Gesundheitsökonomie

Gesunde sind teurer!

Betrachtungen zu Krankheitskosten im Alter
Von Reinhard Herzig

Gesunde sind teurer! – Auf diesen kurzen Nenner kann man jüngere Untersuchungen niederländischer Forscher bringen, die unlängst in einer Veröffentlichung in PLoS Medicine [1] zu lesen waren. Was wie ein Widerspruch in sich anmutet, hat bei näherer Betrachtung interessante, gesundheitsökonomische Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund dürfte es aus heutiger Perspektive noch in keiner Weise sicher sein, welche Entwicklung die Gesundheitskosten in der weiteren Zukunft nehmen werden.

Im Rahmen der oben angeführten, niederländischen Studie zu den Folgen von Übergewicht und den ökonomischen Auswirkungen präventiver Maßnahmen werden drei hypothetische Gruppen, bestehend aus jeweils 500 weiblichen und männlichen, zwanzigjährigen Personen verglichen: nicht rauchende Übergewichtige (BMI > 30), normalgewichtige Raucher und gesund lebende Personen, die weder rauchen, noch übergewichtig sind. Basierend auf den Morbiditäts- und Mortalitätsdaten des Nationalen Institutes für Gesundheit und Umwelt der Niederlande (RIVM) werden die zu erwartenden Krankheiten und Sterberisiken, vor allem aber die damit verbundenen Kosten hochgerechnet. Aufgegliedert nach den typischen Folgeerkrankungen werden die im Laufe eines ganzen Lebens in heutigen Preisen hochgerechneten Kosten aufgeführt (siehe Tabelle).


Tab.: Hochgerechnete Kosten je einzelnem Menschenleben für typische Folgeerkrankungen von Übergewicht und Rauchen, gegenübergestellt einer "gesunden Lebensweise", sowie die kalkulierten Lebenserwartungen (nach [1])
Übergewicht
Raucher
Gesund
lebend
Koronare Herzkrankheit
14.000 €
14.000 €
12.000 €
Schlaganfall
11.000 €
12.000 €
13.000 €
COPD
1.000 €
5.000 €
1.000 €
Diabetes
9.000 €
2.000 €
2.000 €
Muskel-/
Skeletterkrankungen
15.000 €
8.000 €
12.000 €
Lungenkrebs
0 €
3.000 €
0 €
andere Krebsarten
5.000 €
5.000 €
5.000 €
Andere Krankheiten
195.000 €
172.000 €
236.000 €
Summen
250.000 €
221.000 €
281.000 €
Restlebenserwartung
(vom 20. Lebensjahr an gerechnet), Jahre
59,9
57,4
64,4

Es verwundert nicht, dass Raucher ein höheres Erkrankungs- und damit Kostenrisiko für Lungenkrebs aufweisen, und Übergewichtige ein höheres Diabetes-Risiko und eine höhere Beanspruchung des Muskel- und Skelettsystems. Im Verhältnis zu der Position "übrige Krankheiten", hinter denen sich von der banalen Erkältung bis hin zum seltenen, aber extrem teuer zu therapierenden Enzymdefekt alle sonstigen, rund 30.000 theoretisch möglichen Krankheiten verbergen, sind diese Kosten jedoch erstaunlich gering. Der Anteil der häufigsten, typischen Folgeerkrankungen macht nach dieser Studie größenordnungsmäßig nur etwa 20% der Gesamtkrankheitskosten aus, bei den gesund Lebenden mit 16% etwas weniger, bei den anderen mit 22% etwas mehr.

Erstaunlich: In der bundesdeutschen Gesamtkrankheitskostenrechnung (unter www.destatis.de) machen allein die Herz-Kreislauf-Erkrankungen bereits einen Anteil von 15% an den gesamten Gesundheitsaufwendungen aus. Diabetes liegt bei gut 2%. Aber Nicht-Adipöse und Nichtraucher werden eben auch herz- und zuckerkrank, wenn auch weniger häufig.

Dass starke Raucher eine signifikant niedrigere Lebenserwartung haben, ist vielfach untersucht und wird hier mit minus sieben Jahren gegenüber der gesund lebenden Referenzgruppe noch mal bestätigt. Auch Übergewichtige bezahlen hiernach ihren Lebensstil mit rund 4,5 Jahren.

Am überraschendsten ist freilich das Ergebnis, dass die nichtrauchende, normalgewichtige Gruppe unter dem Strich die höchsten Krankheitskosten aufweist. Verursachen die Gesunden 100% der Kosten, so sind es relativ bei den Rauchern nur 79%, bei den Übergewichtigen 89%. Absolut macht die Differenz deutliche, fünfstellige Beträge aus.

Dabei verlaufen die jährlichen Bedarfskurven bei allen drei Gruppen erstaunlich parallel. Zwar liegen die "Gesunden" immer ein wenig unter den übrigen, qualmenden und übermäßig futternden Zeitgenossen. Mehr als wettgemacht wird diese Differenz jedoch durch die längere Lebensdauer. Im Alter werden offensichtlich alle, zumindest statistisch, teuer (siehe Grafik).


Wer allerdings bereits relativ früh an Lungenkrebs stirbt, kann damit schon nicht mehr irgendwelche anderen, womöglich noch teureren Alterskrankheiten bekommen. Rentenzahlungen und die allfälligen, üblichen Gesundheitsleistungen entfallen ebenfalls. Diese Betrachtungsweise blendet freilich andere, indirekte Kosten wie Arbeits- und Produktivitätsausfälle, Belastungen im persönlichen Umfeld usw. aus, ganz zu schweigen von den monetär schwer aufzuwiegenden Aspekten der Lebensqualität. Andererseits stecken in einem Wohlstandsbauch und in einer Raucherlunge beträchtliche Steuern und Umsätze, die wiederum bei den Herstellern und im Einzelhandel arbeitsplatz- und gewinnwirksam sind. Die ökonomische Gesamtabwägung ist deshalb nicht einfach, was nebenbei den rein wirtschaftlichen Nutzen vieler Präventionsprogramme in Frage stellt. Ökonomisch zugespitzt arbeitet der Idealbürger einfach solange, bis er stirbt, und kompensiert diese Mühsal, indem er die Steuerkassen neben seiner Lohnsteuer durch reichlichen Konsum füllt ...

Neue Längsschnittbetrachtung

Diese Ergebnisse öffnen die Augen für eine prinzipielle Neubetrachtung. Bisher werden die erwarteten Kosten gerne scheibchenweise Jahr für Jahr hochgerechnet. Eine Längsschnittbetrachtung über die gesamte Lebensdauer einer Person hingegen zeigt sehr viel klarer, was auf die Systeme und den Einzelnen zukommen wird. Die Menschen, die bis gegen Ende dieses Jahrhunderts leben werden, sind bereits heute geboren. Es stellt sich also die Frage, welche implizite Gesundheitslast damit aus heutiger Sicht verbunden ist. Oder mit anderen Worten: Was kostet ein Mensch statistisch über seine Lebenszeit hinweg, und wann fallen diese Kosten an? In welchem Verhältnis steht dies zur möglichen Lebensleistung des Einzelnen und der Gesellschaft?

Angesichts des teilweise bedenklichen Gesundheitszustandes (vom Übergewicht über typische Wohlstandserkrankungen bereits im Kindesalter bis hin zu eklatanten Einschränkungen der körperlichen Fitness) bedeutender Teile des Nachwuchses lauern hier womöglich ökonomische Zeitbomben [2]. In Anbetracht obiger Daten könnte jedoch eine Gegenregulation stattfinden, indem die heutigen "Problemkinder" womöglich wieder eine geringere Lebenserwartung aufweisen werden. Dass die Lebenserwartung nicht zwangsläufig immer weiter steigen muss, wird bereits ernsthaft diskutiert. Fettleibigkeit in den USA könnte dort die Lebenserwartung in diesem Jahrhundert um drei bis fünf Jahre reduzieren [3]. Künftige Rentnergenerationen weisen in den USA möglicherweise bereits wieder einen schlechteren Gesundheitszustand auf wie frühere [4]. Zieht man dann noch die Tatsache hinzu, dass ausgeprägte Zusammenhänge zwischen Einkommen, Versichertenstatus und Lebenserwartung bestehen [5], so könnte die Lebens- und Gesundheitsentwicklung eine ganz andere Entwicklung als vielfach prophezeit nehmen. Dies gilt umso mehr, falls es zu ökonomischen Einbrüchen kommen sollte. So sank die Lebenserwartung im Zuge des Zusammenbruchs der damaligen Sowjetunion dort um mehrere Jahre, inzwischen steigt sie wieder im Zuge der wirtschaftlichen Erstarkung Russlands. Immer größere Teile der Bevölkerung gehören hierzulande heute den Niedriglohnsektoren mit oftmals prekären Arbeitsverhältnissen an. Die Altersarmut von morgen ist damit programmiert. Stress, qualitativ unzureichende Ernährung und schwierige Lebensverhältnisse tragen das Übrige zu einer möglicherweise wieder sinkenden Lebenserwartung bei.

Medizinischer Fortschritt in der Fortschrittsfalle?

Im Zuge des medizinischen Fortschritts besteht ein Kernproblem darin, dass ein zunehmend großer Anteil von uns allen irgendwann einmal sehr teuer werden wird, selbst wenn er die meiste Zeit kerngesund war. Die "Rettung" davor ist im Grunde nur der unvermittelte, plötzliche Tod ohne längere Krankenvorgeschichte.

Galt früher der Spruch: "Der Patient ist nach einer Woche Krankenhaus auf dem Weg der Genesung oder tot ...", ist dies heute wesentlich anders. Ähnliches gilt für den Sterbeprozess an sich, der früher vielfach nicht nur kürzer war, sondern auch eher in häuslicher Umgebung verbracht wurde. Heute wird dies immer stärker problematisiert und auch kommerzialisiert. Es verwundert daher nicht, dass große Teile der Krankheitskosten eines Menschen in seinen letzten zwei Lebensjahren anfallen, und das konzentriert sich wiederum auf die letzten Lebensmonate ("Sterbekosten" = Kosten im letzten Lebensjahr). Das gilt übrigens unabhängig vom erreichten Lebensalter, im Gegenteil: Jüngere sind zu ihrem Ende hin nochmals ganz erheblich teurer, da hier offensichtlich noch wesentlich stärker alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden [6]. Bei Hochbetagten entfällt die Hauptkostenlast im Übrigen auf die Pflegekosten, ansonsten tatsächlich auf die medizinischen Behandlungskosten.

Mehr als jeder Vierte von uns, mit steigender Tendenz im Zuge der Alterung, wird einmal von Krebs betroffen sein. Ein Krankheitskomplex, der binnen der nächsten fünf Jahre alleine eine Verdoppelung der entsprechenden Ausgaben für Zytostatika und Begleitmedikamente erwarten lässt. Nicht ohne Grund spielen die meisten großen Pharmakonzerne die Karte "Onkologie".

Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle zusammen werden in den Industrieländern absehbar die häufigsten Todesursachen bleiben. Bedeutete der schwere Herzanfall noch bis weit in die Nachkriegszeit oft den sicheren Tod selbst unter medizinischer Betreuung im Krankenhaus, so sind heute immer häufiger Spezialstationen Garant für signifikant erhöhte Überlebensraten. Eine wesentliche Voraussetzung (aber nicht die einzige) dafür ist in der Versorgungsdichte und damit verbunden der Zeit bis zum Einsetzen wirkungsvoller Therapien zu sehen. In dicht versorgten Gebieten lebt es sich statistisch länger!

Auch ist im Zuge steigender Überlebensraten gerade bei den häufigen Ereignissen wie Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Infektionen ein konsekutiver, hoher Leistungsbedarf, eine Kumulation teurer Erkrankungen immer wahrscheinlicher: Mit 50 den Herzinfarkt, Krebs mit 60, Alzheimer mit 80, dazwischen vielleicht auch noch ein zweiter Infarkt ... Eine Abfolge, die früher kaum möglich war. In Zukunft dürften solche "kumulativen Patientenkarrieren" dagegen deutlich zunehmen. Gesamtbehandlungskosten im hoch sechsstelligen Bereich sind hier durchaus die Regel.

Gleichzeitig werden auf der anderen Seite ehemals un- oder schlecht behandelbare, seltene Krankheiten immer mehr rationalen, aber eben oft sehr teuren Therapien zugänglich. Die bisweilen astronomischen Preise erklären sich, unabhängig vom sehr unterschiedlichen Herstellaufwand, schlicht aus hohen Entwicklungs- und Vorlaufkosten, die sich auf vergleichsweise wenige Patienten verteilen müssen. Vier- und fünfstellige Jahrestherapiekosten sind nicht selten, bisweilen werden auch noch höhere Kosten aufgerufen, wie bei der Therapie seltener Enzymdefekte. Auch geringere Gewinnerwartungen der Unternehmen würden daran grundsätzlich nichts ändern, sondern das Problem nur etwas strecken. Die grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass seltene Krankheiten zwar relativ betrachtet nicht allzu häufig vorkommen, aber Fallzahlen bis zu knapp 250.000 Patienten in der EU durchaus noch als "selten" gelten. Die EU-Definition zieht die Grenze nämlich bei einem Vorkommen von weniger als 1: 2000. Angesichts von rund 5000 bis 7000 hier näher identifizierten Krankheiten sind aber trotzdem in den 25 EU-Staaten etwa 30 Mio. Bürger von diesen "rare diseases" betroffen, was auf den ersten Blick paradox erscheint [7]. Wird davon künftig nur ein Bruchteil zu den erwähnten, hohen Kosten therapiert, so schlummert hier eine ungeahnte, ökonomische Zeitbombe.

In der Summe stehen wir einer ganzen Reihe von bisweilen widersprüchlichen Erkenntnissen gegenüber. Es ist keineswegs ausgemacht, welchen Verlauf die Gesundheitskosten tatsächlich in weiterer Zukunft nehmen werden, zumal diese stets unter dem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit und Finanzierungskraft der jeweiligen Gesellschaft stehen.

 

Quellen 

[1] van Baal, P.H.M., Polder, J.J., de Wit, G.E. et. al: Lifetime Medical Costs of Obesity: Prevention no Cure for Increasing Health Expenditure, PLoS Medicine, Vol. 5 (2), Febr. 2008, www.plosmedicine.org 

[2] Siehe hierzu u.a. die Gesundheitsberichte zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, z.B. Landesgesundheitsbericht NRW von 2002, oder die aktuelle KIGGS-Studie unter www.kiggs.de 

[3] Olshansky, S.J., Douglas, J.P., et al., A Potential Decline in Life Expectancy in the United States in the 21st Century, New England Journal of Medicine 352, 1138 – 1145 (2007) 

[4] Soldo, B.J. et al.: Cross-Cohort Differences in Health on the Verge of Retirement. National Bureau of Economic Research Working Paper 12762. National Bureau of Economic Research (2007).

[5] Lauterbach, K., Der Zweiklassen-Staat, Rowohlt Verlag Berlin (2007) 

[6] Kruse, A., Knappe, E., Schulz-Nieswandt, F., Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Verursachen ältere Menschen höhere Gesundheitskosten?, Expertise, erstellt im Auftrag der AOK Baden-Württemberg, 2003; ebenfalls bei: Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 1996 

[7] European Conference on Rare Diseases, Luxembourg, Juni 2005; Näheres siehe unter www.eurordis.org 

 


Anschrift des Verfassers:

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, Philosophenweg 81, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.