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Feuilleton
Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften
Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus mokierten sich über das barbarische Latein ihrer Zeitgenossen, und Martin Luther überschüttete in seiner "Disputatio contra scholasticam theologiam" die Theologieprofessoren mit beißendem Spott. Der Abt Johannes Trithemius war zwar über jegliche Polemik erhaben, in seinem "Catalogus illustrium virorum Germaniae" strafte er die Leipziger Gelehrten aber auf subtile Weise, indem er sie einfach unerwähnt ließ. Die anonymen Verfasser der Dunkelmännerbriefe ("Epistulae obscurorum virorum", 1514) behaupteten hingegen, die Leipziger Magister seien "nur an Klüngeleien, Festessen und ihrer Köchin" interessiert.
Die Beschimpften hatten indessen ein dickes Fell und wussten sich gegen verbale Anfeindungen zu wehren: "Item disse universitet ist noch Paris die beruhmteste in Deutschenn landen, in welcher disser universitet die resumptiones artibus gnugsam durch etzliche sere gelahrte magistros gehalden wurden", stellten um 1500 vier Magister der Artistenfakultät klar. Mit der Behauptung, selbst an den italienischen Universitäten würden nicht so viele Studenten immatrikuliert wie in Leipzig, setzten sie sogar noch eins drauf. Das war noch nicht einmal übertrieben: Innerhalb weniger Jahrzehnte nach ihrer Gründung anno 1409 hatte sich die Alma mater Lipsiensis in Konkurrenz mit den älteren Universitäten in Prag, Wien, Heidelberg, Köln und Erfurt sowie mehreren jüngeren Universitäten zu einer der bedeutendsten und meistbesuchten im spätmittelalterlichen Deutschen Reich entwickelt.
Vorläufer des DudenAb 1725 wirkte Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Seine Idee, auf der Basis des Sächsischen eine deutsche Schriftnorm zu entwickeln, war allerdings nicht unumstritten. Johann Jakob Bodmer wetterte in seiner Schrift "Lob der Mundart" gegen den "tyrannischen Sprachrichter aus Sachsen". Mit seiner Bemerkung, keinem Volk stehe es zu, andere sprachlich zu knechten, brachte der Zürcher Professor die Position vieler seiner Kollegen auf den Punkt. Erst nach Gottscheds Tod 1766 gaben die oberdeutschen Kontrahenten klein bei, und acht Jahre später schlichtete Kaiserin Maria Theresia den barocken Sprachenstreit per Erlass zugunsten des Leipziger Gelehrten.
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Ein Ableger der Universität Prag
Der glückliche Umstand, dass Leipzig – um 1400 eine prosperierende Stadt mit etwa 5000 Einwohnern – als Standort für eine neue Universität in das Blickfeld rückte, ist vor allem den dramatischen Geschehnissen an der Universität Prag zu jener Zeit zu verdanken. Deren Angehörige gehörten je nach Herkunft zur Böhmischen, Bayerischen, Sächsischen oder Polnischen Nation. Die letztere umfasste neben Studenten aus Polen und Litauen auch solche aus dem Herrschaftsgebiet der Wettiner in Sachsen und Thüringen, während die Sächsische Nation aus Nordwestdeutschland, u. a. dem heutigen Niedersachsen, kam. Als König Wenzel IV. im Zusammenhang mit der Hussiten-Bewegung durch das Kuttenberger Dekret die "böhmische Nation" gegenüber den anderen bevorzugte, kam es zum offenen Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen. Im Mai 1409 verließen knapp tausend deutsche Professoren und Studenten Prag, um in der damals zur Markgrafschaft Meißen gehörenden Handelsstadt Leipzig den Lehrbetrieb fortzusetzen. Mit ihnen kehrte auch der Apotheker Johann Huter Böhmen den Rücken. Beinahe zeitgleich mit der Universitätsgründung eröffnete er im Paulinerkloster, das der Universität überlassen worden war, eine Apotheke. Seit 1429 befindet sich Leipzigs älteste Offizin in der Grimmaischen Straße, später erhielt sie den Beinamen "zum Goldenen Löwen".
Umgehend nach dem Einzug der Professoren und Studenten aus Prag stellte die Stadt Leipzig ein Gebäude in der Petersstraße für die Gründung einer Artistenfakultät zur Verfügung. Die wettinischen Landesherren, Friedrich der Streitbare und Wilhelm der Reiche, bewilligten der Universität jährlich 500 Gulden und vermachten der jungen Alma mater zwei Kollegien in der Ritterstraße. Am 9. September 1409 bestätigte Papst Alexander V. mit Brief und Siegel das "Studium generale", und am 2. Dezember desselben Jahres wurde Johannes Otto von Münsterberg zum Rektor gewählt. Noch am gleichen Tag erfolgte im Refektorium des Augustinerchorherrenstifts St. Thomas die feierliche Eröffnung der viertältesten Universität im Gebiet der heutigen Bundesrepublik.
1415 wurde die Medizinische Fakultät gegründet, ab 1446 konnte man in Leipzig auch Jurisprudenz studieren. Bis zur offiziellen Einführung der Reformation zu Pfingsten 1539 immatrikulierten sich an der Alma mater Lipsiensis 38.000 Studiosi aus dem In- und Ausland. Das Studium erfolgte – ebenso wie an anderen Universitäten – nach einem traditionellen Schema, dem Kanon. Die Forschung gehörte hingegen nicht zu den obligatorischen Aufgaben der Professoren. Die meisten Absolventen erwartete eine berufliche Zukunft im Dienst der Landesherren, der Städte oder des Klerus.
1485 wurde Sachsen geteilt. Der Kurkreis (Wittenberg), eine Hälfte der Pfalz Sachsen, das Vogtland, die wettinischen Gebiete Frankens um Coburg, das südliche Pleißner- und Osterland sowie das Bistum Naumburg und die thüringischen Grafschaften Reuß, Gleichen und Kirchberg standen fortan unter der Herrschaft oder Lehnshoheit des Kurfürsten Ernst. Dessen jüngerer Bruder Herzog Albrecht III. erhielt die Markgrafschaft Meißen, das nördliche Pleißner- und Osterland, Nordthüringen, das Bistum Merseburg, die Abtei Quedlinburg sowie die Lehnshoheit über einige Thüringer Grafen.
Leipzig und die Reformation
In Wittenberg gründete Kurfürst Friedrich der Weise aus der ernestinischen Linie 1502 eine neue Universität, die Leucorea, an der ab 1508 Martin Luther lehrte. Nachdem dieser 1517 mit der Veröffentlichung seiner 95 Thesen über die Grenzen Kursachsens hinaus Furore gemacht hatte, zog die Leucorea viele Gelehrte und Studenten an, u. a. auch Philipp Melanchthon (1518), und wurde eine der bedeutendsten Hochschulen des 16. Jahrhunderts.
Im Herzogtum Sachsen hatte Georg der Bärtige aus der albertinischen Linie während seiner langen Regentschaft (1500 –1539) mit allen Mitteln die Verbreitung der Lehre Luthers zu unterdrücken versucht. In einer Disputation mit den Reformatoren Luther, Karlstadt und Melanchthon stellte der Leipziger Theologe Johannes Eck klar, dass die Alma mater Lipsiensis ohne Wenn und Aber auf der katholischen Lehre beharre. Doch viele Leipziger Bürger ließen sich davon nicht beeindrucken und besuchten heimlich lutherische Gottesdienste im benachbarten Kurfürstentum.
Erst Georgs Nachfolger Herzog Heinrich (1539 – 1541) führte die Reformation im Herzogtum ein, wobei er den Widerstand vonseiten der Universität überwand. In einer Disputation mit den protestantischen Theologen Caspar Cruciger und Friedrich Myconius verteidigten die papsttreuen Theologieprofessoren zwar noch einmal mit Vehemenz ihre Position, doch unter dem Einfluss von Melanchthon unterzeichneten die Leipziger Professoren schließlich das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana, 1530).
Ältester "Hortus medicus" Deutschlands
Heinrichs Sohn Moritz (1541 –1553) förderte die Alma mater Lipsiensis und stattete sie mit weiteren Mitteln aus. So gab es im Wintersemester 1542/43 an der Artistenfakultät, an der die "septem artes liberales" als philologisch-philosophische Grundausbildung für das anschließende Studium der Theologie, der Medizin oder der Rechtswissenschaft gelehrt wurden, sieben große und sechs kleine Vorlesungen. Zeitgleich wurde der botanische Garten angelegt – der älteste Deutschlands und nach den Gärten in Padua, Pisa, Florenz und Bologna einer der ältesten weltweit. Als "Hortus medicus" diente er zum Studium der Arzneipflanzen. Laut einer Beschreibung aus dem Jahr 1580 lag er damals an der Nordseite der Paulinerkirche.
Die Aufsicht über den "Hortus medicus" führte stets ein Mediziner. Sein bedeutendster Direktor war August Quirinus Rivinus (eigentlich "Bachmann", 1652 –1723). Nach dem Studium in Leipzig und Helmstedt hatte er sich 1676 in seiner Heimatstadt Leipzig als praktischer Arzt niedergelassen. 1688 wurde er Mitglied der Medizinischen Fakultät, ab 1691 hielt er Vorlesungen über Physiologie und Botanik, 1701 wurde er Professor für Pathologie und später Ordinarius für Therapie.
Rivinus setzte sich gegen die Anwendung unwirksamer und gefährlicher Drogen ein. Auch entwickelte er ein botanisches Klassifikationssystem, das sich an der Blütenkrone als differenzierendes Merkmal orientiert. Er vertrat die morphologischen und terminologischen Prinzipien des Philosophen und Botanikers Joachim Jungius und den Standpunkt, dass im Sinne einer binären Nomenklatur bei jeder Art der Gattungsname zu nennen sei, dem der Artname als Adjektiv folgen müsse.
Neue Impulse im 18. Jahrhundert
Auch dem Wirken vieler anderer universell bewanderter Ärzte – erst im 19. Jahrhundert spezialisierten sie sich zusehends – verdankte die Leipziger Universität ihren guten Ruf. So entwickelte Johann Zacharias Platner aus Chemnitz (1694 – 1747) nach dem Medizinstudium in der Messestadt ein bemerkenswertes chirurgisches Talent, ohne dabei aber die internistische Betrachtungsweise aus dem Blickfeld zu verlieren. Sein Sohn Ernst (1744 – 1818) war Professor für Physiologie und hielt darüber hinaus Vorlesungen über Augenkrankheiten, Logik, Metaphysik, Moralphilosophie und Ästhetik. Johann Ernst Hebenstreit (1703 – 1757) beschäftigte sich mit physiologischen, chirurgischen und forensischen Forschungen. Vor dem Eintritt in die Universität hatte er als mineralogisch versierter Naturforscher im Auftrag des sächsischen Hofs Nordafrika bereist. Sein Begleiter und späterer Kollege Christian Gottlieb Ludwig (1709 – 1773) hatte nicht nur umfassende botanische Kenntnisse, sondern behandelte auch erfolgreich Augenkrankheiten und diagnostizierte als einer der ersten Ärzte mit der von Auenbrugger entwickelten Perkussion.
Von der Chemiatrie zur Chemie
Erst 1704 erhielt die Medizinische Fakultät ein Theatrum anatomicum und sechs Jahre später ein fünftes Ordinariat für "Chymie" – neben den bestehenden Lehrstühlen für Chirurgie, Anatomie, Pathologie und Therapie. Der damalige Kurfürst August der Starke förderte die Alchemie und Chemiatrie, und diesem Interesse ist ja letztendlich auch die Herstellung des ersten europäischen Porzellans vor genau 300 Jahren zu verdanken (Apotheker Johann Friedrich Böttger, Meißen 1709).
1805 wurde im Keller der Pleißenburg – wo wenige Jahrzehnte später das Neue Rathaus erbaut wurde – das erste chemische Universitätslabor eröffnet. 1835 erhielt die Philosophische Fakultät ein Ordinariat für Technische Chemie. Zusammen mit dem Ordinariat für Chemie der Medizinischen Fakultät bildete es die Grundlage für die Blütezeit der Naturwissenschaften an der Alma mater Lipsiensis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Samuel Hahnemann und Willmar Schwabe
Einer von zahlreichen Leipziger Studenten, die Pharmaziegeschichte schrieben, war Carl Emil Willmar Schwabe. 1839 im Vogtland zur Welt gekommen, hatte sich der gelernte Apotheker 1861 an der Leipziger Universität immatrikuliert und sich dort mit der Lehre Christian Friedrich Samuel Hahnemanns beschäftigt. Auch dieser hatte einst in der sächsischen Messestadt studiert und war 1811 als Arzt dorthin zurückgekehrt. Seine Vorlesungen über Homöopathie wurden aber an der Medizinischen Fakultät nicht gerade mit Euphorie aufgenommen. Auch der Apothekerschaft war Hahnemann höchst suspekt, weil er die Arzneien für seine Patienten selbst herstellte. Nachdem drei Apotheker 1821 vor Gericht ihr Dispensierrecht erfolgreich verteidigt hatten, zog Hahnemann nach Köthen weiter.
Schwabe war hingegen von Hahnemanns Lehre begeistert und leitete nach der Promotion in Pharmazie von 1863 bis 1865 die "Homöopathische Central-Apotheke Täschner & Co.", die aus der 1849 gegründeten Homöopathischen Dispensieranstalt der Leipziger Apotheken hervorgegangen war. 1865 gründete er mit der "Homöopathischen Central-Officin Dr. Willmar Schwabe" ein eigenes Unternehmen. Das "Grosso- und Importgeschäft homöopathischer Fabrikate" war die Keimzelle der heutigen Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG und der Deutschen Homöopathie-Union.
Professoren der Chemie und Pharmazie
Die großen Leistungen der Leipziger Chemie sind mit renommierten Wissenschaftlern wie Hermann Kolbe (1865 – 1884 Ordinarius), Johannes Wislicenus (1885 – 1902) und Gustav Heinrich Wiedemann (1871 –1887) verbunden. Wilhelm Ostwald (1887 – 1906) wurde 1909 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Weitere verdiente Chemiker der jüngeren Vergangenheit sind Ernst Beckmann (1897 – 1912), Arthur Hantzsch (1903 – 1930) und Burckhardt Helferich (1930–1945).
Karl Hugo Friedrich Bauer (1874 – 1944), ein in Stuttgart geborener und in Würzburg promovierter Chemiker (über Cyanursäurederivate, 1902), wurde 1926 als Professor für Pharmazeutische Chemie an die Universität Leipzig berufen, wo er 1938 die Pharmazeutische Chemie aus dem Verbund der Chemischen Institute herauslöste und ein eigenes Institut für Pharmazie gründete.
1994 wurde an der Leipziger Alma mater eine Fakultät für Biowissenschaften, Pharmazie und Psychologie als eine von nunmehr 14 Fakultäten neu gegründet.
Reinhard Wylegalla
AusstellungStadtgeschichtliches Museum, Altes Rathaus, Markt 1, 04109 Leipzig
Tel. (03 41) 9 73 01 70, Fax 9 73 01 79
Geöffnet: dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr
Bücher zur Ausstellung: "Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften": Band 1 Essays, 384 Seiten, 350 farb. Abb.; Band 2 Katalog, 480 Seiten, 600 farb. Abb., jeweils 25,– Euro
ISBN: 978-3-940319-60-9 (Bd. 1), 978-3-940319-61-6 (Bd. 2),
978-3-940319-62-3 (Bd. 1 und 2 in Schuber)
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