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Nicotinersatztherapie
Raucherentwöhnung ist kein Lifestyle
Trotz der schweren gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Schäden, die das Rauchen in Deutschland verursacht, werden Präparate zur Nicotinersatztherapie (NET) von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgrund gesetzlicher Vorschriften nicht erstattet. Die maßgeblichen Regelungen sind der Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V und der Ausschluss sog. Lifestyle-Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 Sätze 7 – 9 SGB V. Nicht zuletzt durch einen aktuellen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G‑BA), der die Teilerstattung von Raucherentwöhnungsmedikamenten im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen (Disease-Management-Programmen, DMPs) empfiehlt, wird die Frage nach der Bindungswirkung o. g. Gesetze, aber auch ihre Sinnhaftigkeit und Systemkonformität im Sozialgesetzbuch einmal mehr aufgeworfen.
Die Kernergebnisse einer sozialrechtlichen Beurteilung beider Fragen, die im Auftrag der Initiative Raucherentwöhnung, einer Arbeitsgemeinschaft im BAH, erstellt wurde [1], stellen sich wie folgt dar:
Was ist Lifestyle?
§ 34 SGB V (Lifestyle-Produkte) schließt solche Produkte von der Erstattung durch die GKV aus, die hauptsächlich der Verbesserung der Lebensqualität dienen (etwa Behandlung des Haarausfalls oder der erektilen Dysfunktion). Allein die Einordnung der Raucherentwöhnung und NET unter "Lifestyle" lässt sich nicht nachvollziehen. Es geht hier eben nicht um eine medikamentöse Unterstützung eines persönlichen Lebensstils, sondern ausschließlich um die Behandlung einer anerkannten Suchterkrankung.
Die Nicotin- oder Tabakabhängigkeit mit ihren Folgen ist keinesfalls ein der persönlichen Lebensführung zuzurechnendes Lifestyle-Phänomen, sondern sie stellt unbestritten – genauso wie die Alkohol- oder Opiatabhängigkeit – eine ernst zu nehmende (Sucht-)Erkrankung dar, die dementsprechend behandelt werden sollte.
Das Argument der Selbstverschuldung, das insbesondere von den Krankenkassen immer wieder angeführt wird, ließe sich für alle Suchterkrankungen anführen und kann daher nicht einschränkend nur für die Nicotinsucht geltend gemacht werden. Jedenfalls liegt bei der Alkoholabhängigkeit in gleichem Maße wie bei der Nicotinsucht die Verursachung der Gesundheitsschäden durch den Konsum von legalen Produkten vor, deren Suchtpotenzial und mögliche schädigende Wirkungen allgemein bekannt sind.
Auch außerhalb der Suchterkrankungen lassen sich sehr viele Krankheitsbilder zu einem gewissen Teil auf Selbstverschuldung zurückführen, beispielsweise die schwerpunktmäßig durch ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel verursachten Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes mellitus Typ 2. In diesen Kontext gehören auch Nierenerkrankungen, die nach allgemeinem Wissen auch durch eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr hervorgerufen werden. Niemand würde ernsthaft die Behandlung dieser Krankheiten und die Erstattung der Behandlungskosten versagen, weil die Ursachen der jeweiligen Krankheit in der Person des Versicherten (d. h. in seiner Lebensführung) liegen. Die Absurdität einer solchen Begründung liegt damit klar auf der Hand.
Aufnahme von NET in OTC-Ausnahmeliste möglich
Darüber hinaus werden weitere Kriterien für einen Erstattungs- und damit verbundenen Behandlungsausschluss aus der GKV gefunden, insbesondere die Tatsache, dass Präparate zur NET nicht in die OTC-Ausnahmeliste aufgenommen sind. Die Voraussetzungen für die Aufnahme in die OTC-Ausnahmeliste sind jedoch erfüllt, wie im Gutachten weiter ausgeführt wird:
Präparate zur NET stellen den "Therapiestandard" zur Behandlung der Nicotinabhängigkeit dar, wie einschlägige Studien und Empfehlungen, z. B. des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) [2] sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), belegen. Die durch den mit der Nicotinabhängigkeit einhergehenden Tabakkonsum verursachten Gesundheitsschäden sind absolut als "schwerwiegende Erkrankungen" einzustufen, sodass es konsequent wäre, Arzneimittel zur NET in die OTC-Ausnahmeliste aufzunehmen.
Eine Begründung findet diese Argumentation auch durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-label-use (Urteil vom 19. 03. 2002 – B 1 KR 37/00 R). In dieser Entscheidung hat das Bundessozialgericht erstmals einheitliche Kriterien für die Erstattungsfähigkeit des indikationsüberschreitenden Einsatzes von Arzneimitteln (sog. Off-label-use) aufgestellt.
Zu diesen Kriterien zählt auch das Merkmal "schwerwiegende Erkrankung", das das Bundessozialgericht als erfüllt ansieht, wenn eine Erkrankung "lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt". Dass dieses maßgebliche Kriterium bei langjährigem Tabakkonsum und den drohenden Folgeerkrankungen (COPD, KHK, Karzinome) erfüllt ist, kann nicht wirklich bezweifelt werden.
Kosteneffektivität der NET belegt
Das sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V konkretisiert sich unter anderem darin, dass bei einem nach den Kriterien der Evidenz-basierten Medizin nachgewiesenen Nutzen eines Arzneimittels im zweiten Schritt die Kosteneffektivität und zusätzlich die Angemessenheit der durch die Erstattung verursachten Kostenbelastung für die GKV zu beurteilen ist.
Die Wirksamkeit und der therapeutische Nutzen der NET sind in zahlreichen Studien belegt und in der Wissenschaft nachgewiesen [3, 4]. Die Kosteneffektivität einer Behandlung entwöhnungswilliger Raucher mit Nicotinersatztherapeutika im Verhältnis zu einem Rauchstoppversuch ohne Medikamente wurde mehrfach in gesundheitsökonomischen Studien belegt [5 – 8]. Es wurde gezeigt, dass der Nutzen im Sinne von gewonnenen Lebensjahren und Lebensqualität erhöht werden kann und gleichzeitig die Kosten für das Gesundheitswesen (die Gemeinschaft der Versicherten) durch den Einsatz der NET gesenkt werden [9].
Aktueller Beschluss des G-BA
Die im vorgelegten Gutachten zusammengetragenen Argumente zugunsten der Erstattungsfähigkeit der NET spiegeln sich auch in der Beschlussfassung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G‑BA), der die Richtlinien des Leistungskatalogs der GKV bestimmt, vom 15. 10. 2009 wider [9]. Nicht zuletzt aufgrund deutlich positiver Bewertungen des IQWiG soll die Durchführung medikamentöser Raucherentwöhnungsmaßnahmen im Rahmen strukturierter Behandlungsprogramme (DMPs) chronisch obstruktiver Atemwegserkrankungen erstattet werden.
Der G-BA vertritt hier ausdrücklich die Rechtsauffassung, dass der von ihm vorgeschlagene Inhalt und Umfang einer Erstattung von NET nicht mit den bestehenden Regelungen in § 34 SGB V – insbesondere der Lifestyle-Bestimmung – kollidiert. Da die angeführten rechtlichen wie auch ökonomischen Argumente ohne Einschränkung auch für einen Erstattungsumfang über den derzeit vorgesehenen G-BA-Beschluss hinaus gelten, ist insofern ein politisches Handeln zu fordern.
Nur wenn der Gesetzgeber die Bestimmungen im § 34 SGB V, insbesondere den Ausschluss der sog. Lifestyle-Arzneimittel und die Regelungen zur OTC-Ausnahmeliste, in entsprechender Weise anpasst, kann die medikamentöse Raucherentwöhnungstherapie in adäquater Weise und im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland gefördert werden. Parallel dazu sollten nicht verschreibungspflichtige Nicotinersatzpräparate durch Aufnahme in die OTC-Ausnahmeliste die Erstattungsfähigkeit erlangen. Hierzu ist wiederum ein entsprechender Beschluss des G‑BA notwendig.
Fazit
- Der Tabakabhängigkeit liegt eine auch im rechtlichen Sinne als Krankheit einzustufende Nicotinsucht zugrunde.
- Die unmittelbaren Folgeerkrankungen der Nicotinsucht wie COPD (Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) und KHK (Koronare Herzkrankheit) stellen schwerwiegende Erkrankungen dar.
- Die Einstufung medikamentöser Raucherentwöhnungstherapeutika als LifestylePräparate im Sinne des § 34 SGB V ist vor diesem Hintergrund nicht sachgerecht.
- Präparate zur Nicotinersatztherapie sind, obwohl sie rezeptfrei sind, Therapiestandard und genügen daher den Kriterien für die Aufnahme in die OTC-Ausnahmeliste erstattungsfähiger Arzneimittel.
- Die Evidenzbasiertheit und die Wirtschaftlichkeit oder Kosteneffektivität, die als weitere sozialrechtliche Kriterien für die Erstattungsfähigkeit gelten, sind im Fall der Nicotinersatztherapiepräparate durch wissenschaftliche Studien unstrittig belegt.
Quellen [1] Erstattungsfähigkeit der Nicotinersatztherapie. Rechtsgutachten der Kanzlei Dr. Schmidt-Felzmann & Kozianka im Auftrag der Initiative Raucherentwöhnung, einer Arbeitsgemeinschaft im BAH. [2] IQWIG. Systematische Leitlinienrecherche und -bewertung sowie Extraktion neuer und relevanter Empfehlungen für das DMP Koronare Herzkrankheit. Berichte 2008, Nr. 30, Auftrag V06-03. [3] Mulzer KM, Lichtenschopf A, Homeier I, Groman E. Rauchausstieg mit Nicotinersatztherapie – ein Update. Wien Med Wochenschr 2009;159(1 – 2):25 – 32. DOI 10.1007/s10354-008-0637-5. [4] Anthonisen NR, et al. Lung Health Study Research Group. The effects of a smoking cessation intervention on 14.5-year mortality: a randomized clinical trial. Ann Intern Med 2005;142(4):233 – 9. [5] Buck D, et al. University of York Centre for Health Economics. Cost effectiveness of smoking cessation interventions. London, Health Education Authority, 1997.[6] Wasem J, Jung M, May U, et al. Nutzen und Kosteneffektivität der Nicotinersatztherapie zur Raucherentwöhnung – eine entscheidungsanalytische Modellierung der direkten medizinischen Kosten Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2008;13(2):99 – 108. [7] Lang K, Wasem J, Aidelsburger P. Kosteneffektivität der Nicotinersatztherapie bei Patienten mit chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung – ein entscheidungsanalytisches Modell. PharmacoEconomics 2008;6(2): 111 – 123. [8] Mulzer K, May U. Raucherentwöhnung mit Nicotinersatztherapie zur Senkung von Gesundheitskosten. Monitor Versorgungsforschung 2009;2(4):42. [9] Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Empfehlungen zur Aktualisierung der Anforderungen an strukturierte Behandlungsprogramme für Patientinnen und Patienten mit chronischen obstruktiven Atemwegserkrankungen, Teil II: COPD, vom 15. Oktober 2009.
Autoren Stephan David Küpper, BAH, stellv. Pressesprecher; kuepper@bah-bonn.de Dr. Uwe May, BAH, Abteilungsleiter Gesundheitsökonomie und Grundsatzfragen Selbstmedikation; may@bah-bonn.de Bundesverband der Arzneimittelhersteller e.V. – BAH, Ubierstr. 71 – 73, 53171 Bonn
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