Arzneimittel und Therapie

Sind Retroviren für chronische Müdigkeit verantwortlich?

Das chronische Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom ist eine unscharf definierte Erkrankung, die neben der charakteristischen geistigen und körperlichen Erschöpfung eine spezifische Kombination weiterer Symptome zeigt. Dazu gehören z. B. Kopf-, Hals-, Gelenk- und Muskelschmerzen, aber auch Schlaf-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. US-Wissenschaftler haben jetzt für die überwiegende Mehrzahl der Patienten Antikörper gegen ein Retrovirus nachgewiesen. Zwei Drittel der Patienten waren mit dem Virus infiziert.
Immer erschöpft? Zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen, zumeist Frauen, leiden in Deutschland am chronischen Müdigkeitssyndrom. Ein vor Kurzem entdecktes Retrovirus könnte Ursache der Erkrankung sein.
Foto: Barmer

Schätzungen zufolge leiden in Deutschland 300.000 bis 1,5 Millionen Menschen aller Altersgruppen am chronischen Müdigkeits- und Erschöpfungssyndrom (CFS, Chronic Fatigue Syndrome). Weltweit soll es mehr als 17 Millionen Erkrankte geben. Am häufigsten erkranken Menschen im Alter zwischen 30 bis 45 Jahren; Frauen sind häufiger betroffen als Männer (ca. 75% der Erkrankten sind Frauen). Die Schwankungen in den Schätzungen beruhen unter anderem auf unterschiedlichen Auslegungen des Krankheitsbilds. Die genauen Ursachen des chronischen Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndroms sind bislang nicht bekannt. Neuere Untersuchungen legten jedoch die Vermutung nahe, dass es sich um eine Fehlregulation des Immunsystems handelt.

Retroviren als Ursache des CFS?

Amerikanische Wissenschaftler konnten jetzt bei 68 von 101 CFS-Patienten (67%) Gene des Gammaretrovirus XMRV (Xenotropic murine leukemia virus-related virus) in mononukleären Zellen des peripheren Bluts nachweisen. Bei gesunden Kontrollpersonen waren hingegen weniger als 4% infiziert. Eine weitere Studie mit 300 CFS-Patienten zeigte, dass 95% Antikörper gegen das Virus haben. Darüber hinaus wurde die potenzielle Infektiösität des Virus in Zellkulturen bestimmt. Gammaretroviren lösen bei vielen Tieren Leukämien und Lymphome aus. Beim Menschen wurde XMRV erstmals 2006 von US-Forschern in Prostatakrebszellen nachgewiesen. Es ist mit Prostatakrebs, besonders in fortgeschrittenem Stadium, assoziiert.

Ziel weiterer Untersuchungen ist es, auch andere Viren wie das Epstein-Barr-Virus und Herpesviren zu untersuchen, die im Zusammenhang mit dem chronischen Müdigkeitssyndrom oft gefunden werden. Darüber hinaus soll die Bedeutung des Gammaretrovirus XMRV bei der Entstehung von Krebs grundsätzlich geklärt werden: Es ist nachgewiesen, dass CFS-Patienten ein erhöhtes Krebsrisiko haben. Es muss weiterhin untersucht werden, ob das Virus die Ursache oder "nur" eine Begleiterscheinung des Syndroms ist. Die Wissenschaftler halten es für möglich, dass nach einer Infektion andere, zusätzliche Faktoren zur Entstehung der Krankheit von Bedeutung sind. Es ist auch durchaus möglich, dass das Virus im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen, etwa der Fibromyalgie von Bedeutung ist.

Die Wissenschaftler beabsichtigen, die Übertragung des Virus unter realen Bedingungen zu untersuchen, zumal Fälle von einem regelrechten Ausbruch der Erkrankung bekannt sind. Dabei wurden ähnliche Infektionsraten des Gammavirus beobachtet. Weiterhin weisen die Studien auf mögliche künftige medikamentöse Therapien hin, etwa mit antiviralen Medikamenten. Deren Wirksamkeit wäre ein zusätzlicher Beleg für eine infektiöse Genese des chronischen Erschöpfungssyndroms.

 

Quelle

Lombardi, V.C.; et al.: Detection of an infectious retrovirus, XMRV, in blood cells of patients with chronic fatigue syndrome. Science 2009; 326(5952), 585 – 589.

Schlaberg, R.; et al.: XMRV is present in malignant prostatic epithelium and is associated with prostate cancer, especially high-grade tumors. Proc. Natl. Acad. Sci. 2009; 106(38):16351 –16356.

 


Dr. Hans-Peter Hanssen

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Mehr als nur müde:

Was ist eigentlich Fatigue?

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