Arzneimittelsicherheit

Die PRISCUS-Liste*

Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen

Von Stefanie Holt, Sven Schmiedl und Petra A. Thürmann

Bestimmte Arzneimittel gelten als potenziell inadäquate Medikation (PIM) bei älteren Patienten. Die bisherigen internationalen Medikationsempfehlungen für multimorbide ältere Patienten sind nur begrenzt auf Deutschland übertragbar. Ziel war die Erstellung einer für Deutschland relevanten Liste von Arzneimitteln, die bei älteren Menschen möglichst vermieden werden sollten oder deren Dosierung angepasst werden muss. Nach Literaturrecherche und qualitativer Analyse internationaler Listen erfolgte die Zusammenstellung einer an den deutschen Arzneimittelmarkt angepassten Liste: 83 Arzneistoffe aus 18 Arzneistoffklassen wurden als potenziell inadäquat für ältere Patienten bewertet.

Bei älteren Patienten gelten bestimmte Arzneimittel als potenziell inadäquate Medikation infolge eines erhöhten Risikos für unerwünschte Arzneimittelereignisse. Internationale Listen sind aufgrund von Unterschieden in Markt­gegebenheiten und Verschreibungsverhalten nur begrenzt auf Deutschland übertragbar. Daher wurde eine deutsche Liste mit Arzneistoffen erstellt, die bei älteren Menschen vermieden werden sollten.
Foto: AOK Mediendienst

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird in Deutschland der Anteil älterer Menschen an der Gesamtpopulation stark ansteigen. Für die Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen wird ein Zuwachs von circa 4 auf etwa 10 Millionen Menschen für das Jahr 2050 prognostiziert [e1]. Die mit zunehmendem Alter ansteigende Multimorbidität [1] führt zwangsläufig zur Polypharmazie. Laut Arzneiverordnungsreport erhielt im Jahr 2008 jeder gesetzlich Krankenversicherte über 60 Jahre durchschnittlich 3,1 definierte Tagesdosen (DDD) an Medikamenten als Dauertherapie [2]. Diese Altersgruppe bekam somit 66% aller verordneten Fertigarzneimittel, obwohl sie nur 26,8% der Gesamtpopulation ausmacht. Vergleichbare Daten sind unter anderem für Großbritannien, Schweden, die Niederlande, Irland oder die USA bekannt [3, e2, e3 bis e5]. Bedingt durch die Vielzahl verordneter Medikamente erhöht sich das Risiko von Interaktionen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) [e6, e7]. Da es sich aber nicht nur um unerwünschte Arzneimittelwirkungen im engeren Sinne handelt, sondern oftmals um unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE), die häufig auch aus Vielverordnungen resultieren, wird im Folgenden der Begriff UAE verwendet. Aufgrund der im Alter meist vorherrschenden Multimorbidität sowie der veränderten Pharmakokinetik und -dynamik [4, e8, e9] – wie zum Beispiel der verzögerten renalen Elimination und höheren Empfindlichkeit auf anticholinerge und sedierende Effekte – gelten zahlreiche Arzneimittel wegen ihrer pharmakologischen Wirkung und/oder möglicher Nebenwirkungen als ungeeignet für ältere Menschen. Zum einen sind viele UAE nur schwer von den Symptomen vorhandener oder neuer Erkrankungen zu unterscheiden, zum anderen können etliche Arzneistoffe das Risiko für alterstypische Komplikationen wie etwa Stürze erhöhen [e10]. Bei diesen potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) kann das Risiko einer UAE bei älteren Menschen den klinischen Nutzen überwiegen, insbesondere wenn besser verträgliche Alternativen vorhanden sind [5]. In den letzten Jahren wurden in den USA, Kanada, Frankreich, Irland und Norwegen [6 bis 11] Bemühungen unternommen, innerhalb der dort verfügbaren Arzneistoffe potenziell inadäquate zu identifizieren. Am bekanntesten ist die sogenannte Beers-Liste [6]. Die bisherigen internationalen Medikationsempfehlungen für multimorbide ältere Patienten unterscheiden sich sowohl formal als auch inhaltlich und sind aufgrund von Unterschieden bei der Arzneimittelzulassung, dem Verschreibungsverhalten sowie den Therapieleitlinien nur sehr begrenzt auf Deutschland übertragbar. So ist zum Beispiel Propoxyphen auf internationalen Listen als PIM aufgeführt, in Deutschland jedoch nicht als Arzneimittel erhältlich.

Die Erarbeitung einer für Deutschland relevanten Liste von potenziell inadäquaten Arzneimitteln, die man bei älteren Menschen möglichst nicht anwenden sollte oder deren Dosierung angepasst werden muss [6, 7], war Bestandteil des Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit 2008/2009 des Bundesministeriums für Gesundheit [e11]. Sie wurde im Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen [e12] angeregt. Im Folgenden wird die im Rahmen des Verbundprojektes PRISCUS (lateinisch: priscus, zu deutsch: altehrwürdig) (https://www.priscus2-0.de) entwickelte Liste beschrieben und deren mögliche Anwendungen werden diskutiert.

Weiterführende Informationen

Die vorliegende Originalarbeit zur PRISCUS-Liste wurde uns freundlicherweise vom Deutschen Ärzteblatt zum Nachdruck genehmigt.

Methode

Das methodische Vorgehen umfasste die folgenden vier Schritte:

(a) Qualitative Analyse einer Auswahl internationaler PIM-Listen für ältere Menschen

In der internationalen Literatur wurden zwei Arbeiten aus den USA [6, 7], eine aus Kanada [8] und eine aus Frankreich [9] zum Thema potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen identifiziert. Diese Publikationen wurden qualitativ untersucht und auf Übertragbarkeit auf den deutschen Arzneimittelmarkt hinsichtlich Verfügbarkeit und Verordnungshäufigkeit [e13] geprüft.

(b) Literaturrecherche

Es folgte eine Literaturrecherche, unter anderem in der Medline-Datenbank Pub-Med, zu bereits bekannten altersspezifischen Medikationsempfehlungen und arzneimittelbezogenen Problemen für häufig genutzte Medikamente im Alter. Dabei wurde insbesondere die Evidenz für ein erhöhtes UAE und Interaktionsrisiko bei der Anwendung bestimmter Arzneistoffe und Arzneistoffgruppen im höheren Lebensalter betrachtet. In der Literatur werden für ältere Menschen oftmals unterschiedliche Altersgrenzen definiert. Als untere Altersgrenze wurde von den Autoren 65 Jahre festgelegt [10, 12].

(c) Erstellung einer vorläufigen, an den deutschen Arzneimittelmarkt angepassten Liste potenziell inadäquater Medikamente für ältere Menschen

Aus den unter a) und b) gewonnenen Daten wurde eine vorläufige PIM-Liste mit 131 Arzneistoffen aus 24 verschiedenen Arzneistoffklassen und zusätzlichen ausführlichen Informationen erstellt [eKasten 1, eTabelle 1]. Eine detaillierte Beschreibung der Abschnitte a) bis c) findet man im eKasten 2.

(d) Erstellung der finalen PRISCUS-Liste mittels Expertenbefragung (modifizierte Delphi-Methode)

Ablaufschema des Delphi-Verfahrens zur Erstellung der PRISCUS-Liste. *Prasugrel wurde durch die Expertengruppe nicht eindeutig bewertet. Aufgrund der Fachinformation [e17] wurde Prasugrel als potenziell inadäquat für ältere Patienten eingeteilt und der Gruppe der PIM (potentially inappropriate medication) zugeteilt.

In Anlehnung an die bisher veröffentlichten internationalen PIM-Listen wurde die deutsche PIM-Liste basierend auf einer Literaturrecherche und einer Expertenbefragung (modifizierte Delphi-Methode) [13, e14, e15] als Konsens entwickelt [eKasten 3].

Im Dezember 2008 startete die webbasierte, zwei Runden umfassende Delphi-Befragung mit der Kontaktierung von mehr als 50 deutschsprachigen Experten. Davon gaben 38 Experten aus acht verschiedenen Fachrichtungen (Geriatrie, Klinische Pharmakologie, Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Schmerztherapie, Neurologie und Psychiatrie sowie Pharmazie) ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme. Die Identifizierung der Experten erfolgte mithilfe der Fachgesellschaften und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Weitere Teilnehmer konnten durch persönliche Ansprache ermittelt werden.

Zur Bewertung der potenziell unangemessenen Medikation nutzte die Expertengruppe eine 5-Punkte-Likert-Skala [e16]. Dabei konnte zwischen den Extremen "1: Arzneimittel, die sicher potenziell inadäquat für ältere Patienten sind" bis "5: Arzneimittel, die ein vergleichbares Risiko für ältere und jüngere Patienten darstellen" abgestuft werden. Als neutraler Punkt diente der Wert 3 (unentschiedene Bewertung). Darüber hinaus waren die Experten aufgefordert, für die jeweiligen Arzneistoffe Monitoringparameter (zum Beispiel Laborwertkontrollen) sowie Dosisanpassungen und (überwiegend) medikamentöse Alternativen vorzuschlagen. Ferner sollten sie Komorbiditäten benennen, bei denen ein erhöhtes Risiko für mögliche unerwünschte Ereignisse bei Anwendung des jeweiligen Arzneistoffs besteht.

Nach der ersten Befragungsrunde wurde für jeden Arzneistoff der Mittelwert der Likert-Skala und das dazugehörige 95%-Konfidenzintervall (95%-KI) berechnet. Arzneistoffe, deren Obergrenze des 95%-KI unter 3,0 lag, stuften die Autoren als PIM ein. Arzneistoffe, deren Untergrenze des 95%-KI mehr als 3,0 betrug, wurden mit einem vergleichbaren Risiko für jüngere und ältere Patienten eingeordnet. Nur Wirkstoffe, deren 95%-KI den Wert 3,0 umschloss, wurden in der zweiten Befragungsrunde nochmals durch die Experten beurteilt [7, 10]. Die Analyse der zweiten Befragungsrunde erfolgte nach demselben Prozedere. Arzneistoffe, deren 95%-KI den Wert 3,0 auch in der zweiten Runde umfasste, wurden als "nicht eindeutig beurteilt" charakterisiert. Einige Arzneistoffe wurden aufgrund der Expertenrückmeldungen in der zweiten Runde getrennt bewertet nach Dosierung, Indikation oder Freisetzungsart. Die Berechnungen erfolgten mithilfe des Statistik-Programms SPSS, Version 17 (SPSS Inc., Chicago, IL, USA).

Ergebnisse

An der ersten Befragungsrunde nahmen 25 von 38 Experten teil (65,8%), die zweite Runde wurde von 26 Fachleuten abgeschlossen. Ein Experte nahm nur an der ersten Runde teil, zwei weitere nur an der zweiten Runde. Von den 131 vorgeschlagenen Arzneistoffen haben die Experten in der ersten Befragungsrunde fünf Wirkstoffe getrennt nach Freisetzungsart bewertet. Schnell freisetzendes Nifedipin wurde beispielsweise eindeutig als "PIM" beurteilt im Gegensatz zu retardiertem Nifedipin, das der Gruppe "fragliche PIM" zugeordnet wurde. Somit ergaben sich 136 bewertete Arzneimittel nach der ersten Expertenrunde (siehe Grafik "Ablaufschema des Delphi-Verfahrens"). Für 17 Arzneimittel wurde das Risiko der Anwendung für jüngere und ältere Patienten als vergleichbar eingeschätzt, das heißt als "Nicht-PIM" beurteilt. 61 Arzneimittel bewerteten die Experten als potenziell inadäquat für ältere Patienten.

Für 58 Arzneimittel gaben die Experten keine eindeutige Bewertung ab – diese mussten daher in der zweiten Befragungsrunde nochmals beurteilt werden. Neun dieser Arzneistoffe sollten aufgrund der Expertenkommentare hinsichtlich ihrer Dosierung oder Indikation getrennt bewertet werden. Hinzu kamen zehn neue Vorschläge für Bewertungen. Somit standen insgesamt 77 Medikamente zur Beurteilung in der zweiten Runde an. Die Expertengruppe bewertete in der zweiten Befragungsrunde 21 der 77 Arzneimittel als potenziell ungeeignet. 47 Arzneistoffe konnten auch nach der zweiten Befragungsrunde nicht eindeutig durch die Experten eingeordnet werden [eTabelle 2]. Dazu zählte auch der Wirkstoff Prasugrel, der aufgrund der Herstellerempfehlung [e17] von den Autoren als PIM eingestuft wurde (siehe Grafik "Ablaufschema des Delphi-Verfahrens").

Nach zwei Befragungsrunden wurden insgesamt 83 Arzneimittel als potenziell unangemessen für ältere Menschen beurteilt [Tabelle S. 47, eTabelle 3]. Darunter befinden sich zwei Arzneistoffe, die nur in der schnellfreisetzenden Formulierung als PIM bezeichnet wurden (Nifedipin, Tolterodin), bei neun Arzneistoffen gelten Dosisobergrenzen. Die zahlreichen Freitexthinweise zu therapeutischen Alternativen und Monitoring aus der Literatur wurden durch die Experten kommentiert, ergänzt und konkretisiert. Sie sind in der finalen PRISCUS-Liste enthalten (https://www.priscus2-0.de).

Insgesamt befinden sich 64 Arzneimittel der PRISCUS-Liste auf mindestens einer der vier internationalen PIM-Listen [6 bis 9]. Von 19 Arzneimitteln die auf keiner der vier Listen direkt benannt wurden, sind zwölf in mindestens einem der Länder nicht im Handel [e18]. Sieben im deutschen Expertenkonsens als potenziell inadäquat bezeichnete Wirkstoffe sind jedoch in allen drei Ländern (USA, Kanada, Frankreich) der vier Listen auf dem Markt. 124 Arzneimittel sind, zum Teil nur bei bestimmten Begleiterkrankungen, von mindestens einer der vier internationalen Arbeitsgruppen als PIM bewertet worden, sie werden jedoch nicht auf der deutschen PRISCUS-Liste geführt. Davon befinden sich 70 Arzneimittel in Deutschland nicht im Handel. 37 der Wirkstoffe standen aus verschiedenen Gründen, wie etwa zu geringe Verordnungszahlen (Dosulepin) oder fehlende Evidenz (Cimetidin), nicht auf der vorläufigen PIM-Liste. 17 weitere potenzial inadäquate Arzneistoffe wurden von den Experten in sechs Fällen als geeignet und in elf Fällen nicht eindeutig beurteilt.

 

* Arzneimittel, die von keiner der vier analysierten Arbeiten [6–9] als PIM benannt wurden; 
NSAID: non-steroidal anti-inflammatory drugs; PPI: Protonenpumpeninhibitoren; UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkungen; ACE: angiotensin-converting enzyme; 
ASS: Acetylsalicylsäure; SSRI: selective serotonin reuptake inhibitors; MAO: Monoaminoxidase; PIM: potenziell inadäquate Medikation

Diskussion

Im dargestellten Projekt konnte erstmals für den deutschsprachigen Raum eine Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen erstellt werden. Die Notwendigkeit einer deutschen Liste ergab sich aus der Tatsache, dass sowohl der französische, als auch der US-amerikanische und der kanadische Arzneimittelmarkt nur teilweise mit Deutschland zu vergleichen sind [5, 14, 15].

Von den insgesamt 83 identifizierten Arzneistoffen wurden nahezu 75% bereits in der ersten Befragungsrunde als potenziell ungeeignet für ältere Patienten bewertet. Dies impliziert, dass für diese Arzneistoffe ein hoher Grad an Evidenz für ihre potenzielle Nicht-Eignung bei älteren Patienten besteht und/oder, dass es therapeutische Alternativen gibt. Andere Wirkstoffe hingegen wurden erst in der zweiten Befragungsrunde als potenziell inadäquat bewertet, zum Beispiel einige Antiarrhythmika (Flecainid, Sotalol). Hier bestanden sowohl Zweifel an der Evidenz für ein erhöhtes Risiko im Alter als auch ein Mangel an verfügbaren Alternativen. 46 Arzneistoffe konnten auch nach der zweiten Befragungsrunde nicht eindeutig eingestuft werden. In den anderen vier Listen [6 bis 9] wurden Wirkstoffe ohne eindeutige Zuordnung in der Regel zu den geeigneten Substanzen gezählt.

Nutzen und Anwendung der PRISCUS-Liste

 

Bei ausreichender Validität einer PIM-Liste sollte eine potenziell inadäquate Medikation mit dem erhöhten Auftreten von unerwünschten Arzneimittelereignissen zusammenhängen [e19]. Laut einer Analyse von 18 epidemiologischen Studien, überwiegend aus den USA, mit 186 bis 487.383 älteren Menschen ging die Anwendung von Arzneimitteln der Beers-Liste sowohl bei Patienten aus dem ambulanten Bereich als auch aus Altenheimen mit einem erhöhten Hospitalisierungsrisiko einher [12]. Eine neuere Untersuchung belegt, dass die potenziell unangemessene Medikation mit einem höheren Sturzrisiko bei älteren, im privaten Haushalt wohnenden Menschen assoziiert ist [e10]. Insgesamt führt eine potenziell inadäquate Medikation über vermehrte Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte zu erhöhten Kosten. Bei den vorliegenden Analysen ist jedoch zu berücksichtigen, dass es methodisch nicht immer einwandfrei gelang, Störgrößen wie Komorbidität und Komedikation bei den Berechnungen zu eliminieren [12, 15].

Der Zusammenhang zwischen einer potenziell unangemessenen Medikation und dem Auftreten unerwünschter Ereignisse hängt natürlich auch von der Verordnungsprävalenz dieser Pharmaka ab. Fialová et al. [14] verglichen die Häufigkeit von PIM in acht europäischen Ländern: 41,1% der älteren Menschen in Tschechien erhielten mindestens ein PIM-Arzneimittel im Vergleich zu 5,8% in Dänemark, bezogen auf die Kriterien von Beers [6, 7] und McLeod [8]. Auch wenn in dieser Arbeit nicht die Assoziation mit unerwünschten Ereignissen untersucht wurde, zeigten sich erhebliche Unterschiede in der Prävalenz von PIM, die als Marker für Verordnungsqualität und -sicherheit bewertet wurden. Die vollständigen PRISCUS-Medikationsempfehlungen sind als Hilfestellung und zur Unterstützung von Ärzten und Apothekern gedacht [6]. Die Liste erhebt weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch ersetzt sie eine auf den einzelnen Patienten bezogene Nutzen-Risiko-Abwägung [5, e19, e20]. Sie soll vielmehr auf besondere Probleme bei der Arzneimitteltherapie älterer Menschen aufmerksam machen. Bei Unverträglichkeit der alternativ vorgeschlagenen Wirkstoffe oder bei möglichen Interaktionen mit dem alternativ empfohlenen Präparat kann beispielsweise auch die Gabe eines Arzneimittels der PIM-Liste notwendig werden. Eine Polypharmakotherapie mit möglichen klinisch relevanten Interaktionen oder auch eine Unterversorgung mit Arzneistoffen sind weitere Aspekte, die mit einer solchen Liste nicht erfasst werden [16]. Die PRISCUS-Liste kann aber auch wesentliche Bereiche mitabdecken, zum Beispiel konkrete Vorschläge zum sicheren Monitoring, falls eine Verordnung potenziell inadäquater Arzneimittel nicht zu vermeiden ist. Ein weiteres Anwendungsfeld ist die Entwicklung von Präventionsstrategien und Leitlinien multimorbider Patienten. So könnte die PRISCUS-Liste beispielsweise in die vorhandene hessische Leitlinie Geriatrie [e21] integriert werden oder in ein hausärztliches Assessment [10] wie etwa das STEP-Assessment [17]. Auch die Einbindung der Liste in elektronische Verordnungssysteme ist denkbar.

 

 

Validität und Limitationen der PRISCUS-Liste

Die Expertengruppe bestand aus 25 beziehungsweise 26 (in der zweiten Befragungsrunde) Experten acht verschiedener Fachrichtungen. Dadurch war ein breites Wissen, bezogen auf die Arzneimitteltherapie älterer Patienten, sichergestellt [e15]. Aufgrund des Mangels an methodisch hochwertigen Studien mit älteren Patienten [e12, e22, e23] ist die Delphi-Methode trotz vorhandener Limitationen [7] ein anerkanntes Verfahren zur Erstellung von PIM-Listen [6 bis 10].

Die Subjektivität der Einschätzung und somit Grenzen der Methode des Expertenkonsens werden auch durch die inhaltlichen Unterschiede zwischen den publizierten Listen und der PRISCUS-Liste deutlich. Die Klassifikation eines Arzneistoffs als potenziell ungeeignet für ältere Menschen hängt letztendlich nicht nur von dem Evidenzgrad des Risikos, sondern auch von den verfügbaren Alternativen und der Behandlungsnotwendigkeit ab. Thrombozytenaggregationshemmer, wie Acetylsalicylsäure und Clopidogrel, und orale Antikoagulanzien, wie Phenprocoumon, wurden nicht als potenziell inadäquat bewertet, obwohl sie im Verdacht stehen, für eine hohe Zahl von unerwünschten Arzneimittelereignissen bei älteren Patienten verantwortlich zu sein [e6]. Es wäre schlecht möglich, diese Arzneistoffe beziehungsweise Arzneistoffklassen als möglicherweise unangemessen für ältere Menschen zu bewerten, weil sie bei vielen "typischen" Alterserkrankungen wie Schlaganfall oder Vorhofflimmern absolut notwendig sind. Für die Anwendungssicherheit dieser Arzneistoffe ist es entscheidend, mögliche Monitoringparameter und Dosisanpassungen zu beachten.

Die Validierung der PRISCUS-Liste muss zwei Schritte umfassen: Zum einen muss ein Zusammenhang zwischen der Verordnung der hier gelisteten Arzneistoffe und klinisch relevanten unerwünschten Ereignissen messbar sein. Zum anderen muss die konsequente Umsetzung der gegebenen Anwendungshinweise zu einer Verringerung von Komplikationen führen [e19]. Hierzu ist es erforderlich, nach Identifikation der häufigsten arzneistoffassoziierten und auch vermeidbaren Komplikationen, praxistaugliche Instrumente zu entwickeln. In der PRISCUS-Liste werden therapeutische Alternativen angeboten. Das entspricht aktuellen Initiativen in den USA, eine "Positiv-Beers-Liste" zu entwickeln, die im Alter zu bevorzugende Arzneistoffe enthalten wird [e24]. Eine regelmäßige Weiterentwicklung der PRISCUS-Liste ist aufgrund neuer Arzneimittel und weiterer Forschungsergebnisse notwendig [6].

Fazit

Aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit einiger Arzneistoffe bei älteren Menschen und der mangelnden Evidenz für Hinweise zum sicheren Umgang mit Arzneimitteln im Alter wurde die auf Expertenwissen basierende PRISCUS-Liste für den deutschen Arzneimittelmarkt erstellt. In der internationalen Literatur findet man Hinweise dafür, dass die Anwendung potenziell inadäquater Arzneistoffe, wie die der PRISCUS-Liste, mit einem erhöhten Risiko für unerwünschte Ereignisse assoziiert ist. Man geht davon aus, dass die Vermeidung dieser Medikamente zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit im Alter beiträgt. Schlussendlich kann die PRISCUS-Liste, auch durch die zahlreichen praktischen Hinweise, als Entscheidungshilfe dienen und den behandelnden Arzt bei seiner individuellen Therapieentscheidung unterstützen. Die vollständige PRISCUS-Liste findet man unter https://www.priscus2-0.de.

Zusammenfassung

Hintergrund: Wegen eines erhöhten Risikos an unerwünschten Arzneimittelereignissen gilt die Gabe bestimmter Arzneimittel bei älteren Patienten als potenziell inadäquate Medikation (PIM). Internationale PIM-Listen sind aufgrund unterschiedlicher Marktgegebenheiten und Verschreibungspraktiken nur begrenzt auf Deutschland übertragbar. Ziel dieser Arbeit war es, eine für Deutschland gültige Liste von Arzneistoffen zu erstellen, die bei älteren Menschen vermieden werden sollten. Methode: Basierend auf einer selektiven Literaturrecherche und einer qualitativen Analyse internationaler PIM-Listen wurde eine vorläufige, an den deutschen Arzneimittelmarkt angepasste PIM-Liste zusammengestellt. Die finale deutsche PIM-Liste wurde nach einer zwei Runden umfassenden, strukturierten Expertenbefragung (Delphi-Methode) erarbeitet.

Ergebnis: 83 Arzneistoffe aus 18 Arzneistoffklassen wurden als potenziell inadäquat für ältere Patienten bewertet. 46 Arzneistoffe konnten auch nach der zweiten Befragungsrunde nicht eindeutig eingestuft werden. Für den Fall, dass eine potenziell ungeeignete Medikation unvermeidbar ist, beinhaltet die endgültige PRISCUS-Liste Empfehlungen für die klinische Praxis wie beispielsweise Monitoringparameter oder Dosisanpassungen. Ferner werden Therapiealternativen genannt.

Schlussfolgerung: Eine potenziell inadäquate Medikation im Alter wird als Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelereignisse angesehen. Als Limitation des expertenbasierten Verfahrens ist die mangelnde Evidenz sowohl für die Bewertung der Arzneistoffe, als auch für die Benennung von Alternativen und Monitoringhinweise zu nennen. Für die PRISCUS-Liste gilt – wie für internationale Listen –, dass ihre Validität und Praktikabilität belegt werden muss. Sie sollte daher in ein geriatrisches Pharmakotherapiekonzept eingebunden werden, bei dem man eine Polypharmakotherapie und Interaktionen vermeidet und die Dosierung von Medikamenten regelmäßig überprüft.

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Anschrift für die Verfasser

 

Prof. Dr. med. Petra A. Thürmann
Klinische Pharmakologie, 
Private Universität Witten/Herdecke gGmbH
Philipp Klee-Institut für Klinische Pharmakologie
Helios Klinikum Wuppertal
Heusnerstraße 40
42283 Wuppertal

* Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31–32): 543 – 51. Im Zuge der Veröffentlichung der PRISCUS 2.0 Liste wurden die im Text eingefügten Links zur Priscus-Hompage im September 2023 aktualisiert.

Danksagung


Das Projekt wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Nr. 01ET0721.

Die Autoren danken den folgenden Experten für ihre Teilnahme an der Delphi-Befragung: D. Adam (Ludwig-Maximilians-Universität München), A. Born (CH – Universität Bern), K. Ehrenthal (Hanau), H. Endres (Universität Bochum), R. Erkwoh (HELIOS Klinikum Erfurt), J. Fritze (Frankfurt/Main), W.E. Haefeli (Universität Heidelberg), S. Harder (Universität Frankfurt/Main), J. Hauswaldt (Medizinische Hochschule Hannover), W. Hewer (Vinzenz von Paul Hospital gGmbH Rottweil), U. Jaehde (Universität Bonn), R. W. C. Janzen (Bad Homburg), P. Kaufmann-Kolle (Aqua-Institut Göttingen), W. Krahwinkel (Helios Krankenhaus Leisnig), U. Laufs (Universitätsklinikum des Saarlandes, Bad Homburg), J. Lauterberg (Universität Bonn), P. Mand (Medizinische Hochschule Hannover), E. Mann (A – Rankweil), K. Mörike (Universitätsklinikum Tübingen), C. Muth (Universität Frankfurt/Main), W. Niebling (Universität Freiburg), G. Schmiemann (Medizinische Hochschule Hannover), J. Schulz (Helios Klinikum Berlin Buch), C.C. Sieber und K. Becher (Universität Erlangen-Nürnberg), S. Stehr-Zirngibl (Universität Bochum), U. Thiem (Universität Bochum), M. Zieschang (Dialyse Centrum Alicepark, Darmstadt). Die Autoren danken ferner Herrn Prof. Dr. Trampisch und Mitarbeitern (Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Ruhr-Universität Bochum) für die technische Unterstützung. Ebenfalls gilt ihr Dank der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, insbesondere Herrn Dr. F. Aly.

Interessenkonflikt

Prof. Thürmann wurde honoriert für die Durchführung zweier klinischer Phase-I-Studien von der Firma Stada AG sowie von der Firma Biotest AG. Sie erhielt Referentenhonorare von Bayer Vital und Biotest Pharma AG sowie Honorare für Mitgliedschaften in Data Safety Monitoring Boards (Ono Pharmazeuticals, Fresenius Kabi). Dr. Schmiedl und Frau Holt erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

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