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Strafvollzug
Hinter Gittern – Arzneiversorgung im Knast
Wenn die Apothekerin Sindy Burjanko von Magdeburg nach Berlin kommt, um im Justizvollzugskrankenhaus Berlin (JVKB) eine Stationskontrolle durchzuführen, muss sie zunächst ihren Ausweis abgeben und Sicherheitsschleusen durchlaufen. Beobachtet von Kameras führt ihr strikt vorgegebener Weg eine lange graue Mauer entlang. Kommt sie an eine Tür, so öffnet sich diese automatisch. Erreicht die junge Apothekerin den kleinen Innenhof des Krankenhauses, schaut in der Regel der eine oder andere Patient aus dem Fenster und begrüßt sie mit Pfiffen oder Sprüchen, bei denen sie nicht böse ist, wenn sie sie nicht versteht.
Frau Burjanko gehört zu den wenigen Apothekerinnen, die regelmäßig in deutschen Gefängnissen und Krankenhäusern des Vollzuges zu finden sind – beruflich versteht sich. Sie ist Leiterin der Klinikversorgung in der Magdeburger Stern-Apotheke. Doch neben gewöhnlichen Krankenhäusern zählen auch die Justizvollzugskrankenhäuser in Berlin und Sachsen sowie sämtliche JVAen dieser Bundesländer, Sachsen-Anhalts und Baden-Württembergs zu den Kunden der Stern-Apotheke. Ihre Medikamente bekommen diese Kliniken und Anstalten über eigene Fahrer der Apotheke oder aber auf dem Postweg geliefert.
Wenn Frau Burjanko nicht unterwegs ist, hat sie ihren Arbeitsplatz in einem ehemaligen Discount-Supermarkt in Magdeburg. Von außen ist nicht zu erkennen, dass sich in den Räumlichkeiten ein derart großes Arzneimittellager befindet. Doch hinter der schmucklosen Stahltür finden sich Regale über Regale, bestückt mit allem, was Krankenhäuser aus der Apotheke brauchen. Rund 30 Mitarbeiter wickeln hier die Krankenhaus- und JVA-Versorgung ab, darunter sechs Apotheker. "Die Versorgung läuft im Grunde wie im Krankenhaus", erläutert der Inhaber der Stern-Apotheke, Boris Osmann. Soweit es sich um Justizvollzugskrankenhäuser handelt, von denen es in den meisten Bundesländern eines gibt, liegt dies auf der Hand. Aber Kliniken und Gefängnisse sind sich unter dem speziellen Aspekt der Arzneimittelversorgung ebenfalls sehr ähnlich. Insbesondere sind für beide nicht die Preisspannen der Arzneimittelpreisverordnung einschlägig (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AMPreisV). Vielmehr sind die Preise frei verhandelbar. Daher lohnt sich die Arzneimittelversorgung von JVAen auch nur für Apotheken, die bereits Kliniken versorgen. "Nur so kann man den Anstalten das gewünschte Preisniveau bieten", so Osmann.
Ausschreibung des Versorgungsvertrags
Welche Apotheken die JVAen und die Krankenhäuser des Vollzuges versorgen, entscheiden in der Regel die Justizministerien der Länder, sie sind für den Justizvollzug zuständig. Während vor einigen Jahren noch vorwiegend Apotheken in der Region die JVAen versorgten, ist es mittlerweile Usus, dass das jeweilige Ministerium bzw. der Senat die Arzneimittelversorgung zentral europaweit ausschreibt. Dabei laufen die Ausschreibungen für die JVA-Krankenhäuser und die JVAen selbst oftmals getrennt. Für die Krankenhäuser gelten zusätzliche Vorschriften. So wird – wie bei gewöhnlichen Kliniken – eine gewisse räumliche Nähe gefordert.
Die Zuschlagerteilung läuft nach rein formalen Kriterien. Den Zuschlag bekommt, wer die günstigsten Preise bietet und zugleich sämtliche Bedingungen der Ausschreibung erfüllt. Dabei variieren die Bundesländer in der Art ihrer Ausschreibung – auch dies läuft ganz ähnlich wie bei Krankenhäusern. Einige schreiben eine Arzneimittelliste aus, in der ein bestimmter Preis pro Arzneimittel verlangt wird. Manche wünschen die Lieferung gegen ein fest vereinbartes Dienstleistungshonorar zusätzlich zum Arzneimittelpreis. Andere favorisieren das Modell eines prozentualen Rabatts oder Aufschlags.
Es sind nur etwa eine Handvoll Apotheken, die in Deutschland die Versorgung von JVAen unter sich aufteilen. Neben der Stern-Apotheke ist vor allem die Wald-Apotheke in Wahlstedt (Schleswig-Holstein) eine feste Größe in dieser besonderen Versorgungslandschaft. Auch sie hat in mehreren Bundesländern, unter anderem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, Ausschreibungen gewinnen können.
Die Aufgaben der Apotheken
Frau Burjanko ist in ihrem Job viel auf Reisen, um die JVAen und Vollzugskrankenhäuser zu besuchen – in persönlichen Kontakt mit den Gefangenen kommt sie dabei allerdings nicht. Wie die Arzneimittel zu den Patienten gelangen, ist Sache der Ärzte und Pfleger. Sie treffen die pharmazeutischen Entscheidungen und führen Interaktions-Checks durch. Einen "Vollzugs-Apotheker" kennt man nicht. Dennoch erschöpft sich die Arbeit der Pharmazeuten nicht im schlichten Versenden von Arzneimitteln. In den Kliniken müssen – wie auch in anderen Krankenhäusern – zwei Mal jährlich Stationskontrollen durchgeführt werden. Im Justizvollzugskrankenhaus Berlin finden sich ebenfalls zwei Mal im Jahr Ärzte und Apotheker in einer Arzneimittelkommission zusammen, um Aktualisierungen der im Vollzug üblichen Positivliste zu besprechen.
In den einzelnen Haftanstalten werden bei den medizinischen Diensten regelmäßige Arzneimittelvorrats- und Lagerkontrollen durchgeführt. Darüber hinaus müssen die Apotheker für pharmazeutische Fragen stets telefonisch zur Verfügung stehen. Je nach Bundesland und den Bedürfnissen der einzelnen Anstalten gehören etwa die Versorgung mit spezifischen Informationen, z. B. die Versendung von Rote-Hand-Briefen, oder Schulungen für das Pflegepersonal und die Ärzte zum Leistungsumfang der Apotheken. So hält Frau Burjanko beispielsweise selbst Schulungen ab oder aber sie organisiert Fachreferenten für bestimmte Themen. Der persönliche Kontakt mit dem medizinischen Personal ist der Apothekerin wichtig. Wenn man sich kennt, sinkt auch die Hemmschwelle, die pharmazeutische Beratung zu suchen.
Bestellung der Medikamente
Im Justizvollzugskrankenhaus Berlin (JVKB) ist man mit der Versorgung durch die Magdeburger Apotheke zufrieden. Rüdiger Tietze, Leiter des 120-Betten-Hauses im Stadtteil Plötzensee, hätte nichts dagegen, wenn sich der Versorgungsvertrag über einen längeren Zeitraum erstreckt hätte als über zwei Jahre. 2010 wird neu ausgeschrieben. "Vermutlich binden wir uns dann länger", sagt Tietze. Schließlich ist so eine Ausschreibung ein "Riesen-Arbeitspaket", in dem klar zu definieren ist, welche Leistungen erbracht werden sollen.
Seitdem im April 2008 die Stern-Apotheke die Versorgung der Berliner Gefängnisse übernommen hat, hat sich dort einiges geändert. Jede Arzneimittelbestellung der Berliner JVAen läuft zentral über das JVKB. Dabei gilt das bundesweit einmalige "Sechs-Augen-Prinzip": Eine Schwester oder ein Pfleger schlägt die Bestellung eines bestimmten Medikamentes vor, der Stationsarzt bzw. jeweilige Anstaltsarzt gibt sein Einverständnis – und schließlich muss noch ein Chefarzt im Krankenhaus für die Freigabe sorgen. All das läuft Schritt für Schritt online, jederzeit rückverfolgbar und mit Passworten auf jeder Ebene. Diese Vorgehensweise ist die Konsequenz der Medikamenten-Affäre in der JVA Moabit, die vor gut drei Jahren für Aufsehen und wenig erfreuliche Presse sorgte. Vollzugsbedienstete hatten seinerzeit Medikamente aus den JVA-Vorräten entwendet und für sich selbst verwendet bzw. weitergegeben. Noch immer laufen gegen sie Verfahren vor Gericht. Aus Sicht des Anstaltsleiters haben sich das "Sechs-Augen-Prinzip" und die Online-Bestellungen als Gegenmaßnahmen bewährt.
Die Besonderheiten eines Justizvollzugskrankenhauses
Im JVKB, das im April 2007 seinen Betrieb aufgenommen hat, ist die Patientenfluktuation hoch. 2008 gab es rund 1200 Aufnahmen und Entlassungen. Behandelt wird nicht nur stationär, sondern auch ambulant. Tag für Tag kommen Gefangene aus sämtlichen JVAen der Stadt hierher – zum Stichtag 31. August 2009 befanden sich in diesen Anstalten rund 5000 Menschen (darunter 216 Frauen). Auch die einzelnen JVAen haben zumeist einen Anstaltsarzt vor Ort bzw. ärztliche Sprechstunden, die zum Teil durch von außen kommende, vertraglich verpflichtete Ärzte wahrgenommen werden. Doch wenn ein Facharzt nötig ist oder eine Behandlung im Krankenhaus, werden die Gefangenen mit der Fahrbereitschaft in das JVKB gebracht. Das kann dann mal ein Schwung von 15 Inhaftierten sein, die an einem Tag etwa aus der JVA Tegel – dem mit rund 1700 Insassen größten Gefängnis Deutschlands – kommen. Im Vollzugskrankenhaus gibt es einen festen Stellenbestand an Fachärzten für Innere Medizin, Psychiatrie und Chirurgie. Für andere Fachrichtungen sind auch hier Vertragsärzte verpflichtet, die in den meisten Fällen regelmäßig Sprechstunden abhalten.
Ein besonderer Schwerpunkt sind Suchterkrankungen. 30 bis 50 Prozent der Inhaftierten haben ein Suchtmittelproblem. Daneben spielen psychiatrische Erkrankungen eine große Rolle. Ihr Anteil ist im Vollzug etwa acht Mal so hoch wie außerhalb. Eine besondere Stellung nimmt zudem die Migrantenmedizin ein, es heißt, 60 bis 85 verschiedene Nationen sind in den Berliner Gefängnissen zu finden. Das stellt das Personal vor besondere Herausforderungen. Als ein Beispiel sei die Frage genannt, ob bzw. wann ein muslimischer Patient im Ramadan zur Tageszeit Arzneimittel einnehmen darf.
Der medizinische Dienst der JVA Celle
Beschaulicher geht es in der JVA Celle zu. In der Anfang des 18. Jahrhunderts nach dem Vorbild französischer Schlösser erbauten Anstalt sitzen rund 200 Gefangene ein. Die Klientel ist hier auf eine andere Art und Weise besonders: Es sind Männer, die zu Haftstrafen von 14 Jahren und länger verurteilt wurden sowie Sicherungsverwahrte. Mittlerweile ist die Anstalt allerdings auch Aufnahmestation für andere JVAen, mithin Durchgangsstation für eine gewisse Anzahl von Gefangenen.
Die JVA ist fast ein kleines Dorf: Es gibt eine Kirche, eine Schule, eine Bäckerei, eine Schneiderei, eine Schlosserei, weitere Werkstätten – und einen medizinischen Dienst. Letzterer ist die Arbeitsstelle von Anstaltsarzt Dr. Marko Vahjen, dem Leiter des Sanitätsdienstes, Rainer Riediger, und fünf weiteren Sanitätern. Vahjen ist der einzige Arzt. "Wahrscheinlich sind wir die einzige unterbesetzte Abteilung hier im Haus", sagt er. Zu tun gibt es immer. Unterstützt wird das Team von Fachärzten, die regelmäßig Sprechstunden in der JVA halten. So kommt etwa alle 14 Tage ein Psychiater oder ein Augenarzt. Manchmal wird ein Patient auch nach "draußen" überwiesen. Handelt es sich allerdings um einen besonders gefährlichen Patienten oder einen, bei dem zu befürchten ist, dass er draußen Unterstützer hat, bittet man einen speziellen Facharzt lieber in die Anstalt. Vahjen arbeitet bereits seit 20 Jahren hier, viele seiner Patienten kennt er demzufolge schon lange. "Bei 70 bis 80 Prozent habe ich ein relativ normales Arzt-Patienten-Verhältnis", sagt er. Aber es gibt auch einige Insassen, da ist es ihm lieber, wenn noch drei Sicherheitsbedienstete mit in die Sprechstunde kommen.
Grundlagen der Vollzugsmedizin
Im Berliner Vollzugkrankenhaus ist seit September 2009 Dr. Marc Lehmann als ärztlicher Direktor hauptverantwortlich für die medizinische Versorgung. Zuvor war er acht Jahre lang in der Jugendanstalt Hameln, dem größten deutschen Jugendgefängnis tätig. Er ist ein Fachmann für Vollzugsmedizin und schildert ihre gesetzlichen Grundlagen ebenso anschaulich und spannend wie ihre Besonderheiten in der Praxis.
"Die Vollzugsmedizin funktioniert nach dem Äquivalenzprinzip", erläutert Lehmann. Das bedeutet, dass den Insassen einer JVA eine gleichwertige – wenn auch nicht gleiche – Versorgung wie der Bevölkerung draußen zusteht. Nach den Strafvollzugsgesetzen haben auch sie Anspruch auf eine medizinische Versorgung nach den Vorgaben des Sozialgesetzbuchs, Fünftes Buch (SGB V); hier wie dort gilt das Gebot einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung. Einschränkungen, etwa bei der Arztwahl oder auch der Wahl der Arzneimittel, müssen allerdings in Kauf genommen werden. Lehmann betont: "Medizinische Versorgung soll nicht Teil der Strafe sein". Er macht sich daher auch stark für eine leitliniengerechte Medizin im Vollzug. Versorgt werde stets der Einzelfall, der Mensch – wenn auch unter den Bedingungen des Vollzuges.
Das Krankheitsspektrum der Gefangenen
Insgesamt sind Gefangene eher etwas "kränker" als der Bevölkerungsquerschnitt. Volkskrankheiten treten tendenziell etwas häufiger und fortgeschrittener auf als in der Altersvergleichsgruppe jenseits der Gefängnismauern. Denn in den JVAs unserer Republik landen neben Menschen mit psychischen und/oder Sucht-Problemen vor allem sozial Schwache und solche ohne Schulabschluss. Nicht selten kommt alles zusammen. Ein Elternhaus, in dem es an Geld ebenso mangelt wie an Zuwendung und in dem auf Bildung kein Wert gelegt wird, ist sowohl ein Nährboden für kriminelle Energie als auch für Krankheit – nicht zwangsläufig, versteht sich. Doch wer sich die Biografien der Gefangenen genauer anschaut, findet immer wieder dieselben Strickmuster. Der mordende Akademiker, wie man ihn aus den TV-Krimiserien kennen mag, spielt in der Realität eine verschwindend kleine Rolle.
In Celle ist das Patientenspektrum etwas anders als in den meisten anderen JVAen. Die Klientel ist hier älter und im Grunde ganz ähnlich zusammengesetzt wie in einer Arztpraxis außerhalb der Gefängnismauern. "Vom Fußpilz über chronische Krankheiten bis zum Tumor gibt es hier alles", sagt Vahjen. Viele Insassen stehen unter Dauermedikation. "Mindestens die Hälfte der Gefangenen sehen wir hier wöchentlich", erklärt Riediger. Die gängigsten Arzneimittel sind die üblichen Schmerzmittel. Kostenmäßig schlagen vor allem HIV-Präparate zu Buche – und seit Neuestem auch Zytostatika. Substitutionsbehandlungen sind hier nicht die Regel. Für opiatsüchtige Neuankömmlinge gibt es einen Methadon-gestützten Entzug, aber bei der oft jahrzehntelangen Haftstrafe keine Dauersubstitution.
Wie das Arzneimittel zum Patienten kommt
Die Verabreichung der Medikamente verläuft je nach Einzelfall höchst unterschiedlich – sowohl in Berlin als auch in Celle. Sicher ist nur, dass jede Verordnung genau dokumentiert wird. Das Spektrum reicht von der Daily Observed Therapy – also der überwachten Abgabe der Einzeldosis inklusive Mundkontrolle – bis zu einer Mitgabe von Medikamenten in den Haftraum, erklärt Lehmann. Diabetiker spritzen sich ihr Insulin in der Regel selbst – sie sollen sich in Eigenverantwortung üben, ihr Leben in der JVA soll dem Leben draußen möglichst angeglichen werden.
Während dies in Celle kein größeres Problem ist, hat man in Berlin stets im Hinterkopf, dass die hier verwendeten Nadeln auch ein Verletzungsrisiko, unter Umständen gar eine Waffe sind. Eine neue Nadel wird grundsätzlich nur im Tausch gegen die alte ausgegeben. Die einzelüberwachte Arzneimittelabgabe betrifft vor allem Tuberkulose- und Substitutionspatienten. Hier muss man aufpassen, dass die Mittel auch wirklich in den Patienten gelangen. "Das funktioniert ganz gut, wenn man den Patienten nach dem Schlucken sprechen lässt", sagt Lehmann. Denn auch hier gibt es Tricks: vom Schwamm im Mund bis zum Erbrechen des Medikamentes. "Das passiert alles im Vollzug – wir sind da in einem Extrembereich", betont Lehmann.
Doch es gibt auch andere Patienten, die durchaus verlässlich sind. Ihnen kann man Medikamente in einer bestimmten Menge auch mit auf die Zelle geben. Ein Zwischenschritt sind Tages- oder Wochendosetten, die – ähnlich wie im Altersheim – von den medizinischen Teams der Anstalten in die Vollzugsgruppen gegeben und dort ausgegeben werden. Auch hier ist stets Vorsicht geboten und an das Missbrauchspotenzial der Medikamente zu denken. "Wir müssen schon gut aufpassen, wo die Medikation bleibt", so Lehmann. Es wird verkauft und getauscht, was immer sich anbietet. Um das zu umgehen, gibt es Ansätze, verstärkt auf flüssige Medikation auszuweichen – hier fällt es schwerer zu manipulieren.
Arzneimittelmissbrauch – Experten in der Problemerkennung
Die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Präparat ist oft von Erwägungen geprägt, an die man in der öffentlichen Apotheke kaum denken würde. In einschlägigen Gegenden ist den Pharmazeuten zwar sicherlich noch bewusst, dass manch ein Döschen Ascorbinsäure nicht dazu verwendet wird, den Vitamin-C-Haushalt seines Käufers aufzufrischen, sondern als Lösungsmittel für Heroin herhalten muss.
Aber wer macht sich kritische Hintergedanken, wenn ein Patient Kohlekompretten wünscht? Im Gefängnis sind sie vor allem beliebt, weil es sich um hoch gereinigte und damit optimale Tätowierfarbe handelt. Auch ein Nasensprayfläschchen geht im Vollzug nicht immer bedenkenlos an den Patienten. Nicht etwa, weil man um seine Schleimhäute fürchtet, sondern weil der feine Zerstäuber dieser Darreichungsform eine wunderbare Drogenapplikationshilfe ist. Auch das scheinbar unverfängliche Imodium® (Loperamid) wird von Gefängnisärzten mit anderen Augen gesehen; es wird offenbar unter Hemmung der Blut-Hirn-Schranke mit Doxepin gern geraucht. "Da halten wir uns schon für fit, solche Dinge zu erkennen", sagt Lehmann.
In Celle ist der Arzneimittelmissbrauch kein so großes Thema. "Wir haben das hier ganz gut im Griff", sagt Vahjen. "Es wird nichts herausgegeben, was nicht verordnet ist." Allerdings kommt es im Gefängnis – wie auch draußen – vor, dass Patienten ihre Arzneimittel nicht so einnehmen, wie sie sollten. Da kann man schon einmal einen gewissen Pillenvorrat in Nachttischschubladen entdecken. Es gibt auch Fälle, in denen sich Gefangene eine Überdosis einverleiben. Zuweilen aus Trotz und durchaus vor den Augen des Personals, sodass noch eingegriffen werden kann. Manche wollen sich aber tatsächlich schädigen. So berichtet Vahjen von einem Häftling, der dies kürzlich mit Marcumar® (Phenprocoumon) versuchte: "Das war lebensgefährlich, der Gefangene musste ins Krankenhaus, konnte aber gerettet werden."
Die Lagerung der Arzneimittel
Die Arzneimittellagerung ist im Berliner Vollzugskrankenhaus und der JVA Celle höchst verschieden. In Celle werden die Medikamente in einem kleinen Raum in drei Schränken – inklusive BtM-Schrank – verwahrt. Eine sehr übersichtliche Apotheke, dafür sorgt nicht zuletzt auch hier eine Positivliste. Zudem ist der Bedarf an Arzneimitteln gut planbar, da die Fluktuation hier nicht so hoch ist wie in den meisten anderen Gefängnissen oder Vollzugskrankenhäusern.
Versorgt wird die JVA Celle – wie sämtliche Haftanstalten in Niedersachsen – von der Wald-Apotheke in Wahlstedt. Bestellt wird wöchentlich für den laufenden Gebrauch – hier allerdings per Fax. Bei Bedarf können aber auch zwischendurch Medikamente geordert werden, die dann am nächsten Vormittag eintreffen. Ist es ganz eilig, kann ein Arzneimittel vor Ort besorgt werden. Im JVK Berlin gibt es dagegen keine zentrale "Apotheke". Die Arzneimittel lagern hier direkt in den Stationen. "Die Medikamente, die wir hier haben, werden relativ schnell verbraucht", erklärt Tietze. Nur ein paar Notfallarzneimittel liegen zuweilen etwas länger. Wird einmal ein etwas weniger geläufiges Präparat benötigt, so liefert es die Stern-Apotheke in der Regel binnen weniger Stunden. Dass ein Medikament akut vor Ort besorgt werden muss, ist laut Tietze ein "Riesenausnahmefall" – er selbst kann sich nur an einen einzigen erinnern.
Die Finanzierung der medizinischen Versorgung
Die Kosten der medizinischen Versorgung von Gefangenen werden nach dem Prinzip der "freien Heilfürsorge" aus dem Landeshaushalt beglichen. Wer inhaftiert wird, für den ruht die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenkasse. Ausnahmen gibt es für Untersuchungshäftlinge oder aber für Gefangene des offenen Vollzuges, die in einem normalen Beschäftigungsverhältnis stehen, über das sie sozialversichert sind.
Was Arzneimittel betrifft, ist die Justizverwaltung damit letztlich sowohl Verordner als auch Kostenträger. Und wie auch jede Krankenkasse ist sie bemüht, die Ausgaben im Rahmen zu halten. Das ist natürlich nicht leicht, wenn man bedenkt, dass es in den meisten Fällen psychiatrische und/oder Suchtkrankheiten sind, die Menschen in die Delinquenz führen. Und wo die Suchterkrankung beginnt, ist die nachfolgende Infektionskrankheit zumeist nicht weit – sei es Tuberkulose, Hepatitis, HIV. Die Behandlungen von Hepatitis-C- und HIV-Infizierten gehören zu den teuersten Arzneimitteltherapien überhaupt. Im Berliner Haushaltsplan 2008/2009 sind für das Krankenhaus Plötzensee insgesamt 1.105.000 Euro für Medikamente und Verbandstoffe angesetzt – 300.000 Euro hiervon allein für Medikamente zur Behandlung von Hepatitis C und HIV/Aids. Auch die viel verordneten Psychopharmaka schlagen zu Buche. "Das zwingt uns budgettechnisch in die Knie", räumt Lehmann ein. Man kann bei all diesen hochpreisigen Arzneimitteln zwar auf Patentabläufe hoffen, doch häufig steht dann schon wieder ein neues und besseres Mittel zur Verfügung.
Fast jedes Bundesland hat auch schon einmal versucht, Kosten zu sparen, indem es anregte, JVA-Insassen in puncto OTC nicht besser zu stellen als GKV-Versicherte. Denn in Gefängnissen müssen auch rezeptfreie Arzneimittel nicht aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Derartige Spar-Ansätze verliefen bislang allerdings ohne Erfolg. Weder die Ärzte des Vollzugs noch die Apotheken halten die Idee für einen Fortschritt. Schließlich sind diese Medikamente in der Regel sehr kostengünstig. Und da sie zumeist nicht packungsweise, sondern als Einzeldosen ausgegeben werden, wäre es vor allem ein hoher bürokratischer Aufwand, jede einzelne abgegebene Pille zu dokumentieren und dem Gefangenen in Rechnung zu stellen.
Besonderheiten der Vollzugsmedizin
Aus Lehmanns Sicht wird die Arbeit der Vollzugsmediziner noch oft verkannt. Bei einem schwierigen Krankengut, häufig fortgeschrittenen Krankheitsbildern – und das im problematischen sozialen Kontext – leisten sie zumeist hervorragende Arbeit, betont er. Ein wichtiger Aspekt ist dabei für Lehmann, dass "Prison Health" auch Public Health ist und die meisten Insassen später in die Gesellschaft zurückkehren.
Eine Herausforderung ist schon der erste Patientenkontakt, der nicht freiwillig stattfindet: Neue Gefangene kommen zum Arzt, damit dieser zunächst seine Vollzugstauglichkeit feststellt. Kann er arbeiten, kann er Sport treiben? "Der Gefangene versteht den Arzt daher zunächst als Repräsentanten des Vollzuges und widersetzt sich ihm", erläutert Lehmann. "Der Zugang ist viel schwieriger als in der normalen Arztpraxis."
Später bekommen die Mediziner für die Inhaftierten dann oft eine andere Bedeutung: Sie können ihnen Vorteile im Vollzug verschaffen: Sei es besseres Essen aus medizinischen Gründen, ein weiteres paar Schuhe wegen orthopädischer Besonderheiten oder schlicht eine Schlaftablette. Ist es medizinisch begründet, können Gefangene von sonstigen Verrichtungen freigestellt werden, die sie sonst übernehmen müssten. "Manche ziehen alle Register, um an Vergünstigungen zu kommen", sagt Tietze. Sie versuchen ihre Wünsche mit Beschwerden, Petitionen und auch Strafanzeigen durchzusetzen. Doch insgesamt, so der Anstaltsleiter, gibt es mehr Danksagungen als Beschwerden.
Qualitätsmanagement
Auch in Celle kommt es vor, dass Patienten nach einem bestimmten Arzneimittel drängeln. Aber Vahjen kennt seine Pappenheimer: Was nicht nötig ist, wird verweigert – auch wenn es eine Beschwerde nach sich zieht. Es gab auch schon Anzeigen gegen den Anstaltsarzt, doch zu einer Anklage kam es noch nie. Die Konflikte müssen ausgetragen werden – schließlich kann ein Häftling, der nicht bekommt, was er will, nicht einfach den Arzt wechseln. Dennoch ist die Akzeptanz der Häftlinge insgesamt zufriedenstellend. Das belegen auch die anonymen Umfragen, die Vahjen und sein Team bereits zwei Mal unter den Gefangenen initiiert haben. "Da sind wir gut bei weggekommen", so Riediger.
Diese Umfragen sind Teil eines Qualitätsmanagement-Systems, das Vahjen für seinen medizinischen Dienst entwickelt. Als er es im Jahr 2000 einführte, gab es noch viel Misstrauen. Doch dann nahm man die üblichen Prozesse auf der Station unter die Lupe, beschrieb und analysierte sie, befragte neben den Insassen auch die Mitarbeiter, auch jene aus anderen Abteilungen. Man suchte nach Möglichkeiten der Verbesserung und fand einige. Der Dokumentationsaufwand hielt sich in Grenzen, und am Ende waren alle überzeugt, sagt Vahjen heute mit einem gewissen Stolz.
"Gut ist nicht gut genug, wenn besser möglich ist", bringt es Riediger auf den Punkt. So hat man etwa die "fliegenden Sanitäter" eingeführt. Während man früher einen Patienten, der beispielsweise Diazepam unter Aufsicht einnehmen musste, von Vollzugsbeamten recht aufwendig von seiner Zelle oder seinem Arbeitsplatz bis in die medizinische Abteilung durchschließen musste, kommt heute der Sanitäter zum Häftling. Eine einfache, aber effektive Maßnahme, die den Bediensteten viel Arbeit spart, die Sicherheit erhöht und nicht zuletzt dafür sorgt, dass die Gefangenen nicht lange an ihrem Arbeitsplatz fehlen.
Als Resümee bleibt: Die Vollzugsmedizin inklusive der Arzneimittelversorgung der Gefangenen stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen – und diesen stellen sich die Ärzte und Apotheker gerne. Wie in der normalen medizinischen Versorgung kann auch hier immer noch optimiert werden. Der Apotheker im Vollzugskrankenhaus oder in der JVA ist dabei sicherlich Zukunftsmusik. Doch es gibt Möglichkeiten, dass sich Pharmazeuten noch stärker in die Versorgung einbinden. So hofft auch Dr. Frank Intert, Inhaber der Wald-Apotheke, dass die Länder in ihren Ausschreibungen Aspekten der Arzneimittelsicherheit künftig eine größere Bedeutung beimessen. Er sieht hier noch viel Nachholbedarf. Dennoch: Für Intert ist die pharmazeutische Betreuung von Justizvollzugseinrichtungen auch jetzt schon "ausgesprochen spannend und vielseitig".
Autorin
InternetJVKB in Plötzensee: www.berlin.de/sen/justiz/justizvollzug/jvk |
1 Kommentar
Ärztliche Versorgung hinter Gittern!
von Andre’Moussa Schmitz am 16.10.2019 um 22:45 Uhr
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