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Feuilleton
Die Flussperlmuschel – ein Tier von höchstem Wert
Wilhelm Israel forderte nicht als einziger Naturfreund seiner Zeit, die Flussperlmuschel zu schützen. Der Geraer Apotheker hatte Anfang des 20. Jahrhunderts im sächsischen Vogtland beobachtet, dass die Populationen der Europäischen Flussperlmuschel, Margaritifera margaritifera, zusehends abnahmen. Zwanzig Jahre später wurde in Sachsen die Perlenfischerei mangels Rentabilität endgültig aufgegeben. Dies hielt jedoch den Rückgang der Populationen nicht auf. Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme im Auftrag der sächsischen Landesforstverwaltung wurden 1938 der Triebelbach, der Tetterweinbach sowie die Würschnitz als erste mitteleuropäische Perlgewässer unter Naturschutz gestellt.
Nachhaltige Nutzung der "Schatzmuschel"
Die akute Bedrohung der vogtländischen Flussperlmuschelbänke war nicht auf die jahrhundertelange Perlenfischerei zurückzuführen. Bereits im frühen Mittelalter hatten die Einheimischen durch Bergleute und Abenteurer aus Venedig von den Kostbarkeiten in ihren Gewässern erfahren und diese für sich genutzt. Um die wertvollen Tierbestände zu schonen, begann man bereits im 16. Jahrhundert, kontrolliert nach Perlen zu fischen. 1621 stellte Kurfürst Johann Georg I. das Fischen der "Schatzmuschel" unter landesherrliches Hoheitsrecht und erteilte dem Oelsnitzer Tuchmacher Moritz Schmirler erstmals das Monopolrecht. Bis zur Einstellung der Perlenfischerei wurde es innerhalb der Familie weitervererbt.
Schmirler verstand es, die Perlen so zu ernten, dass die Muscheln keinen Schaden nahmen. Er teilte die Gewässer in Schläge ein, die nur alle zehn Jahre befischt wurden. Zudem entwickelte er einen Schlüssel, mit dem er die Schalen geschickt öffnen konnte. Nach Entnahme der Perlen wurden die Tiere wieder in das Gewässer ausgesetzt. Muscheln mit heranwachsenden Perlen wurden gekennzeichnet und erst Jahre später wieder kontrolliert. Infolge politischer Konflikte vergaß man aber ab dem 17. Jahrhundert die strengen Regeln für den schonenden Umgang mit den Perlgewässern. Auch beeinträchtigten die Holzflößerei und Abwässer zusehends die Populationen.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gingen im Vogtland die Perlenerträge dramatisch zurück. Deshalb entwickelte der Oelsnitzer Moritz Schmerler die Idee, die Schalen abgestorbener Tiere zu Perlmutt zu verarbeiten. Schon bald entstanden die ersten Muschelschleifereien, in denen Schmuck, Souvenirs und Intarsien hergestellt wurden. Wegen der immensen Nachfrage musste man sogar aus dem Ausland Muschelschalen importieren.
Symbiose mit Bachforellen
Mittlerweile beschäftigten sich aber auch Naturwissenschaftler mit den biologischen Besonderheiten von M. margaritifera , so der Direktor des Dresdner Naturalienkabinetts Dr. Carl Heinrich Titius (1744 – 1813) und der 2. Inspektor Dr. Friedrich August Ludwig Thienemann (1793 – 1858). Auch heimat- und naturverbundene Menschen engagierten sich nun für den praktischen Schutz der hochsensiblen Mollusken.
Die Gattung Margaritifera hat ein Alter von 65 Millionen Jahren. In historischer Zeit war sie auf der nördlichen Hemisphäre weit verbreitet. An die Bedingungen karger Lebensräume angepasst, hat die Europäische Flussperlmuschel eine komplexe Strategie entwickelt, um in den extrem nahrungs- und kalkarmen Oberläufen von Fließgewässern überleben zu können. Mit Eintritt der Geschlechtsreife im 15. Lebensjahr dient ihr Energiehaushalt überwiegend der Fortpflanzung. Die weiblichen Tiere legen pro Saison bis zu zwei Millionen Eier in ihre Kiementaschen, in denen sie durch die im Wasser schwimmenden Spermien der Männchen befruchtet werden. Bis zum Hochsommer entwickeln sich die Eier zu beweglichen 0,05 mm langen Larven oder Glochidien. Diese verlassen die Bruttaschen der Muttertiere und siedeln sich nun auf den Kiemen von Bachforellen (Salmo trutta fario) oder Lachsen (Salmo salar) an.
Während der Metamorphose ernähren sich die Glochidien vom Blut der Wirtstiere, ohne diese allerdings zu gefährden. Nach zehn Monaten sind die Imagines mit 0,5 mm zehnmal so lang wie die Eier. Nachdem sie die Kiemen der Fische verlassen haben, graben sie sich zu halber Länge in die Sedimente des Gewässergrunds ein. Erreichen Jungmuscheln innerhalb von drei Monaten die doppelte Größe, können sie den ersten Winter überleben.
In günstigen Fällen können sie über hundert Jahre alt werden. Die "Jahresschichten" an den Schalen toter Tiere sind – vergleichbar den Jahresringen von Bäumen – Indikatoren für deren Stoffwechselaktivität in der Vergangenheit und damit für die damalige Gewässerqualität.
Schutzmaßnahmen mit ganzheitlichem Ansatz
Viele Millionen Jahre lang waren die Sedimente für die Muscheln "eine sichere Kinderstube", doch innerhalb nur weniger Jahrzehnte wurden sie für Jungtiere zur "Todesfalle": Sie ersticken unter Ton und organischem Schlick, die infolge industrieller Abwässer und intensiver Landwirtschaft in die Gewässer gelangen.
In der DDR wurde die Flussperlmuschel bereits 1955 unter Naturschutz gestellt, in der Bundesrepublik erst 25 Jahre später. Die Rettung vor dem Aussterben ist indessen nur möglich, wenn ihre spezifischen Ansprüche an die Umweltbedingungen wiederhergestellt werden. Deshalb hat Jürgen Geist, Juniorprofessor für Funktionelle Aquatische Ökologie und Fischbiologie an der TU München, verschiedene Standorte von Flussperlmuscheln eingehend untersucht. In seiner Dissertation (2005) zeigt er Gründe für die Dezimierung der Populationen, aber auch Perspektiven für deren Regeneration auf.
Die Ursachen für den Bestandsrückgang müssen jeweils auf regionaler Ebene differenziert betrachtet werden. Als Schutzmaßnahmen empfiehlt Geist, sowohl die genetische Vielfalt der Art zu sichern als auch ihre Umweltansprüche in allen Stadien ihres Entwicklungszyklus zu befriedigen.
Letztendlich profitiert nicht nur die Flussperlmuschel selbst von diesen Schutzmaßnahmen, sondern auch andere gefährdete Lebewesen aus ihrem Umfeld finden wieder zusagende Existenzbedingungen. Bei der Untersuchung der Wirtsfischbestände, der Artenvielfalt und der Sedimente in europäischen Muschelgewässern zeigte sich zwar, dass dort nur wenige Fischarten vorkommen, weil diese Lebensräume extrem nährstoffarm und sauer sind. Dennoch sind geringe Vermehrungsquoten der Muscheln nur selten auf einen Mangel an Wirtsfischen zurückzuführen.
Erste Rettungsaktionen vor zwanzig Jahren
Unabhängig von dieser neuen Studie gibt es viele Projekte, mit denen man die Bestände der Muscheln stabilisiert und sogar vermehrt hat. In Böhmen zum Beispiel werden seit mehr als 20 Jahren durch "halbnatürliche Zucht" Larven von hochträchtigen Altweibchen gewonnen und in Bottichen mit Bachforellen zusammengebracht. Nach der Metamorphose werden die Jungtiere noch zwei bis drei Monate in menschlicher Obhut gehalten und danach ausgewildert. Langfristiges Ziel ist jedoch, dass die Tiere sich selbstständig vermehren. Zugleich möchte man wieder ein größeres Aufkommen von Bachforellen in den Gewässern erreichen.
Auch in der Lüneburger Heide engagieren sich Naturfreunde unter Federführung des Bundesamts für Naturschutz für den Fortbestand der Flussperlmuscheln in der Lutter. Hier wurden die Uferflächen an den Gewässern sowie das Staurecht erworben und Fischteiche übernommen, um die Einträge schädlicher Stoffe zu reduzieren. Des Weiteren wurden die Landwirtschaft eingeschränkt und die Fließgewässer im gesamten Einzugsgebiet saniert. Durch die Anlage und den Betrieb von Sandfängen und ein gezieltes Staustufenmanagement konnte die Sandfracht reduziert werden. Seit der Wiederherstellung der artspezifischen Lebensbedingungen werden jedes Jahr die autochthonen Forellen mit Glochidien infiziert. Mittlerweile sind die ältesten Jungmuscheln zu geschlechtsreifen Tieren herangewachsen, die sich zumindest zum Teil sogar schon ohne menschliche Hilfe vermehren können.
"Biotopschutz ohne Grenzen" heißt das Motto des bayerisch-sächsischen Life-Projekts "Großmuscheln" für die Sanierung der Bachläufe an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Das Sächsische Interreg IIIA-Projekt "Flussperlmuschel Dreiländereck" wurde 2001 ins Leben gerufen. Bei der Infektion von Forellen mit vogtländischer Muschelbrut nutzt man die Erfahrungen der tschechischen Kollegen. Mit der Wiederherstellung geeigneter Lebensbedingungen für die Leitart Margaritifera margaritifera siedeln sich in der Region allmählich auch wieder der Edelkrebs, der Eisvogel, die Prachtlibelle und andere bedrohte Tierarten an.
Ab 30. Oktober ist die Wanderausstellung im Herrenhaus Röcknitz in Thallwitz zu sehen.
Reinhard Wylegalla
AusstellungNaturkundemuseum Leipzig, Lortzingstraße 3, 04105 Leipzig, Tel. und Fax (0341) 9822123, www.leipzig.de
Geöffnet: dienstags bis donnerstags 9 bis 18 Uhr, freitags 9 bis 13 Uhr, samstags und sonntags 10 bis 16 Uhr
Sächsische Landesstiftung Natur und Umwelt, Naturschutzfonds
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