Fortbildung

Alarm im Darm

Die diesjährige Tagung der Scheele-Gesellschaft – Landesgruppe Mecklenburg-Vorpommern der DPhG – fand vom 7. bis 9. November im Ostseebad Heringsdorf auf Usedom in Verbindung mit dem Apothekertag Mecklenburg-Vorpommern statt. Die Veranstaltungen, die im Jahr des 60. Jubiläums der Scheele-Gesellschaft wieder gemeinsam von der Scheele-Gesellschaft, der Apothekerkammer und dem Apothekerverband Mecklenburg-Vorpommern angeboten wurden, umfassten politische Aspekte (hierzu lesen Sie bitte auf Seite 23), sowie Aspekte der Arzneimittelsicherheit im Internet. Das Motto der wissenschaftlichen Veranstaltungen lautete "Alarm im Darm". Die Referenten zeigten, dass der Darm mehr als "nur" ein Teil des Verdauungstraktes ist. Er ist zwar für die Ernährung von großer Bedeutung, aber auch für die gastrointestinale Arzneimittelapplikation. Und noch viel mehr Beachtung verdient seine Rolle im immunologischen System des Organismus.
Prof. Dr. Werner Weitschies
Foto: DAZ/tmb

Gastrointestinaltrakt als Ort der Arzneimittelapplikation

Dass der Magen kein Resorptionsorgan ist, sondern der eigentliche Ort der Resorption der Dünndarm ist, das hob Prof. Dr. Werner Weitschies vom Lehrstuhl für Biopharmazie und Pharmazeutische Technologie der Universität Greifswald hervor. Auf dem Weg eines Arzneistoffes zum Wirkort kann die Nahrung Effekte auf die Pharmakokinetik und -dynamik haben, sodass immer darauf geachtet werden sollte, dem Patienten genaue Hinweise mitzugeben, ob ein Arzneimittel vor, mit oder nach dem Essen eingenommen werden muss. So kann Nahrung abhängig von ihrem Kaloriengehalt die Magenentleerung verzögern. Daher empfiehlt Weitschies zum Einnehmen eines Arzneimittels auch immer Wasser und nicht etwa gesüßte Getränke, da auch diese Kalorien enthalten. Nur zu gern werde auch vergessen, dass auch Alkohol Kalorien enthält und sehr ausgeprägt die Magenentleerung verzögern kann. Auch die Arzneiform spielt eine große Rolle bei der Angabe zum Einnahmezeitpunkt. Alle monolithischen, nicht zerfallenden magensaftresistenten Arzneiformen sind ausschließlich nüchtern einzunehmen, so Weitschies. Ebenso sollte bei fast allen multipartikulären magensaftresistenten Arzneiformen eine nüchterne Einnahme bevorzugt werden.

Besonders bei retardierten Präparaten kann ein falscher Einnahmezeitpunkt gefährlich werden. Die Arzneiform verbleibt möglicherweise mit dem Essen im Magen und der Wirkstoff wird dort freigesetzt – aber eben nicht resorbiert. Gelangt der Speisebrei dann in den Darm, so können schlagartig große Mengen an Wirkstoff vom Körper aufgenommen werden. Besonders anfällig für solche Food-Effekte sind monolithische Arzneiformen mit modifizierter Wirkstofffreisetzung, da die Nahrung dafür sorgt, dass der Wirkstoff im Magen zurückgehalten wird.

Bei einigen Arzneistoffen mit einer geringen absoluten Bioverfügbarkeit ist der Einnahmezeitpunkt für die Wirksamkeit entscheidend. So haben z. B. Cephalosporine ein ausgeprägtes "Absorptionsfenster" im Dünndarm, das sie nur optimal erreichen können, wenn sie mit dem Essen eingenommen werden. Wird ein möglichst schneller Wirkeintritt des Arzneistoffs wie bei Schmerz- oder Schlafmitteln angestrebt, sollten die Arzneimittel nicht nach dem Essen eingenommen werden. Arzneistoffe mit Wirkung auf das Verdauungssystem oder auf den Glucosestoffwechsel sind in der Regel gleich zu Beginn einer Mahlzeit einzunehmen. Als Beispiele nannte Weitschies Pankreasenzyme, Acarbose, Sulfonylharnstoffe und Glinide. ck

Eingeschränkte Lebensqualität bei Reizdarm, Crohn und Colitis

Die Symptome sind ähnlich: Durchfälle, Bauchschmerzen, Blähungen, Krämpfe oder auch Verstopfung lassen die Betroffen einen Arzt aufsuchen. Die Beschwerden können so heftig sein, dass es bei 20 bis 30 blutigen Stühlen am Tag fast unmöglich ist, das Haus zu verlassen. Hier gilt es mit einer oft langwierigen und aufwendigen Diagnostik zu unterscheiden, ob es sich um chronisch entzündliche Darmerkrankung oder ein Reizdarmsyndrom handelt. Das Reizdarmsyndrom ist eine funktionelle Erkrankung sowohl des Dünn- als auch des Dickdarmes ohne eine erkennbare organische Ursache. Priv.-Doz. Dr. Ulrich Wahnschaffe von der Abteilung Gastroenterologie, Endokrinologie und Ernährungsmedizin der Klinik für Innere Medizin der Universität Greifswald betonte das multifaktorielle Geschehen hierbei, dessen Ursache nicht geklärt ist. Es gibt Hinweise auf eine gestörte gastrointestinale Funktion, auch scheinen psychische Einflüsse wie Stress und die genetische Disposition eine Rolle zu spielen. Auch eine bakterielle Fehlbesiedlung des Darms wird diskutiert. Laut Wahnschaffe profitiert die Untergruppe der Reizdarmpatienten, die starke Blähungen hat, von der Anwendung von Probiotika. Die Prävalenz in der Bevölkerung liegt bei 10 bis 20%, die Mehrzahl davon sind Frauen. Zur Diagnosestellung werden die typischen Symptome des Reizdarmes wie wiederkehrende Schmerzen, Stuhlunregelmäßigkeiten oder Blähungen bei gleichzeitig fehlenden organischen Symptomen herangezogen. Im Gegensatz zu chronisch entzündlichen Darmkrankheiten verlaufen die Schübe beim Reizdarm ohne entzündliche Veränderungen der Darmschleimhaut. Bei den chronisch entzündlichen Darmkrankheiten (CED) bestehen die Unterschiede vor allem in den befallenen Darmabschnitten und im Ausmaß der Entzündung, wie Dr. Franziska Plath, Internistin aus Stralsund, ausführte. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa gelten hier als die Prototypen der in Schüben verlaufenden CED. Während bei Colitis ulcerosa die endzündlichen Erscheinungen ausschließlich im Dick- und Mastdarm auftreten, kann bei Morbus Crohn der gesamte Verdauungstrakt vom Mund bis zum Anus betroffen sein. Bei Colitis ulcerosa ist die Oberfläche der Darmschleimhaut betroffen, bei Morbus Crohn können die entzündlichen Veränderungen die tieferen Schichten der gesamten Darmwand umfassen. Akute entzündliche Schübe werden medikamentös zumeist mit Corticosteroiden in hohen Dosen behandelt. Des Weiteren werden standardmäßig antientzündliche Substanzen wie Mesalazin (5-Amino-Salicylsäure), Azathioprin bzw. 6-Mercaptopurin verabreicht. Neben der konservativ-medikamentösen Therapie ist nicht selten eine chirurgische Intervention notwendig. ck

60 Jahre Scheele-Gesellschaft – ein Miraculum

Die Scheele-Gesellschaft wurde vor 60 Jahren gegründet und sorgt heute noch für gut gefüllte Vortragssäle. Das Jubiläum veranlasste ihren früheren langjährigen Vorsitzenden Prof. Dr. Thorsten Beyrich, Greifswald, den Gründen für dieses "Miraculum" nachzugehen.

Für Beyrich beruht der Erfolg der Scheele-Gesellschaft auf drei Gründen. Erstens sei sie ein "Unikum" als einzige Regionalgesellschaft der DPhG mit eigenem Namen. Sie will damit die Erinnerung an Carl Wilhelm Scheele (1742–1786) wachhalten, der als Apotheker arbeitete und als Chemiker maßgebliche Entdeckungen machte, die heute zum chemischen Grundwissen gehören. Er entdeckte das Glycerin, die festen Zustände vieler Pflanzensäuren und die Einheit der Redoxprozesse. Als ein "Pionier der anorganischen Analytik" hatte Scheele ein Arbeitsspektrum mit einzigartiger Breite gehabt.

Zweitens sei die Scheele-Gesellschaft eine Besonderheit, ein "Eximium", wie die inhaltliche Entwicklung der behandelten Themen zeige. Nach dem Krieg sollten die Vorträge den Apothekern den Zugang zur Wissenschaft erleichtern, seit 1970 gab es jeweils ein zentrales Vortragsthema, zunächst mit starkem Bezug zum Arzneimittel, später aber auch mit Themen, die den Apotheker als Kommunikator in den Vordergrund rückten. Seit den achtziger Jahren wird der Blick auf die Therapie einzelner Organe gerichtet.

Drittens bezeichnete Beyrich die Scheele-Gesellschaft als außerordentlich, als "Egregium". Bei den Tagungen würden auch Geheimnisse des Lebens jenseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis angesprochen. Denn "der Mensch ist Logos und Mythos, Geist und Seele" und "auch das Arzneimittel enthält beides: einst mehr Mythos, heute mehr Logos", so Beyrich. Als Fazit ist das Geheimnis des Erfolgs für ihn im Zitat von Theodor Fontane zu suchen: "Aus Begeisterung und Liebe fließt alles."

tmb

Ernährungsempfehlungen bei entzündlichen Darmerkrankungen

Neben Chemokinen und Adhäsionsmolekülen scheinen vor allem Zytokine, die von antigenpräsentierenden Zellen und T-Lymphozyten produziert werden, in der Pathogenese chronisch entzündlicher Darmerkrankungen von entscheidender Bedeutung zu sein , so Dr. Matthias Kraft, Oberarzt in der Abteilung Gastroenterologie, Endokrinologie und Ernährungsmedizin der Klinik für Innere Medizin der Universität Greifswald. Basierend auf neuen Erkenntnissen zur Immunpathogenese werden klinisch neue Therapiekonzepte getestet, die z. B. rekombinante antiinflammatorische Zytokine und neutralisierende Antikörper gegen proinflammatorische Zytokine und ihre Rezeptoren umfassen. Trotz dieser Fortschritte im Verständnis der Pathophysiologie und Erkenntnissen über die Bedeutung des mukosalen Immunsystems bleiben viele Fragen offen, so Kraft. Eine wesentliche Rolle scheint auch die genetische Prädisposition zu spielen. So wurde bereits das CARD15-Gen als Trigger identifiziert und man geht heute davon aus, dass CED durch Dysregulation des mukosalen Immunsystems und pathologische T-Zell-Reaktionen bei genetisch prädisponierten Patienten entsteht. Wenn sich auf der Basis einer genetischen Prädisposition eine Abwehrschwäche gegen invasive Bakterien und gleichzeitig eine pathologische Immunantwort gegen Antigene der normalen Darmflora entwickelt, dann kann es zur Ausbildung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen kommen. Der Wert einer enteralen Ernährungstherapie bei CED – vor allem bei jüngeren Patienten – ist seit Langem bekannt. Kraft empfahl darüber hinaus die Supplementation von

  • Eisen in Form von Eisensulfat- oder -gluconat (60 mg/Tag),
  • Calciumcarbonat 1000 mg/Tag,
  • Vitamin D: Cholecalciferol 800 IU/Tag,
  • Docosahexensäure und Eicosapentaensäure 1 g/Tag,
  • Magnesium: elementares Magnesium 300 mg/Tag,
  • Folsäure 800 mg/Tag,
  • Vitamin B12 1 mg/Tag oral oder parenteral.

Ob ein bestimmtes Ernährungsverhalten die Dauer der beschwerdefreien Abschnitte bei entzündlichen Darmerkrankungen positiv beeinflusst, wird diskutiert. Beim Reizdarmsyndrom zum Beispiel geben 65% der Patienten an, dass Nahrung der Auslösefaktor sei. Es bleibe den Betroffenen nur, so Kraft, ein Ernährungsprotokoll mit genauen Angaben der Beschwerden zu führen. Denkbar ist auch eine zweiwöchige Eliminationsdiät mit Auslassversuchen, um eventuelle Auslösefaktoren in der Nahrung bzw. vermutlich verträgliche Nahrungsmittel zu bestimmen. ck

Welcher Protonenhemmer ist der bessere?

In der Therapie der Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre und der Refluxösophagitis werden seit 1989 erfolgreich Protonenpumpenhemmer eingesetzt. Omeprazol war der erste Vertreter, der damals als ein "neuartiger Wirkstoff oder neuartiges Wirkprinzip mit klinischer Relevanz" bewertet wurde und als Sprunginnovation galt. Heute stehen mit Pantoprazol, Lansoprazol und Rabeprazol mehrere Nachfolgepräparate zur Verfügung. Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz vom Institut für Pharmazeutische Chemie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt versuchte in seinem Vortrag aufzuzeigen, ob durch diese Palette nur Kosten für das Gesundheitssystem entstehen oder ob auch der Patient profitieren kann.

Einsatzgebiete der Prazole sind die Ulcustherapie und gastroösophageale Refluxerkrankungen. Darüber hinaus werden sie zur Helicobacter-Eradikation (Tripeltherapie mit zwei Antibiotika) und zur Prophylaxe und Therapie von Komplikationen bei der Therapie mit nicht-steroidalen Antiphlogistika eingesetzt. Im Off-label-use werden sie auch zur Therapie des Reizmagensyndroms verwendet. Prazole zeigen in vieler Hinsicht große Ähnlichkeit in Struktur und Metabolismus, aber es gibt doch Unterschiede hinsichtlich ihrer physikochemischen Eigenschaften und ihrer Kinetik. Alle Prazole sind Prodrugs, die erst im sauren Milieu in die aktive Form umgewandelt werden. Diese bindet an die H+ /K+ -ATPase und blockiert sie irreversibel. Dadurch verringert sich die Säureproduktion im Magen, der pH-Wert des Magensaftes steigt. Als Folge können Magenwandverletzungen wie Schleimhauterosionen oder Ulcera besser abheilen.

Die verschiedenen Vertreter wirken unterschiedlich lang und beeinflussen den intragastralen pH-Wert unterschiedlich stark. Dies spiegelt sich auch in unterschiedlichen Abheilungsraten der Ulcera wieder, die je nach Studie unter einer vierwöchigen Therapie mit den Protonenpumpenhemmern zwischen 87% (Omeprazol) und 92% (Pantoprazol) lagen. Weiterhin unterscheiden sich die Prazole in ihrem Metabolismus. Sie werden vorwiegend über die Enzyme CYP3A4 und 2C19 metabolisiert, was zu unterschiedlichen Wechselwirkungen durch Enzyminduktion und -inhibition führen kann. Zum Beispiel induziert Omeprazol das für den Abbau von Theophyllin notwendige CYP1A2. So kann eine chronische Gabe dieses Prazols bei Asthmatikern einen Einfluss auf das Asthmageschehen haben. Ist eine solche Interaktion bekannt, sollte individuell der Einsatz eines anderen Prazols erwogen werden. Rabeprazol wird als einziges Prazol vorwiegend nicht-enzymatisch metabolisiert. Eine Eigenschaft, auf die in der Zukunft die zulassenden Behörden bei Neuzulassungen eines Wirkstoffes sicher immer höheren Wert legen werden. ck

Komplementärmedizin in der Onkologie

Unter komplementären Krebstherapien versteht man anerkannte Verfahren, die ergänzend zu den üblichen schulmedizinischen onkologischen Verfahren angewendet werden. Im Gegensatz zu alternativen Therapien, die als nicht anerkannt und nicht überprüft gelten und die anstelle konventioneller Verfahren empfohlen werden. Werden etablierte, komplementäre Methoden im Rahmen der supportiven Therapie mit dem Ziel einer verbesserten Symptombehandlung und Lebensqualität integriert, so spricht man von einer integrativen Onkologie. Als einen wesentlichen Faktor zur Anwendung der Komplementärmedizin bezeichnete Dr. Harald Matthes, Abt. Gastroenterologie des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe, Berlin, die generelle Auffassung von Gesundheit und Krankheit. Mit dem Konzept der Salutogenese könne das Anliegen der Komplementärmedizin gut erklärt werden, so Matthes. Es geht davon aus, dass der Patient neben einer von außen kommenden Behandlung seine inneren gesundheitsfördernden (salutogenen) Ressourcen aktivieren und somit zur Krankheitsüberwindung beitragen möchte. Im Geschehen einer Krebskrankheit suche der Patient nach Sinn und Kohärenz. Dabei gehe es nicht nur um Krankheitskontrolle und der Einstellung pathogenetisch relevanter Parameter, sondern um eine aktive Rolle des Patienten in der Krankheitsbewältigung und Therapie, um ein Gefühl der Machbarkeit und der Sinnhaftigkeit. Es gelte den Patienten zu befähigen, sich der Herausforderung zu stellen, sich auf eigene und fremde Ressourcen zur Krankheitsbewältigung zu besinnen und diese zu nutzen und dabei die eigenen persönlichen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Zudem werde dabei die Autonomie des Patienten gewahrt. Matthes erklärte die Tumorentstehung aus einer Störung der normalen Kommunikation zwischen Zelle, Stroma und Organen, sodass es zu einer Störung der Proliferationshemmung kommt. Das führe zu strukturellen und funktionellen Veränderungen, so Matthes. Die betroffenen Zellen reagieren aufgrund der Fehlinformationen mit einer erhöhten Proliferation (Hyperplasie) und einer gestörten Organisation (Dysplasie) sowie mit geweblichen Veränderungen (Metaplasie). Persistierende Störungen der Gewebeorganisation führten schließlich zu einer nicht mehr überzellulär regulierbaren Proliferation, es komme zur Migration der Zellen und zur Invasion in umliegendes Gewebe. Nach dem Salutogenesemodell sei es möglich, die gestörte Kommunikation wieder herzustellen, sodass es zu einer Stärkung der Abwehr von Krankheiten kommen kann. ck

Arzneimittelfälschungen – schmutzig, lebensgefährlich und sehr lukrativ

Das Internet bietet ideale Verbreitungsmöglichkeiten für Arzneimittelfälschungen und bei der Verfolgung der Fälscher besteht ein "massives Vollzugsdezifit" , erklärte Prof. Dr. Harald G. Schweim, Lehrstuhl "Drug Regulatory Affairs" der Universität Bonn. In Deutschland gebe es so gut wie keine Fälschungen bei Arzneimitteln, die sich ununterbrochen in der legalen Vertriebskette befinden. Dies sei jedoch anders, wenn ausländische Arzneimittelbroker involviert sind, wie Rückrufe in Großbritannien gezeigt hätten. Anders als in der Dritten Welt enthalten Fälschungen in den Industrieländern oft die deklarierten Wirkstoffe. Daher werde das Problem von Politikern in seiner Bedeutung oft verkannt. Doch würden die Fälschungen meist unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen hergestellt, in Europa auch zunehmend mit industriellen Geräten. Die Produkte einer "Charge" enthielten teilweise keinen, teilweise ausschließlich den Wirkstoff. Gesundheitliche Schäden oder Todesfälle durch Fälschungen seien aber oft nur schwer feststellbar, weil die direkte Kausalität nicht zu erkennen sei.

Die Gründe für die zunehmende Bedeutung von Arzneimittelfälschungen sieht Schweim in den ungeheuren Verdienstmöglichkeiten, den geringen Strafen, der leichten Verbreitungsmöglichkeit über illegale Anbieter im Internet als "Superhighway für Arzneimittelfälschungen" und den guten Möglichkeiten, die den Fälschern geboten würden. Eine besonders ergiebige Quelle sei der Arzneimittel- und Krankenhausmüll. In Indien würden daraus gebrauchte Packungen aussortiert und sogar Parenteraliaverpackungen ohne Hygienemaßnahmen mit Wasser neu befüllt und wieder in den Handel geschleust. Daher sollten Apotheker dafür sorgen, Arzneimittelmüll einzufärben oder zu schreddern, bevor dieser zur Verbrennung gebracht wird.

Zur Internetproblematik verwies Schweim auf sein ausführlich publiziertes Experiment mit einer gefälschten "Fake-Apotheke", die von vielen Testpersonen nicht als Fälschung erkannt wurde. Vielfach sei gar nicht bekannt, dass Online-Konsultationen bei Ärzten unzulässig sind. Als weiteres Problem komme das Vollzugsdefizit hinzu. Schweim nannte mehrere Beispiele offensichtlich illegaler Angebote im Netz, die er bei Behörden angezeigt habe, worauf er immer wieder nur hinhaltende Antworten bekommen habe. "Jeder Parksünder wird härter bestraft. Wir haben ein Vollzugsdefizit, weil der Versandhandel politisch gewollt ist," folgerte Schweim. Dagegen würden Arzneimittelfälschungen in Großbritannien viel intensiver verfolgt, was die vergleichsweise große Anzahl der dort ausgehobenen Fälscherwerkstätten erkläre. Diesem Vorbild sollte auch Deutschland folgen, riet Schweim. tmb

Prof. Dr. Manfred ­Schubert-Zsilavecz
Foto: DAZ/ck
Priv.-Doz. Dr. Ulrich Wahnschaffe
Foto: DAZ/ck
Dr. Franziska Plath
Foto: DAZ/ck
Prof. Dr. Thorsten Beyrich
Foto: DAZ/tmb
Dr. Matthias Kraft
Foto: DAZ/ck

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