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Krank an Leib und Seele

Neue hausärztliche Leitlinie "Psychosomatische Medizin"
Von Kirsten Lennecke


"Ihre Erkrankung ist psychosomatisch!" – Diese Bemerkung eines Arztes kann Patienten in Verzweiflung stürzen. "Ich bilde mir das doch nicht nur ein!" oder "Ich bin doch nicht verrückt!", damit weisen sie häufig eine solche Diagnose von sich. Dieselben Patienten stehen oft später in der Apotheke und wollen von uns eine Hilfe. Sie wünschen eine konkrete Diagnose und ein Mittel, das ihnen gegen ihre Beschwerden hilft. Was steckt hinter psychosomatischen Erkrankungen und wie können wir in der Apotheke mit betroffenen Patienten umgehen?

In der Vergangenheit wurde deutlich zwischen körperlichen und psychischen Krankheiten unterschieden. Für die einen waren biotechnisch, pharmakologisch ausgerichtete Fachärzte zuständig, für die anderen Psychologen und Psychotherapeuten. Die neurobiologische Forschung belegt jedoch eindeutig, dass Körper und Psyche eine Einheit sind. Psychische Prozesse haben Einfluss auf körperliche Prozesse und umgekehrt beeinflussen körperliche Zustände die Psyche eines Menschen. "Gesundheit und Krankheit gehen aus der Interaktion des Individuums mit seiner Umgebung hervor" (Thure von Uexküll).

Aus dem Projekt "Hausärztliche Qualitätszirkel Pharmakotherapie" der Leitliniengruppe Hessen ist jetzt eine Leitlinie veröffentlicht worden, die psychosomatische Medizin zum Thema hat. Ziel der Leitlinie ist es, Hausärzte dazu zu sensibilisieren, dass Patienten nicht entweder körperlich oder psychisch krank sind, sondern ganzheitlich betrachtet werden müssen. Zur Abklärung der Beschwerden und zur Diagnosestellung gehören sowohl die körperliche als auch eine psychologische Untersuchung mit den jeweils geeigneten Methoden, z. B. medizinisch-technischen Instrumenten oder geeigneten Anamnesegesprächen mit individuellem Fragekatalog. Es soll eine Über- oder Unterdiagnostik vermieden werden und eine für den Patienten optimale Behandlung eingeleitet werden, z. B. eine Weiterleitung von betroffenen Patienten an psychotherapeutische Spezialisten.

In der Leitlinie werden grundsätzlich vier Gruppen von Krankheiten unterschieden:

  • psychische Erkrankungen wie etwa Angsterkrankungen, depressive Syndrome oder Psychosen.
  • funktionelle Störungen, die somatoformen Erkrankungen, also körperliche Beschwerden oft ohne Befund.
  • psychosomatische Erkrankungen als diejenigen Erkrankungen, bei deren Entstehung und Verlauf psychosoziale Faktoren wesentlich beteiligt sind.
  • somatopsychische Störungen, die dann vorliegen, wenn schwere somatische Erkrankungen psychische Probleme auslösen.

Zur Anamneseerhebung werden orientierende diagnostische Fragen vorgeschlagen, die bei Verdacht auf Depression, Ängste oder somatoforme Störungen eingesetzt werden können (s. Kasten "Orientierende diagnostische Fragen"). 86% der Patienten mit Angststörungen lassen sich z. B. gezielt mit zwei Fragen erkennen:

  • Haben Sie sich in den vergangenen zwei Wochen häufig nervös, ängstlich oder gereizt gefühlt?
  • Konnten Sie Ihre Sorgen oft nicht kontrollieren?

Für eine Früherkennung der Depression kann man in der Praxis drei Screeningfragen einsetzen:

  • Haben Sie sich im vergangenen Monat oft niedergeschlagen oder hoffnungslos gefühlt?
  • Hatten Sie im letzten Monat häufig wenig Freude bei den Dingen, die Sie tun?
  • Benötigen Sie deswegen Hilfe?

Werden die ersten beiden Fragen verneint, kann eine ausgeprägte Depression mit hoher Sicherheit ausgeschlossen werden (Sensitivität von 96%). Durch die dritte Frage wird die Spezifität des orientierenden Tests erhöht.

Somatoforme Störungen

Wenn ein Patient mit psychischen Erkrankungen, Depressionen oder Angststörungen zum Arzt geht, liegt die Diagnose oft auf der Hand. Problematisch sind jedoch die Patienten, die unter körperlichen Beschwerden leiden, hinter denen verborgene psychische Symptome stehen. Diese psychischen Hintergründe sind den Patienten oft nicht bewusst; darauf direkt angesprochen lehnen sie diese sogar oft vehement ab.

Somatoforme Störungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen über lange Zeit wiederholt über körperliche Symptome klagen. Dabei sind ihre Symptome oft diffus und häufig wechselnd. Betroffene Patienten fordern immer wieder medizinische Untersuchungen ein trotz wiederholter Negativbefunde und Zusicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar seien. Patienten beschweren sich, dass noch kein Arzt ihre Symptome zutreffend zugeordnet hätte, die meisten würden sie gar nicht ernst nehmen.

Mehrfachdiagnosen, häufige Krankenhauseinweisungen und Krankheitstage verursachen in Folge dessen hohe Kosten für den Patienten und vor allem für das Gesundheitssystem. Bei Patienten mit somatoformen Störungen entstehen im ambulanten Bereich im Mittel 14-fach höhere Kosten als die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben. Die stationären Kosten ergeben das Sechsfache.

Die Leitlinie berichtet von einer Patientin mit Unterbauchschmerzen, an der zunächst zweimal eine Operation zum "Lösen von Unterbauchverwachsungen" im 18. und 20. Lebensjahr der Patientin durchgeführt wurde. Wegen anhaltender Schmerzen forderte sie von ihrer behandelnden Gynäkologin eine Hysterektomie, die die Ärztin jedoch wegen des jungen Alters der Patientin ablehnte. Es fand sich jedoch eine Klinik, die im 24. Lebensjahr die Uterusentfernung vornahm. Zwei Jahre später folgten die Entfernung der Ovarien und bis zum 30. Lebensjahr noch fünf weitere Laparoskopien und zwei größere Bauchoperationen. Die Schmerzen blieben. Psychotherapeutische Behandlung lehnte die Patientin ab.

Typisch für diese Patientin ist, dass sie die Aussage eines Arztes, dass er keine körperliche Ursache für die Beschwerden sieht und dass er entsprechend für weitere invasive Behandlungen keine Indikation sieht, ablehnt. Durch eine solche Beurteilung fühlt sie sich mit ihren Beschwerden und in ihrer Person nicht ernst genommen bzw. missachtet. In der Folge macht sie sich auf die Suche nach anderen Behandlern, von denen sie Beachtung und vor allem Behandlung erwartet. Das kann zu immer neuen Arztbesuchen und erfolglosen, enttäuschenden Behandlungen führen. Die Patienten gelten in Arztkreisen als "Koryphäenkiller".

 

Ursachen für somatoforme Störungen

Somatoforme Störungen sind selten so spektakulär, aber in geringerem Ausmaß im Alltag weit verbreitet (siehe Tabelle "Körperliche Beschwerden"). Andere traditionelle Bezeichnungen für diese Krankheitsbilder sind

  • psychogene Störungen
  • funktionelle Störungen
  • vegetative Dystonie
  • allgemeines psychosomatisches Syndrom
  • Konversionshysterie
  • psychische Überlagerung.

Der Begriff Somatisierung wird uneinheitlich gebraucht, er steht im deutschen Sprachraum für einen psychischen Abwehrmechanismus. Psychische Schwierigkeiten werden verleugnet und als körperliche Symptome wahrgenommen. Einheitlich ist die Form der Beschwerdedarbietung und des Krankheitsverhaltens: eine Reihe von manchmal wechselnden Symptomen werden präsentiert mit der Überzeugung an einer organischen Erkrankung zu leiden. Diese Krankheitsbefürchtung (Hypochondrie) führt zu einer ängstlichen Beschäftigung mit allen Körpervorgängen und Empfindungen. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit kommt es zu einer Verstärkung der erlebten Empfindungen (Amplifizierung). Bei allen somatoformen Erkrankungen spielt emotionaler Stress eine Rolle. Patienten erleben den Stress als Folge ihrer Beschwerden; sie nehmen es nicht als mögliche Ursache wahr. Bei fast allen Patienten lässt sich eine Erregung des autonomen Nervensystems feststellen. Diese zeigt sich z. B. in Tachykardie, Darmmotilitätsveränderungen, Erhöhung der Grundspannung der Muskulatur oder vermehrter Schweißbildung.

In der Folge ergeben sich somatoforme autonome Funktionsstörungen oder somatoforme Schmerzstörungen.

 

Beispiele im Alltag

Patienten mit nicht-ulceröser Dyspepsie (Syn. funktionelle Dyspepsie, Reizmagen, nervöser Magen) leiden unter Magendruck nach dem Essen, Völlegefühl auch unabhängig von den Mahlzeiten, unter Druckgefühl, Kribbeln im Bauch, Speisenunverträglichkeit, Aufstoßen, Appetitlosigkeit und individuell anderen magenbezogenen Symptomen. Andere Erkrankungen wie Refluxösophagitis, Laktoseintoleranz, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Helicobacter-Infektionen sind vom Arzt auszuschließen.

Das Reizdarmsyndrom umschließt Symptome wie Blähungen, Bauchkneifen, Ober- und Unterbauchschmerzen, abwechselnd weiche Stuhlkonsistenz bzw. Durchfall und harte Stuhlkonsistenz bzw. Verstopfung. Chronisch-entzündliche Darmkrankheiten oder andere schwerwiegende Erkrankungen sind vom Arzt auszuschließen.

Die Herzphobie (Syn. Herzangst, Herzneurose) tritt mit Herzrasen, Herzstolpern und Schwindelattacken in Erscheinung. Auch hier liegt kein organischer Befund vor.

Funktionelle Störungen des Respirationstrakts treten als "psychogener Husten" oder "Hyperventilations-Syndrom" auf.

Funktionelle Miktionsstörungen (Syn. psychogene Dysurie, Reizblase) können zu ständigem Harndrang ohne ausreichende Blasenfüllung oder zu Harnverhalt führen.

Die Fibromyalgie ist eine somatoforme Schmerzstörung, die auch als generalisierte Tendomyopathie bezeichnet wird. Die Patienten leiden Schmerzen in wechselnden Muskelgruppen, an Sehnen und Bändern, häufig im Bereich der Wirbelsäule, aber auch in anderen Bereichen des Bewegungsapparats. Sie klagen über eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, über dumpfe Schmerzen und Steifigkeit der Gelenke und Muskulatur. 70 bis 80% aller Fibromyalgiepatienten leiden gleichzeitig am Reizdarmsyndrom. Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen treten häufig als chronische Rückenschmerzen auf. Patienten klagen über schwere und quälende Schmerzen, für deren Erklärung keine somatischen Ursachen gefunden werden.

Von einer Somatisierungsstörung spricht man, wenn mindestens zwei Jahre lang multiple körperliche Symptome in unterschiedlichen Organbereichen vorliegen, für die keine ausreichenden somatischen Erklärungen gefunden werden.

Orientierende diagnostische Fragen in der Hausarztpraxis


 

  • Gibt es etwas, was sich in den letzten Monaten in Ihrem Leben verändert hat?
  • Gibt es Belastungen am Arbeitsplatz oder in der Familie?
  • Gab es ein besonderes Ereignis in Ihrem Leben in den letzten Monaten?
  • Gibt es irgendetwas, was Sie besonders beschäftigt?
  • Machen Ihnen bestimmte Themen oder Menschen Ihrer Umgebung Sorgen?
  • Mit welcher Stimmung wachen Sie morgens auf? Wie entwickelt sie sich im Laufe des Tages?
  • Können Sie gut ein- und durchschlafen?
  • Würden Sie sagen, dass Sie mit Ihrer Sexualität zufrieden sind?
  • Gibt es noch irgendetwas Wichtiges, von dem Sie meinen, dass ich es wissen sollte, um Ihnen helfen zu können?

Behandlung der somatoformen Störungen

An der Behandlung des Reizdarmsyndroms kann beispielhaft die Behandlung aller Somatisierungsstörungen dargestellt werden (siehe Abbildung). Je nach vorherrschendem Beschwerdebild Diarrhö, Obstipation, Meteorismus oder schmerzhafte Darmspasmen wird symptomatisch mit Antidiarrhoika, Laxanzien, Entschäumern oder Spasmolytika behandelt. Typisch ist, dass die eingesetzten Arzneimittel beim selben Patienten manchmal sehr gut, manchmal gar nicht wirken.

Patienten fordern eine Behandlung ein. Die Wirkung wird jedoch zu bis zu 50% über den Placeboeffekt erklärt. Aus medizinischer Sicht sollte auf die symptomatische medikamentöse Therapie möglichst verzichtet werden. Denn durch die Pharmakotherapie erfolgt eine Fixierung der Vorstellung des Patienten darauf, an einer organischen Erkrankung zu leiden. Zumal muss bei Patienten mit somatoformen Störungen auch mit gehäuft und meist intensiv erlebten Nebenwirkungen gerechnet werden.

Die Behandlung sollte vorrangig darin bestehen, gemeinsam mit dem Patienten ein Krankheitsverständnis zu entwickeln und zu akzeptieren. Dazu gehört es, Zusammenhänge zwischen psychosozialer Belastung und Symptomen zu eruieren und alternative Verhaltensweisen zu entwickeln. Diese Therapiemaßnahmen können zum Teil im Rahmen der hausärztlichen Betreuung, zum Teil jedoch auch in psychotherapeutischer Behandlung erfolgen. Regelmäßige Sprechstundentermine (z. B. alle vier Wochen) unabhängig von der Stärke der bestehenden Symptome haben sich als nützlich herausgestellt. Zur Unterstützung können körperliche Aktivitäten und Entspannungstechniken eingesetzt werden.

Eine Pharmakotherapie sollte möglichst nur bei spezifischer Indikation zur Linderung psychischer Symptome (Depression, Angststörungen) oder von Schmerzen erfolgen, nicht aber zur Behandlung "des Darms", "des Rückens" oder "des Herzens". Apotheker sollten sich hier mit eigenen Empfehlungen zurückhalten und in Beratungsgesprächen versuchen, die Vorgehensweise des Arztes zu unterstützen.

Psychosomatische und somatopsychische Anteile

Das Stressmodell zur Erklärung der somatoformen Störungen lässt sich auch auf andere Krankheitsbilder erweitern.

Die meisten Erkrankungen werden zwar nicht primär psychisch verursacht, die Stärke der Beschwerden kann trotzdem von psychosozialen Faktoren und emotionalen Befindlichkeiten abhängig sein. Beispiele hierfür sind Asthma, Schwindel, Heiserkeit und die meisten dermatologischen Krankheitsbilder.

Schwere somatische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit oder Krebs führen zu einer psychischen Belastung der Patienten. Betroffene Patienten müssen lernen, die Krankheit in ihr Selbstbild einzugliedern, sich und ihr Leben der Erkrankung und der Behandlung anzupassen. Mangelnde Krankheitsverarbeitung und Anpassungsstörungen können wiederum zu psychischen Folgeerkrankungen wie Depression oder Angststörungen führen.

Psychosomatische Medizin heißt, nicht etwa dem Körper weniger, sondern dem Seelischen mehr Beachtung zu schenken (Viktor von Weizsäcker). Durch die Leitlinie "Psychosomatische Medizin" rücken die Vernetzung zwischen körperlicher und psychischer Befindlichkeit und vielleicht auch wieder die "sprechende" Medizin in den Mittelpunkt.

 

Quelle

Leitliniengruppe Hessen: Hausärztliche Leitlinie "Psychosomatische Medizin", 2008 (www.leitlinien.de/leitlinienanbieter/deutsch/pdf/hessenpsychosomatisch).

Azneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Leitlinie "Funktionelle Dyspepsie und Reizdarmsyndrom", 2000 (www.akdae.de/35/92_Reizdarmsyndrom_2000_1Auflage.pdf).

Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) und Berufsverband der Ärzte für Orthopädie (BVO): Leitlinie "Somatoforme Störungen / Fibromyalgie", 2005 (www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/033-046.htm)

Deutsche Gesellschaft für psychotherapeutische Medizin: Leitlinien Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik "Somatoforme Störungen im Überblick", 2001 (www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll-na/051-001.htm).

Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie: "Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms", 2008; (www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/041-004.htm).

Uexküll von, T.; et al.: Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns. 6. Aufl., München, Jena, Verlag Urban & Fischer (2008).

Harten, P.; et al.: Konsensuspapier "Das Fibromyalgie-Syndrom: Befunde, Symptome und Therapie, 2005. (www.fibromyalgie-forum.de/pontus_harten_2.html).

Klingelhöfer, J.; Rentrop, M.: Klinikleitfaden Neurologie und Psychiatrie, Urban & Fischer Verlag Stuttgart (2003).

 


Anschrift der Verfasserin 

Apothekerin Dr. Kirsten Lennecke,
Im Osterhöfgen 8,
45549 Sprockhövel

 

 

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