bei besonders schwer kranken Patienten.
Praxisorientierte Bewertung
Für die Hypertonie als multifaktorielles Geschehen ist es besonders schwer, den Effekt einzelner Risikofaktoren in epidemiologischen Studien zu ermitteln, erklärte Prof. Dr. Marion Schaefer, Berlin. So ist der Einfluss der Apnö relativ schlecht untersucht. Gut bekannt sind hingegen die Wechselwirkungen der Antihypertensiva mit anderen Arzneistoffen, insbesondere mit Antirheumatika. Wegen möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist insbesondere in der Einstellungsphase auf die Compliance der Patienten zu achten. Besonders problematisch ist die Compliance bei der Therapie mit Diuretika. Die positive Bewertung der Diuretika, die das IQWiG in seinem Vorbericht zur Bewertung der antihypertensiven Therapie gegeben hat, sei daher fragwürdig; sie kam dadurch zustande, dass allein klinische Studien mit hoher interner Validität ausgewertet wurden, doch bilden diese Studien nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit ab. Um möglichst praxisnahe Aussagen zu gewinnen, sollten nach Meinung von Schaefer pharmakoepidemiologische Daten genutzt werden.
Um mehr pharmakoepidemiologische Daten zu gewinnen, sollten Apotheker bei der pharmazeutischen Betreuung künftig nicht nur die Medikation dokumentieren, sondern auch den Nutzen der Medikation (Outcome-Daten). Beispielsweise könnten einfache Fragebögen zur Ermittlung der Lebensqualität in die Apothekensoftware integriert werden.
Die Hoffnungen auf solche Therapien sind so groß, weil embryonale Stammzellen – es handelt sich um Zellen der Blastozyste, eines sehr frühen Stadiums des Embryos – pluripotent sind; das heißt, dass sich aus ihnen alle Zelltypen entwickeln können. Die Vorstellungen gehen dahin, dass in vitro gezüchtete Organzellen einem Patienten mit dem jeweiligen Organschaden transplantiert werden. Mit Hilfe solcher Zellen könnte
•das funktionsunfähige Gewebe nach einem Herzinfarkt oder bei Herzinsuffizienz ersetzt werden,
•die Bauchspeicheldrüse von Typ-1-Diabetikern wieder Insulin produzieren,
•im Hirn von Parkinson-Patienten der Dopaminspiegel steigen,
•das Rückenmark von Querschnittgelähmten wieder funktionsfähig werden,
•Knorpel und Haut für Transplantationen kurzfristig zur Verfügung stehen.
Besonders interessant erscheint die Kombination von Stammzell- und Gentherapie, also die Therapie mit genetisch veränderten Stammzellen.
Hescheler veranschaulichte die Zelldifferenzierung und Organbildung in vitro am Beispiel von Herzmuskelzellen. Er zeigte Aufnahmen schlagender Herzareale in Zellkulturen, die bereits Ansätze von Blutgefäßen aufweisen. Solche Zellen haben bei Mäusen, denen sie nach einem Herzinfarkt transplantiert wurden, die Funktion der geschädigten Bereiche übernommen, sodass diese Mäuse hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und Lebenserwartung gesunden Tieren entsprachen.
Hescheler machte aber auch deutlich, dass therapeutische Nutzanwendungen erst in 15 bis 20 Jahren denkbar erscheinen, weil die komplexen Differenzierungsprozesse der Zellen noch größtenteils unklar sind. Es werde jetzt begonnen, die Signaltransduktionswege bei der Differenzierung und Proliferation aufzuklären, die künftig auch Ansatzpunkte ("targets") neuer Arzneistoffe werden könnten. Viele Drogen der traditionellen chinesischen Medizin haben eine stärkere Affinität zu diesen Zielstrukturen gezeigt als moderne synthetische Arzneistoffe.
Schneller als in der Therapie könnte die Stammzelltechnologie in der Diagnostik, beim pharmakologischen Screening neuer Wirkstoffe und bei toxikologischen Untersuchungen zu Nutzanwendungen führen.
Was ist menschliches Leben?
Aufgrund des Stammzellgesetzes ist es in Deutschland verboten, aus Blastozysten Stammzellen zu gewinnen und für die wissenschaftliche Forschung zu verwenden, weil dies die Menschenwürde verletzt (es darf nur an Stammzellen aus etablierten Stammzelllinien geforscht werden). Hescheler sieht die Gefahr, dass Deutschland sich damit von der internationalen Entwicklung abkoppelt. Er gab zu bedenken, dass bei Abtreibungen, die der Staat toleriert, weitaus ältere Embryonen vernichtet werden. Außerdem gebe es mehrere einander widersprechende Definitionen, wann das Leben beginnt und endet.
Aus Sicht der Biologie sind die Umweltbedingungen für die Entwicklung von differenziertem Leben wichtiger als das bloße Vorhandensein von DNA. Die DNA eines Individuums kann auch Tausende von Jahren nach seinem Tod noch vorhanden sein. Eine befruchtete Eizelle kann sich in unterschiedlichster Weise entwickeln; erst durch ihre Einnistung im Uterus wird bestimmt, welche Gene abgelesen werden. Wenn aber diese Einnistung entscheidend für die Entwicklung zum Menschen ist, sei eine Blastozyste noch nicht als Mensch anzusehen. Die Gesellschaft sei aufgefordert, sich dieser Definitionsfrage zu stellen.
Hoffnungen und offene Fragen
- Jeder fünfte Herzinfarkt wird auf Stress zurückgeführt.
- AT1 -Antagonisten wirken besonders in hohen Dosierungen vielseitig protektiv und gelten als sehr gut verträglich.
- Phytopharmaka aus Artischockenblättern, Knoblauch und Ginkgo kommen zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Betracht.
- Strukturverwandte Substanzen können über verschiedene Isoenzyme verstoffwechselt werden und daher völlig andere Interaktionen auslösen.
- Die Anflutungsgeschwindigkeit ist eine kritische Größe für die Wirksamkeit von Antihypertensiva; eine zu schnelle Anflutung kann eine Reflextachykardie auslösen, die den blutdrucksenkenden Effekt zunichte macht.
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