Arzneimittel und Therapie

Gefährliches Thiamindefizit bei Diabetikern

Die Diabetesprävalenz steigt, und damit auch die Häufigkeit diabetischer Begleiterkrankungen. Besonders quälend ist für viele Zuckerkranke die diabetische Polyneuropathie. Als eine Säule der Therapie neben der normnahen Blutzuckerkontrolle gilt die Blockade metabolisch-toxischer Stoffwechselwege. Sie gelingt mit Benfotiamin, einer Vorstufe von Thiamin, das die Bildung gefährlicher AGEs reduziert. Klinische Studien zeigen, dass sich vor allem der neuropathische Schmerz reduzieren lässt. Zudem gibt es Hinweise auf gefäßprotektive Effekte.
Gefährdete Nerven Toxische "Verzuckerungsprodukte", allen voran Advanced glycation endproducts (AGE) greifen auch periphere Nerven an und sollen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der diabetischen Polyneuropathie spielen.
Foto: Universität Zürich

Thiamin (Vitamin B1) nimmt im Organismus verschiedene Aufgaben wahr. Unter anderem sorgt es dafür, dass möglichst wenig toxische "Verzuckerungsprodukte", allen voran AGEs (Advanced glycation endproducts), gebildet werden. Bei AGEs handelt es sich um toxische Produkte nicht-enzymatischer Glykierung, insbesondere von Proteinen. Sie werden vermehrt im fortschreitenden Alter sowie bei (prä)diabetischer Stoffwechsellage gebildet, können aber auch durch die Nahrung (siehe Kasten) oder das Rauchen exogen aufgenommen werden. AGEs aktivieren inflammatorische, proliferative und gerinnungsfördernde Prozesse im gesamten Organismus, greifen Gefäße und Nerven an und treiben die Entwicklung von diabetischer Neuropathie und endothelialer Dysfunktion voran. Thiamin greift in diesen Prozess günstig ein. Es aktiviert unter anderem das Entgiftungsenzym Transketolase, das angestaute Substrate des Glucosestoffwechsels in den Pentosephosphatweg einschleust und so den metabolisch-toxischen Stoffwechselwegen entzieht.

Problematisch: viele AGEs – wenig Thiamin

Besonders dramatisch ist die Situation bei Diabetikern. Die chronische Hyperglykämie führt zu einer mitochondrialen Überproduktion von reaktiven Sauerstoffradikalen, die zahlreiche Schädigungskaskaden im Organismus aktivieren und damit die Bildung von Advanced glycation endproducts (AGE) massiv vorantreiben. Gleichzeitig besteht bei Diabetikern schon früh im Krankheitsverlauf ein ausgeprägter Thiaminmangel. "Diabetiker weisen im Vergleich zu Gesunden eine um durchschnittlich 75% geringere Thiaminkonzentration im Plasma auf", erläuterte Priv.-Doz. Dr. Burkhard Herrmann auf der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft in Stuttgart. Sie scheiden renal drei- bis viermal mehr Thiamin aus als Gesunde. Dieses Thiamindefizit führt zu einer vermehrten Produktion von AGEs und damit zur Entwicklung und Progression diabetischer Nerven- und Gefäßschäden. Die vermehrte Produktion von AGEs und der frühzeitige renale Verlust von Thiamin werden als ursächliche Faktoren der diabetischen Neuropathie diskutiert.

Auch Schutz für die Gefäße

Benfotiamin scheint nicht nur die diabetischen Neuropathie günstig zu beeinflussen, sondern auch die Endothelfunktion. In einer Pilotstudie konnte Dr. Alin Stirban, Bielefeld, zeigen, dass eine hochdosierte Benfotiamingabe über drei Tage der postprandialen Endothel-Dysfunktion bei Diabetikern vorbeugt. Dies deutet darauf hin, dass Benfotiamin unter hyperglykämischen Bedingungen gefäßprotektiv wirkt. Möglicherweise profitieren aber auch Nicht-Diabetiker von diesem Gefäßschutz: Zumindest bei Rauchern reduzierte hochdosiertes Benfotiamin die negativen Effekte des Glimmstängels auf die makrovaskuläre Gefäßfunktion signifikant.

B1-Vorstufe blockiert pathogene Stoffwechselwege

Entsprechend der pathophysiologischen Zusammenhänge verfolgt Prof. Dr. Karlheinz Reiners, Würzburg, eine Therapie der peripheren Neuropathie nach dem 3-Säulen-Schema: die Optimierung der Blutzuckereinstellung, die Blockade pathogener Stoffwechselwege und die symptomatische Therapie. Als übergeordnetes Behandlungsziel der Blutzuckerkontrolle nannte er die Normoglykämie. Gleichzeitig wies er aber mit Blick auf die aktuelle Studienlage darauf hin, dass eine strikte Einstellung des Blutzuckers auch mit höheren Risiken, etwa Hypoglykämien, behaftet sein kann. Zur Blockade metabolisch-toxischer Stoffwechselwege ist aus seiner Sicht die frühzeitige Gabe von oral applizierbarem Benfotiamin, der lipidlöslichen Vorstufe von Thiamin, von zentraler Bedeutung. Mit Benfotiamin wird der Thiaminmangel bei Diabetikern behoben und die Bildung von AGEs inhibiert.

Tipp für Diabetiker: AGE-arm kochen!

Nicht nur endogen gebildete AGEs (Advanced glycation endproducts) sind schädlich. Auch wenn die toxischen "Verzuckerungsprodukte" über die Nahrung aufgenommen werden, ist ihr Schädigungspotenzial erheblich. Einen besonders hohen AGE-Gehalt weisen Butter und fettreiche Käsesorten, Margarine und Mayonnaise auf, gefolgt von Rindfleisch und Hähnchenbrust. Dagegen sind Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Müsli kaum mit AGEs belastet. Entscheidend ist aber nicht nur, was wir essen, sondern wie wir das Essen zubereiten. Bei schonendem Kochen oder Dünsten entstehen weit weniger AGES wie wenn Fleisch oder Gemüse gegrillt oder gebraten werden. Ein Beispiel: Wird Hähnchenbrustfilet gedünstet (100 °C; 15 Minuten), entstehen in einem Gramm 10 kU AGEs, wird es gegrillt oder gebraten (230 °C; 15 Minuten), sind es 67 kU AGEs.

Besonders wirksam gegen neuropathischen Schmerz

Experimentelle Studien zeigen eine Steigerung der Transketolase-Aktivität unter Benfotiamin um 400%. Die klinische Wirksamkeit von Benfotiamin ist in vier randomisierten placebokontrollierten Doppelblindstudien dokumentiert. So untersuchte die BENDIP(Benfotiamine in Diabetic Polyneuropathy)-Studie Wirksamkeit und Verträglichkeit von täglich 300 mg bzw. 600 mg Benfotiamin über sechs Wochen an 124 Diabetikern mit diabetischer Polyneuropathie. Der NSS (Neuropathy Symptom Score nach Young), als primärer Endpunkt definiert, verbesserte sich unter 600 mg Benfotiamin signifikant (p = 0,033). Auch der Gesamtsymptomenscore entwickelte sich positiv mit einer besonders hohen Wirksamkeit gegen den Schmerz. Ähnlich die Ergebnisse einer randomisierten Doppelblindstudie mit 40 Diabetikern mit Polyneuropathie. Unter Benfotiamin ging der Neuropathiescore nach Katzenwadel signifikant zurück, auch hier mit dem stärksten Effekt auf das Symptom Schmerz. Arzt und Patient bewerteten die Therapie gleichermaßen positiv. Bei der Mehrzahl verbesserte sich das Krankheitsbild, bei keinem kam es zu einer Verschlechterung.

Dritte Säule: Antiepileptika und Antidepressiva

Zur symptomatischen Therapie der diabetischen Neuropathie werden vorrangig Antiepileptika wie Gabapentin, Pregabalin, aber auch die Antidepressiva Duloxetin und Venlafaxin eingesetzt. Goldstandard sind laut Reiners aber noch immer die trizyklischen Antidepressiva, bei denen es gerade im Alter zahlreiche Kontraindikationen zu bedenken gilt.

Weitere Optionen sind Opioide wie Tramadol oder die lokale externe Anwendung von Capsaicin.

Quelle Priv.-Doz. Dr. Burkhard Herrmann, Bochum; Prof. Dr. Karlheinz Reiners, Würzburg: Wissenschaftliches Symposium "Bessere Chancen für Nerven und Gefäße: Diabetische Begleiterkrankungen früher und gezielter angehen", Stuttgart, 12. Mai 2010, veranstaltet von der Wörwag Pharma GmbH & Co. KG, Böblingen

 


Apothekerin Dr. Beate Fessler

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