Fortbildung

Pädiatrie

Priv.-Doz. Dr. Susanne Polywka

Kinder: Stiefkinder der Arzneitherapie?

Die Unzulänglichkeiten der Arzneitherapie von Kindern sind seit Langem ein Thema. Nach vielen Diskussionen hat sich auf diesem Gebiet endlich etwas getan: Am 26. Januar ist die EU-Verordnung zur Zulassung von Arzneimitteln zum Gebrauch bei Kindern in Kraft getreten. Über die erhofften Impulse für die Forschung hat die DAZ bereits berichtet (Nr. 5, S. 50 bis 60). In einem Seminar der DPhG-Landesgruppe und der Apothekerkammer Hamburg wurden weitere wichtige Aspekte für die Praxis vorgestellt. Etwa 150 Teilnehmer informierten sich auf dieser Fortbildungsveranstaltung am 24. Februar über aktuelle Aspekte der Arzneitherapie bei Kindern.

Um die Brisanz des Themas "Arzneitherapie von Kindern" zu verdeutlichen, wies der Pädiater Dr. Martin Hulpke-Wette, Göttingen, darauf hin, dass die meisten gängigen Dosierungsangaben für Kinder unter sechs Jahren einer wissenschaftlichen Grundlage entbehren und nur aus Umrechnungen ermittelt wurden. Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen, sondern unterscheiden sich in vielen physiologischen Aspekten von ihnen; zudem unterscheiden sich auch Kinder verschiedener Altersgruppen voneinander. Dies zeigen die großen Veränderungen der Anteile der Organe an der Gesamtmasse des Körpers und die abnehmenden Wasser- und zunehmenden Fettanteile vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen.

Aufgrund der eingeschränkten Funktion der Blut-Hirn-Schranke bei Neugeborenen wirken Psychopharmaka und Opiate anders als bei Erwachsenen. Da alle intubiert beatmeten Frühgeborenen Opiate erhalten, ist dies praktisch relevant. Auch bei größeren Kindern können Sedativa individuell unterschiedlich zu starker paradoxer Hyperaktivität führen, was bei der Narkoseprämedikation problematisch ist. Metoclopramid darf bei Kindern nicht verwendet werden, weil es zu schweren extrapyramidal-motorischen Bewegungsstörungen führen kann. Wegen der noch nicht ausgeprägten Barrierefunktion der Haut können topisch eingesetzte Arzneistoffe systemisch resorbiert werden und schwere Schäden verursachen, wie Morbus Cushing durch Corticoide, Schilddrüsenüberfunktion durch Iod-haltige Desinfektionsmittel oder Vergiftungen durch Salicylate. Bei Frühgeborenen führen sogar gängige Desinfektionsmittel zu schweren Verbrennungserscheinungen an der Haut.

Für die Bioverfügbarkeit und Biotransformation von Arzneistoffen sind die Veränderungen im Gastrointestinaltrakt, in der Leber und der Niere besonders relevant. So haben Neugeborene einen fast neutralen Magen-pH, kaum Gallenfluss und kaum Bakterien im Darm. Die im ersten Lebensjahr geringere Plasmaalbuminkonzentration hat ein anderes Verteilungsvolumen von Arzneistoffen mit hoher Plasmaeiweißbindung zur Folge. Die Leber wird erst ein bis zwei Wochen nach der Geburt normal durchblutet, wenn der Ductus venosus geschlossen ist. Einige Biotransformationsenzyme sind bereits wenige Wochen nach der Geburt herangereift, andere nach Monaten, die Cytochrom-P450-Enzyme teilweise erst nach einem Jahr. Die Fähigkeit der Niere zur tubulären Filtration setzt vergleichsweise spät ein, die glomeruläre Filtration ist dagegen bei Säuglingen sehr leistungsfähig. Daher kann bei Kindern nicht einfach von geringeren Stoffwechselleistungen ausgegangen werden, die geringere Dosierungen nach sich ziehen. Glomerulär filtrierte Arzneimittel wirken bei Säuglingen sogar erst in höheren Dosierungen, die für ältere Kinder bedrohlich wären.

Angesichts der Vielzahl der Effekte lässt sich auch aus der Kenntnis der physiologischen Veränderungen keine angemessene Arzneitherapie ableiten, folgerte Hulpke-Wette. Die empfohlenen Dosierungen beruhen vielfach auf Erfahrungen mit einzelnen Fällen, weil bisher keine kontrollierten Studien mit Kindern durchgeführt werden duften. Systematische Untersuchungen sind nun auf der Grundlage der neuen EU-Verordnung zumindest für neue Arzneimittel zu erwarten. Für die wichtigen etablierten Arzneimittel, deren Patentschutz bereits abgelaufen ist, dürfte wohl auch künftig die Datenlage problematisch bleiben.

Systematische Studien statt Ausprobieren

Bisher ist ein großer Teil der bei Kindern eingesetzten Arzneimittel nicht systematisch an Kindern untersucht worden und nicht für Kinder zugelassen. Bei diesem Off-label-use besteht weder Klarheit über die Indikation noch über die Dosierung. So ist im Einzelfall die angemessene Dosierung oft nur durch die Überwachung der Blutspiegel zu finden, wie Prof. Dr. Stephanie Läer, Düsseldorf, erläuterte. Obwohl Arzneimittel für kardiovaskuläre Indikationen bei Kindern seltener als manche anderen Arzneimittel verwendet werden, bilden sie die größte Gruppe der ohne Zulassung bei Kindern eingesetzten Produkte. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Kindern werden nur in sehr geringem Maße gemeldet, was auf den hohen Anteil des Off-label-use zurückzuführen sein mag.

Wie Läer und Hulpke-Wette berichteten, empfinden viele Eltern ihre Kinder als "Versuchskaninchen" bei der Suche nach einem geeigneten Arzneimittel; dagegen würden sie die Teilnahme ihrer Kinder an Studien eher akzeptieren, weil Patienten in Studien besonders gut überwacht werden. Ethisch problematisch sei dagegen die Randomisierung.

Der Placebo-Effekt scheint bei Kindern und Jugendlichen besonders ausgeprägt zu sein. So hätten placebokontrollierte Studien in den USA keine signifikante Wirkung von Triptanen bei Jugendlichen mit Migräne gezeigt.

Für kindgerechte Arzneiformen

Prof. Dr. Jörg Breitkreutz, Düsseldorf, erläuterte neue Entwicklungen kindgerechter Arzneiformen. Zugleich kritisierte er die diesbezüglichen Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der beabsichtigt, alle Makrolide in eine Festbetragsgruppe einzuordnen, unabhängig davon, ob sie als Tablette oder als multipartikuläre Arzneiformen mit modifizierter Freisetzung verarbeitet werden. Aufwändige Entwicklungen müssten letztlich bezahlt werden. Alle gesetzlichen Anreize der EU würden ausgehebelt, wenn die nationale Politik nicht bereit ist, den therapeutischen Mehrwert einer Innovation zu honorieren. Entsprechendes gilt für speziell dosierte Kinderarzneimittel, die die gängige Praxis, Tabletten usw. zu teilen, überflüssig machen würden. Die Herstellung von Arzneiformen in selten benötigten kindgerechten Dosierungen ist ein ökonomisches Problem, das vielfach altbekannte Arzneistoffe betrifft. Da die geringen Umsatzzahlen keine industrielle Fertigung rechtfertigen, werden sie vielfach in Apotheken und Krankenhausapotheken hergestellt.

Ein häufiges Problem bei Fertigarzneimitteln für Kinder ist die Dosierungsgenauigkeit von Säften. So führt das Füllen der Messlöffel bis zur jeweils angezeigten Markierung regelmäßig zu erheblichen Überdosierungen, weil die Suspensionen an den Oberflächenrändern eine konvexe Wölbung ausbilden. Daher ist die Dosierung mit Hilfe einer Spritze vorzuziehen, wie sie einigen Antibiotikasäften bereits beiliegt. Propylenglykol sollte – wie in den meisten Säften praktiziert – nur in kleinen Mengen in Arzneimitteln für Kinder enthalten sein, weil bei größeren Mengen Krampfanfälle drohen.

Vielfach scheitert die Eingabe oraler Arzneimittel für Kinder am schlechten Geschmack. Der salzige Geschmack oraler Rehydratationslösungen kann durch manche Süßstoffe komplett überdeckt werden, bei bitterem Geschmack gelingt dies nicht. Der gewünschte Geschmack in Verbindung mit kindgerechten Dosierungen kann teilweise durch multipartikuläre Arzneiformen erreicht werden. Dazu gehören wirkstoffhaltige Pellets in einem Trinkhalm sowie Mini- und Mikrotabletten. Letztere ermöglichen sehr genaue Dosierungen für verschiedene Altersgruppen durch das Abzählen von Minitabletten und bieten damit nach Einschätzung von Breitkreutz ein großes Zukunftspotenzial. Multipartikuläre Arzneiformen ermöglichen auch die Zusammenfassung von Pellets mit unterschiedlicher Freisetzung, sodass die vielfach problematische Gabe von Arzneimitteln während des Aufenthalts in einer Ganztagsschule entfällt.

Impfungen gegen Masern, Meningitiden, Pneumonien

Über Neuerungen bei Impfungen im Kindesalter berichtete Priv.-Doz. Dr. Susanne Polywka, Hamburg. Die erste Masernimpfung erhalten über 80 Prozent der Kinder, die Auffrischungsimpfung aber weitaus weniger. Doch sind die Masern mit einem Enzephalitis- und Pneumonie-Risiko von jeweils 1:1000 und einer Letalität von 1:3000 eine ernste Erkrankung. Besonders problematisch ist, dass die Patienten bereits fünf Tage vor Beginn der Symptome ansteckend sind und die Kontagiosität fast 100 Prozent beträgt. Die WHO strebt die Eliminierung der Masern bis zum Jahr 2010 an, was als Auftreten von höchstens einem Fall bei 100.000 Einwohnern definiert ist. Dazu müssten 80 bis 95 Prozent der Kinder die zweite Impfdosis erhalten.

Als Erreger bakterieller Meningitiden sind fünf Keime verbreitet. Gegen drei davon sind Impfungen möglich, gegen Listerien kann dagegen nur durch Nahrungsmittelhygiene, insbesondere Waschen von Salat, vorgebeugt werden. Meningitiden durch Haemophilus influenzae Typ b sind seit Einführung der Impfung vergleichsweise selten geworden, was den Wert der Impfung bestätigt. Besonders nachdrücklich empfahl Polywka die Impfung gegen Meningokokken (Neisseria meningitidis), die als Standardimpfung ab dem vollendeten zwölften Lebensmonat vorgesehen ist. Sie schützt zwar nur vor dem Meningokokken-Kapseltyp C, dieser ist aber für die schwersten Komplikationen und die meisten Todesfälle verantwortlich. Insbesondere droht das Waterhouse-Friderichsen-Syndrom, das zur Gerinnung des Blutes und dadurch zu Nekrosen führt, die Amputationen erfordern. Solche Komplikationen und auch Todesfälle treten bei Meningitiden bereits innerhalb von Stunden nach den ersten Verdachtssymptomen auf und sind daher auch durch schnelle intensivmedizinische Behandlung nicht zu verhindern. Die Impfung ist die einzige wirksame Gegenmaßnahme. Eine Impfung gegen den Meningokokken-Kapseltyp B ist wegen der Ähnlichkeit zu körpereigenen Strukturen nicht möglich. In den meisten Regionen ist der Kapseltyp B häufiger als der Typ C, er führt aber seltener zu Komplikationen.

Die Impfung gegen Streptococcus pneumoniae richtet sich gegen Meningitiden und lebensbedrohliche Pneumonien. Etwa zwei Drittel der Infektionen werden bisher durch Streptokokken-Typen verursacht, gegen die Impfungen für Kinder empfohlen werden. Der Impfstoff für Erwachsene berücksichtigt mehr Typen als der Kinderimpfstoff. Für Kinder werden vier Impfungen im ersten Lebensjahr empfohlen. Zur Optimierung der Wirkung und Verträglichkeit soll nicht gleichzeitig gegen Meningokokken geimpft werden. Da der Erkrankungsgipfel für Streptokokken-Infektionen zwischen dem 6. und dem 11. Lebensmonat, für Meningokokken aber später liegt, sind die zeitlich versetzten Impfungen praktikabel. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass die gegen Meningitiden gerichteten Impfungen bei Kindern die Zahl der Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung vermindern, weil auch die Ungeimpften von der Verminderung des Erregerreservoirs bei Kindern profitieren.

Impfungen gegen Viruserkrankungen

Hepatitis B wird vor allem durch sexuelle Kontakte übertragen. Die Impfung wird aber schon im frühen Kindesalter empfohlen, weil Jugendliche schlechter zu erreichen sind und der komplette Impfzyklus voraussichtlich lange genug schützt, möglicherweise sogar lebenslänglich.

Relativ neu in den Impfempfehlungen ist die Impfung gegen Varizellen (Windpocken). Die Durchseuchung bei Erwachsenen beträgt etwa 97 Prozent. Bisher wurde die Gefahr einer Varizellen-Infektion in der frühen Schwangerschaft unterschätzt, sie kann jedoch zu schweren Schädigungen des ungeborenen Kindes führen.

Nach Einschätzung von Polywka könnten Impfungen gegen Rotaviren und Papillomaviren demnächst in die Empfehlungen aufgenommen werden. Rotaviren sind die häufigsten Erreger von Durchfallerkrankungen bei Kindern. Es ist möglich, dem Säugling bis zur 24. Lebenswoche zwei- oder dreimal oralen Lebendimpfstoff zu verabreichen. Für ältere Kinder ist die Impfung wegen der Gefahr eines Darmverschlusses dagegen nicht zu empfehlen. Die Impfung gegen Papillomaviren richtet sich hauptsächlich gegen Zervixkarzinome, die fast ausschließlich durch diese Viren verursacht werden. Daneben verursachen Papillomaviren viele weitere Tumoren sowie Kondylome an den Genitalien. Der Impfstoff Gardasil® richtet sich gegen vier Typen der Papillomaviren, die 70 Prozent der Zervixkarzinome und 90 Prozent der Kondylome verursachen.

Dr. Thomas Müller-Bohn
Die neue EU-Verordnung zu Kinderarzneimitteln kann unter
abgerufen werden. Sie finden den Verordnungstext im Download-Bereich unter Downloads zu apothekenrelevanten Gesetzesänderungen.
In Deutschland zugelassene Kinderarzneimittel können in einer gemeinsamen Datenbank gesucht werden. Die Datenbank der Hexal AG Initiative Kinderarzneimittel – zugelassene Arzneimittel für Kinder (ZAK) – ist im Internet zu finden unter:
Benutzername: apotheke,
Passwort: vip
Informationen zu Indikationen – auch außerhalb von Zulassungen – sind in Leitlinien der Fachgesellschaften zu finden. Einen gemeinsamen Zugriff bietet die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich medizinischen Fachgesellschaften im Internet unter:
Das Wichtigste in Kürze
  • Die erheblichen physiologischen Veränderungen vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen erlauben keine einfache Vorhersage zur Bioverfügbarkeit und Biotransformation von Arzneistoffen im Kindesalter. Die Verhältnisse verändern sich auch zwischen verschiedenen Altersgruppen vielfach.
  • Bei Arzneimitteln ohne gesicherte Dosierung für die jeweilige Altersgruppe erlaubt die Blutspiegelkontrolle eine sichere und wirkungsvolle Dosierung.
  • Unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Kindern sollten konsequent gemeldet werden, weil die Daten die Arzneimittelsicherheit verbessern könnten.
  • Die Orientierung an den Markierungen von Messlöffeln führt regelmäßig zur Überdosierung von Suspensionen. Zur Dosierung von Säften sollten Spritzen verwendet werden, aus denen der Saft direkt oral verabreicht werden kann.
  • Multipartikuläre Arzneiformen ermöglichen die Optimierung des Geschmacks sowie der Dosierung und Freisetzung der Wirkstoffe.
  • Die Auffrischungsimpfung gegen Masern sollte konsequent genutzt werden.
  • Die Impfungen gegen Erreger von Meningitiden sind dringend zu empfehlen, weil sie den einzigen Schutz vor den schnell eintretenden und äußerst schwer verlaufenden Komplikationen der Erkrankungen bieten.
  • Gegen Meningokokken und Streptococcus pneumoniae sollte nicht gleichzeitig geimpft werden, vorzugsweise erfolgt die Meningokokken-Impfung nachher.
  • Künftig könnten Impfungen gegen Rotaviren und Papillomaviren in die allgemeinen Impfempfehlungen aufgenommen werden.

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