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Arzneimittel und Therapie
Nebenwirkung von Contergan® aufgeklärt
Am 1. Oktober 1957 wurde das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan® auf den Markt gebracht: "Die ungewöhnliche Verträglichkeit von Contergan forte wurde in zahlreichen tierexperimentellen Untersuchungen und in umfangreichen klinischen Prüfungen nachgewiesen", hieß es in der Packungsbeilage. Auch Schwangeren und Kindern wurde das Medikament wegen seiner unbedenklichen Wirkung empfohlen. Es senkte weder den Blutdruck noch machte es süchtig wie die derzeit üblichen Schlafmittel aus der Klasse der Barbiturate. Zwei Jahre nach der Markteinführung wurde zunehmend über gehäuft auftretende Missbildungen bei Neugeborenen berichtet, und 1961 äußerte der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz den Verdacht, es könne einen Zusammenhang zwischen Contergan und den Missbildungen geben. Am 27. November 1961 wurde das Mittel vom Markt genommen. In den vier Jahren des Verkaufs von Contergan wurden allein in Deutschland etwa 5000 Kinder mit Missbildungen geboren, mehr als 12.000 waren es weltweit.
Teratogene Umwandlungsprodukte von Thalidomid
In der Leber wird Thalidomid, der Wirkstoff des Contergans, in mehr als hundert Metabolite umgewandelt. Während Thalidomid selbst keine Missbildungen verursacht, wurde jetzt festgestellt, dass einzelne dieser Umwandlungsprodukte die Bildung neuer Blutgefäße hemmen. Die Untersuchungen wurden an Hühnerembryonen und Zellkulturen durchgeführt; dies könnte erklären, dass die Nebenwirkungen des Medikaments seinerzeit nicht erkannt wurden, da die Metabolisierung von Thalidomid von Art zu Art unterschiedlich verlaufen kann und bei den verwendeten Labortieren keine Fehlbildungen beobachtet wurden.
Die Bildung neuer Blutgefäße (Angiogenese) wird allerdings nur in bestimmten Phasen der Embryonalentwicklung gehemmt. Damit lassen sich die für Contergan typischen Missbildungen der Arme und Beine erklären und auch warum keine inneren Organe geschädigt wurden. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass sich neu bildende, nicht aber reife Blutgefäße angegriffen wurden. Während der Entwicklung der Extremitäten gibt es offensichtlich zahlreiche derartige angiogene, noch unreife Gefäße. Kommt es zur Sauerstoffunterversorgung und zu einer Unterbrechung der Signalweiterleitung wird die Apoptose, der programmierte Zelltod, eingeleitet, der dann zur Missbildung der späteren Arme und Beine führt. Die Extremitäten entwickeln sich zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt der Embryonalentwicklung, wenn die Bildung der Blutgefäße in den Organen bereits soweit fortgeschritten ist, dass es zu keiner Schädigung mehr kommt. Dies erklärt, warum keine Kinder mit Fehlbildungen an den inneren Organen geboren wurden. Eine Thalidomid-Medikation in einer früheren Phase der Organentwicklung hat wahrscheinlich zum Absterben des Fetus geführt.
Die Wirkung von Thalidomid (oder strukturell verwandter Verbindungen, z. B. Lenalidomid) gegen bestimmte Tumoren wie das Multiple Myelom lässt sich auch mit den veröffentlichten Ergebnissen erklären: Werden keine neuen Blutgefäße gebildet, kann der heranwachsende Tumor nicht versorgt werden, als Folge stirbt er ab.
Quelle
Therapontos, C.; et al.: Thalidomide induces limb defects by preventing angiogenic outgrowth during early limb formation. Proc. Natl. Acad. Sci. 2009: 106(21); 8573-8578.
Dr. Hans-Peter Hanssen
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