Gesundheitspolitik

Sichere Arzneimittelversorgung

... gefährdet durch die Globalisierung?
Vor wenigen Tagen erschien in der New York Times1 ein Artikel, der sich mit der sicheren Arzneimittelversorgung vor dem Hintergrund der Globalisierung beschäftigte und wohl auch deutsche Gesundheitspolitiker nachdenklich stimmen sollte. Er soll im Folgenden referiert und um einige deutsche Spezifika ergänzt werden.
Abhängig von China Die Arzneimittelindustrie ist in vielen Bereichen weltweit bereits heute vom Arzneistofflieferant China abhängig.

Als 2004 die Firma Bristol-Myers Squibb ankündigte, ihre Fabrik in Ost-Syracuse im Staat New York zu schließen, war kaum einem Amerikaner bewusst, dass damit die letzte Penicillin-herstellende Fabrik auf amerikanischem Boden geschlossen wurde und nur wenige Menschen dachten über die Folgen für die Versorgungssicherheit mit Antibiotika nach. "Im Fokus standen damals in erster Linie die Arbeitsplatzverluste", sagte Rebecca Goldsmith2 , eine Firmensprecherin.

Aber jetzt wachsen unter Experten und bei Politikern in den USA immer mehr die Sorgen, dass die Nation bei lebenswichtigen Arzneimitteln zu sehr vom Ausland abhängig ist.

Die Kritiker verlangen nach einem Gesetz, dass bestimmte Arzneimittel in den USA hergestellt, schnell "hochfahrbare" Notfallproduktionen vorgehalten oder zumindest staatliche Lagervorräte angelegt werden müssen. Der Vorwurf: Der Mangel an Regulierung und Qualitätssicherung der Wirkstoffversorgung eröffne nicht nur Raum für Versorgungsengpässe, sondern auch für gefälschte Ausgangsstoffe bzw. Arzneimittel und sogar bio-terroristische Aktivitäten. Dies geht auch aus einer Erklärung des demokratischen Senators Sherrod Brown, Ohio, hervor3: The manufacturing of pharmaceuticals is, more and more, outsourced to nations like China, and FDA has very little capacity to ensure the safety of imported medications. It has become too easy for any unregulated manufacturer to ship tainted goods straight to our country’s grocery stores and pharmacies. I have been working with other concerned members in the Senate to investigate pharmaceutical outsourcing and its impact on drug safety, US drug prices, and US jobs.

Früher wurden die meisten in den Vereinigten Staaten verbrauchten Arzneimittel auch dort hergestellt. Aber wie in anderen Branchen auch wurde die Arzneimittelproduktion nach Asien verlagert, weil Arbeitslohn, Fabrikations- und Umweltkosten dort niedriger sind. Die meisten Antibiotika werden jetzt fast exklusiv in China und Indien hergestellt.

Dasselbe gilt für viele andere wichtige Ausgangsstoffe4 wie z. B. Cortison, Metformin oder Amlodipin. Diese Stoffe werden zu lebensrettenden Arzneimitteln verarbeitet und die Gesundheitsfürsorge in den Vereinigten Staaten hängt von ihnen ab. Die Hälfte aller Amerikaner nimmt jeden Tag mindestens ein derartiges Arzneimittel.

Bei einer Umfrage unter 1154 pharmazeutischen Herstellern durch die FDA im Jahre 2007 erklärten diese, nur 13 Prozent der Wirkstoffe aus den Vereinigten Staaten zu beziehen. Für 43 Prozent war China und für 39 Prozent war Indien das Herkunftsland.

Beispiel Penicillin-Produktion

Am Penicillin ist die Geschichte des veränderten pharmazeutischen (Rohstoff-)Marktes gut zu erläutern. Die industrielle Produktion von Penicillin wurde von einer amerikanischen militärischen Forschungsgruppe im Zweiten Weltkrieg entwickelt und fast jeder große Arzneimittelhersteller stellte nachfolgend Penicillin in einem seiner Werke, verstreut im ganzen Land, her. "Aber in den 1980er Jahren beginnend, investierte die chinesische Regierung riesige Summen in Penicillin-Produktionsanlagen und unterbot die Preise rund um den Erdball, wodurch die meisten westlichen Erzeuger vom Markt gedrängt wurden", sagte Dr. Enrico Polastro5. Damit ist ein erheblicher Arzneimittelsicherheitsverlust verbunden, da die FDA ausländische Produktionsstätten6 viel seltener inspiziert als inländische7. Dazu Ex-FDA-Commissioner8 Andrew von Eschenbach9: "Die FDA inspiziert ausländische Hersteller im Schnitt alle 13 Jahre, im Gegensatz zu einheimischen, die etwa alle zwei Jahre inspiziert werden."

Die Regierung Bush gab nach den 2001er Milzbrand-Attacken mehr als 50 Milliarden US-Dollar aus, um das Land vor Bioterrorismus und Grippe-Pandemien zu schützen. Ein Teil dieses Geldes ging an inländische Hersteller, um die Produktionskapazität für Grippe-Impfstoffe zu vergrößern. Trotzdem haben die zuständigen Beamten erklärt, dass während einer Pandemie die Vereinigten Staaten nicht imstande sein würden, sich selbst zu versorgen, da die Impfstoffe größtenteils in Europa produziert werden. Bei möglichen Grenzschließungen oder Versorgungsknappheit könne man sich auf die Sicherheit dieser Versorgung nicht verlassen.

Und die Situation wäre bezüglich der Antibiotika vergleichbar. Forscher haben herausgefunden, dass während der 1918er Grippe-Pandemie die meisten Opfer an Bakterieninfektionen, nicht viralen Infektionen, starben. Die "Centers for Disease Control and Prevention" (CDC) halten zwar eine Reserve an Antibiotika, um 40 Millionen Menschen zu behandeln, aber die USA haben bekanntlich rd. 290 Mio. Einwohner. Wenn also mehr Antibiotika erforderlich wären, hätten die USA keine Herstellungskapazitäten, um sie selbst zu erzeugen. "Der Aufbau einer Penicillin-Herstellung bis zur Produktionsreife würde etwa zwei Jahre dauern", so Enrico Polastro.

Abhängigkeit von China

Dr. Yusuf K. Hamied, Vorsitzender von Cipla, eines der weltweit wichtigsten Lieferanten von pharmazeutischen Wirkstoffen, sagt, seine Gesellschaft wie auch Konkurrenten würden immer abhängiger von chinesischen Lieferanten. Wenn China morgen aufhörte pharmazeutische Rohstoffe zu liefern, würde die pharmazeutische Industrie weltweit zusammenbrechen.

"Da Arzneimittelhersteller häufig ihre Lieferantenadressen wie Geschäftsgeheimnisse behandeln, aus Furcht, dass Mitbewerber ihre Lieferanten ‚stehlen‘", meint Enrico Polastro, "ist die Quelle der Ausgangsstoffe oft schwierig oder unmöglich zu ermitteln."

Die FDA hat zwar eine Auflistung von Herstellern, genannt Drug-Master-Files, aber sie ist weder aktuell noch zuverlässig, da pharmazeutische Hersteller nicht verpflichtet sind, Informationen über ihre Lieferanten zu offenbaren. Eine der FDA-Datenbanken verzeichnet nur 3000 überseeische Lieferanten, eine andere listet fast 6800 auf. Niemand weiß, welche Zahl richtig ist.

Auf den Arzneimittelverpackungen steht häufig, dass die Produkte in den Vereinigten Staaten gefertigt wurden, aber die angegebenen Hersteller sind oft nur die, die aus ausländischen Wirkstoffen das Endprodukt gefertigt oder sogar nur endverpackt haben.

"Die Position Chinas als der herausragende Lieferant von Wirkstoffen und z. T. Arzneimitteln ist ein Ergebnis der Subventionspolitik der chinesischen Regierungsstellen", sagte Guy Villax, CEO von Hovione, einem Hersteller von wichtigen Wirkstoffen mit Werken in Portugal und China. Die Regionalregierung in Schanghai hat gemäß einem Dokument, das Guy Villax vorliegt, versprochen, lokalen Arzneimittelherstellern rd. 15.000 Dollar für jede Wirkstoffzulassung (DMF) von der FDA und rd. 5000 Dollar für jede von europäischen Behörden zu bezahlen. "Dies zeigt, dass es ein Regierungshandeln in China gegeben hat, um ein pharmazeutisch-führendes Herstellerland zu werden."

Die weltweite Abhängigkeit von chinesischen Herstellern wurde in dem kürzlich aufgedeckten Heparin-Skandal erneut deutlich sichtbar. Bis 2007 teilten sich "Baxter International" und "APP Arzneimittel" den US-Markt für Heparin. Als die Aufsichtsbehörden entdeckten, dass Baxters Produkt von chinesischen Lieferanten "substan-dard" (nach heutigem Wissen verfälscht) war, verbot die FDA Baxters Produkt und der US-Markt wechselte (zwangsläufig) fast exklusiv zu dem Produkt von APP.

Aber auch APP bekam seine Ausgangsstoffe aus China. Also egal, wie man es drehte und wendete, ohne chinesische Produkte ging es nicht. Abschließend dazu nochmals Enrico Polastro: "Es könnte zu großen Problemen in der Arzneimittelversorgung der USA kommen, würde China sich jemals mit den USA überwerfen."

Interessant ist in diesem Zusammenhang diese Meldung10: Der Stellvertreter des iranischen Gesundheitsministeriums, Rassul Dinarvand, gab bekannt, 45 Prozent der Grundstoffe zur Produktion von Medikamenten werden im Inland und die restlichen 55 Prozent in Indien und China hergestellt. Er fügte hinzu: China und Indien gehören zu den Hauptproduzenten der Grundstoffe für Arzneimittel weltweit – unter anderem auch für Iran – so dass auch 80 Prozent der Medikamentengrundstoffe der USA aus diesen Ländern stammen. Er bezeichnete die Unrentabilität der Produktion dieser Stoffe im Inland als Hauptgrund für deren Import.

Wie sieht die Lage in Deutschland aus?

Was lässt sich aus diesem alarmierenden US-amerikanischen Bericht für Deutschland ableiten? Die Erkenntnis, dass sich in Deutschland kaum jemand, vor allem keine Politiker, mit dem Thema befasst. Was ist als "Lage" in Deutschland zu vermuten?

Die Abhängigkeit der deutschen Pharmahersteller von ausländischen Zulieferern oder Lohnherstellern wird vergleichbar sein, wie Untersuchungen von Frau Professor Holzgrabe11 zeigten. Danach werden z. B. 80% der in Deutschland konsumierten Antibiotika in China produziert.

Auch die Fraglichkeit der Vorsorge für Pandemiefälle scheint ähnlich12: "Als erster Schutz soll nach dem Grippe-Pandemieplan der Bundesregierung für 20 Prozent der Bevölkerung Oseltamivir eingesetzt werden – primär für Gesundheitsberufe, Polizei und Grenzpersonal. Bevorratet sei Oseltamivir derzeit für zehn Prozent der Bevölkerung, was Kurth13 für unzureichend hält."

Auch in Sachen "Heparin-Skandal" haben wir in Deutschland ja eigene Erfahrungen14,15 , glücklicherweise ohne – offizielle – Tote.

Ob das BfArM einen Überblick z. B. über die europäischen Drug Master Files hat, ist öffentlich nicht bekannt, eine bessere Situation als in den USA ist aber nicht zu vermuten. Wie überhaupt die Datenlage, auch über die Abhängigkeit von chinesischen und indischen Herstellern, nicht systematisch untersucht oder publiziert scheint.

Dass die Problematik von deutschen Politikern erkannt, geschweige denn zu Initiativen geführt hat, ist bisher nicht öffentlich. In Deutschland stehen stattdessen die Kosten des Gesundheitssystems, Rabattverträge, die elektronische Gesundheitskarte oder der Gesundheitsfonds usw. derzeit im Mittelpunkt.

Dabei wäre die Erkenntnis, dass auch in Deutschland ein nationales Programm für die Notfallversorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln wichtig ist, so einfach!

Über die Bedrohungspotenziale durch Terrorismus16 , Bioterrorismus17 , Pandemiegefahren18 o. ä. werden wir doch täglich vielfältig informiert!

Wo bleibt eine echte Gesundheitsreform?

Beginnen könnte eine neue Bundesregierung doch einmal damit, statt ständig neue Bestimmungen für Ärzte, Apotheker und die Pharmaindustrie, besonders die mittelständische, zu ersinnen, sich mit der Situation der Arzneimittelproduktion in Deutschland zu beschäftigen!

Man müsste dann allerdings auch eine bessere Gesundheitspolitik machen, so z. B. eine echte Gesundheitsreform.

So könnte man mit dem Geld aus dem Mehrwertsteueraufkommen, allein der GKV-Anteil betrug 2008 4,1 Mrd. Euro19 , z. B. eine nationale Arzneimittelreserve aufbauen oder im Rahmen der Bekämpfung der Wirtschaftskrise Fördermittel für nationale Produktionen ausschütten. Es gäbe auch Arbeitsplätze als Extra. Und die EU dürfte, da es sich um die "Sicherstellung der Volksgesundheit"20 handelt, nicht widersprechen. Nachdenken und Handeln ist angesagt. Hoffentlich gibt es sonst eines Tages nicht ein böses Erwachen!

Prof. Dr. Harald G. Schweim,

Universität Bonn, Drug Regulatory Affairs

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