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Aus Kammern und Verbänden
Problematische Arzneimittel bei älteren Menschen
Es ist bekannt, dass gerade bei älteren Menschen häufiger Arzneimittelnebenwirkungen auftreten und dass ältere Menschen deswegen gehäuft ins Krankenhaus eingewiesen werden. In Deutschland beruhen etwa 3% der internistischen stationären Aufnahmen auf Arzneimittelnebenwirkungen, von denen ca. 70% auf über 70-Jährige entfallen. Mit zunehmendem Lebensalter steigt der Anteil der Nebenwirkungen, die nicht nur auf einem Medikament, sondern auf Arzneimittelinteraktionen beruhen. Aus Deutschland liegen allerdings keine verlässlichen Daten vor, wie hoch die Anzahl der Todesfälle aufgrund solcher Neben- und Wechselwirkungen ist.
Beers-Liste seit 1989
Es wird schon seit längerer Zeit diskutiert, wie Ärzte diese Zwischenfälle vermeiden können. In den USA und mehreren europäischen Ländern gibt es – neben der elektronischen Verordnungs-Software zum Erkennen von Interaktionen – Listen mit potenziell gefährlichen Arzneistoffen, die dem Arzt helfen sollen, unangemessene Verordnungen zu vermeiden (Martin Beyer, Frankfurt a. M.). Fast alle diese Listen basieren auf der von Beers 1989 zuerst publizierten Zusammenstellung (Risk Factors in Geriatric Drug Prescribing, Drugs 1989) bzw. einer aktualisierten Fassung aus dem Jahr 2003.
Eine Erhebung durch das Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover im Jahr 2002 ergab, dass etwa 20% von 41.000 Patienten einer Hausarzt-Stichprobe wenigstens eine nach der o. g. Liste als unangemessen zu bewertenden Verordnung hatten, wobei Frauen häufiger betroffen waren als Männer (Gudrun Theile, Hannover). Aktuellere Zahlen aus dem 5-Jahres-Follow-up der prospektiven getABI-Kohortenstudie (German Epidemiological Trial on Ankle Brachial Index) besagen hingegen, dass lediglich 7% von 2273 Hausarztpatienten, die an einem Telefoninterview teilgenommen haben, ein auf der Beers-Liste indiziertes Medikament einnehmen (Heinz Endres, Bochum; PRISCUS, Teilprojekt 1).
Listen in vielerlei Hinsicht umstritten
Unter Arzneimittelforschern besteht keinesfalls Einigkeit darüber, welche Stoffe unbedingt vermieden werden sollten und ob gerade für die alltägliche ärztliche Praxis eine Liste oder eine Reihe von allgemeinen Regeln sinnvoller ist. Weitere Definitionsprobleme betreffen das Alter: Sind "ältere Menschen" mindestens 65 Jahre, 70 Jahre oder gar 80 Jahre alt? Grundlage aller existierenden Listen ist eine Delphi-Befragung, d. h., Gruppen von 6 bis 32 Experten haben sie in zwei oder drei Runden zusammengestellt.
Für viele der diskutierten Arzneistoffe fehlt allerdings die Evidenz für deren Gefährdungspotenzial. Während einige Wissenschaftler bei Älteren die Anwendung des Antiarrhythmikums Amiodaron als potenziell problematisch ansehen, empfehlen kardiologische Fachgesellschaften diese Substanz bei Vorhofflimmern ohne Altersbeschränkung. Bessere Grundlagen finden sich beispielsweise für das Risikopotenzial von Benzodiazepinen im Hinblick auf Stürze.
Von allen Listen ist zu fordern, dass sie beim Ausschluss von Arzneimitteln therapeutische Alternativen nennen. Gerade Listen in englischer Sprache (wie die von Beers und ihre Weiterentwicklung) enthalten Arzneistoffe, die auf dem deutschen Arzneimittelmarkt keine oder nur eine geringe Rolle spielen. Kritisch ist auch zu hinterfragen, ob einzelne Arzneistoffe überhaupt problematisch sind oder ob nicht die Kombination vieler Arzneimittel das eigentliche Risiko darstellt. Immerhin erhalten über 65-jährige Patienten im Mittel etwa sechs verordnete Arzneimittel pro Tag, dazu kommen häufig noch selbst erworbene, freiverkäufliche Präparate. Bislang fehlt es noch an Evidenz, dass die Vermeidung der "unangemessenen Arzneimittel bei älteren Menschen" laut Beers-Liste zu einer besseren Versorgungssituation führt.
Das Projekt "Multimorbidität und Polypharmakotherapie" befasst sich mit der Analyse der Arzneimittel und ihrer Nebenwirkungen in verschiedenen Kohorten älterer und alter Menschen (Petra Thürmann, Wuppertal; PRISCUS, Teilprojekt 3). Darauf aufbauend folgt die Erstellung einer Liste potenziell inadäquater Medikationen mit Handlungsanweisungen und Alternativen. In einem weiteren Schritt soll überprüft werden, ob die Verordnung dieser Arzneistoffe auch in prospektiven Untersuchungen mit einer erhöhten Inanspruchnahme von therapeutischen Leistungen verbunden ist.
Der AOK-Bundesverband arbeitet in Zusammenarbeit mit Geriatern und Arzneimittelanwendungsforschern ebenfalls an diesem Thema (Jörg Lauterberg, Bonn). Die durch die PMV Forschungsgruppe der Universität Köln unterstützten Qualitätszirkel der KV Hessen geben den Hausärzten Rückmeldung über problematische Arzneimittel, nennen Alternativen und geben grundsätzliche Empfehlungen zur Arzneitherapie im Alter (Ingrid Schubert, Köln). Forschungsergebnisse der Abteilung für Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg zeigten die Bedeutung von Patientencharakteristika wie z. B. Begleiterkrankungen für arzneimittelbedingte Risiken (Kristina Zint, Heidelberg).
Neue Liste in Vorbereitung
Nach dem Erfahrungsaustausch auf der Tagung wollen die einzelnen Forschergruppen ihre Aktivitäten bündeln, um eine Liste von ungeeigneten Arzneimitteln bei älteren Menschen zu erstellen, die differenzierte, möglichst evidenzbasierte Empfehlungen gibt und dabei den Zustand des Patienten (z. B. eingeschränkte Nierenfunktion, Komorbidität) ausreichend berücksichtigt. Für die Empfehlungen spielen auch die Ergebnisse von Pharmakovigilanzstudien und patientenbezogenen Längsschnittuntersuchungen, die mit der Arzneitherapie assoziierte Ereignisse wie Notfalleinweisungen ins Krankenhaus, Stürze, Tod und zunehmende Pflegebedürftigkeit erfassen, eine Rolle. Die Verordnungsweise in der Praxis lässt sich umso eher optimieren, je besser empirisch belegt werden kann, dass bestimmte Arzneitherapien bei älteren Patienten potenziell unangemessen sind.
Die Tagung wurde von der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie e. V. (GAA) und dem Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt a. M. ausgerichtet.
InternetGesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie e. V. (GAA)
Verbundprojekt PRISCUS:
"Entwicklung eines Modells gesundheitlicher Versorgung älterer Menschen mit mehrfachen Erkrankungen"
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Prof. Dr. Sebastian Harder,
1. Vorsitzender der GAA
Institut für Klinische Pharmakologie, Klinikum der Universität Frankfurt a. M.
harder@em.uni-frankfurt.de
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