Selbstmedikation

Calcium und das Herzinfarktrisiko

Ist zu viel Calcium schädlich? Muss bei mehr als 1000 mg Calcium täglich mit einem erhöhten Herzinfarktrisiko gerechnet werden? Dafür gibt es zumindest Indizien und eine vor Kurzem im British Medical Journal (BMJ) publizierte Metaanalyse scheint diese Hypothese zu bestätigen (s. DAZ 2010, Nr. 32,
S. 38 – 39)
. Doch wie diese Analyse zu bewerten ist, darüber wird in Fachkreisen gestritten.

Die im BMJ publizierte Metaanalyse wurde von Bolland et al. durchgeführt [1]. Vor zwei Jahren hatte die gleiche Arbeitsgruppe eine Post-hoc-Analyse einer placebokontrollierten randomisierten Studie publiziert, die ebenfalls ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko für Frauen in der Postmenopause unter Calciumsupplementierung nahe legte [2]. Diese Studie hatte schon damals für Diskussionsstoff gesorgt und wurde daher auch vom Dachverband Osteologie (DVO) bei der Erstellung der DVO-Leitlinie Osteoporose 2009 berücksichtigt [3]. In der Post-hoc-Analyse, also einer zu Studienbeginn nicht vorgesehenen Auswertung, hatten Bolland et al. bei 1471 gesunden postmenopausalen Frauen die Wirkung einer Calciumsupplementierung auf die Inzidenz von Herzinfarkten, Schlaganfällen und plötzlichen Todesfällen über fünf Jahre hinweg untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass Herzinfarkte unter Calcium häufiger auftraten als unter Placebo (45 Ereignisse bei 31 Frauen versus 19 Ereignisse bei 14 Frauen, P = 0,01). Dieses Ergebnis blieb auch nach Adjustierungen signifikant. Auch der kombinierte Endpunkt aus Herzinfarkt, Schlaganfall und plötzlichem Tod wurde in der Calciumgruppe häufiger erreicht als in der Placebogruppe. Daraus wurde geschlossen, dass die Supplementierung mit Calcium bei gesunden postmenopausalen Frauen mit einem Trend für vermehrte kardiovaskuläre Ereignisse verbunden ist [2].

In dem Kommentar zur DVO-Leitlinie wird auf die Schwachstellen der Analyse hingewiesen, unter anderem auch auf die geringe Fallzahl. Der Stellenwert der Beobachtung bleibe vorerst offen und müsse in weiteren größeren Studien geklärt werden, so der Kommentar. Interessant sei allerdings die in der Arbeit diskutierte Beobachtung, dass sich auch in der WHI-Studie in der Gruppe der randomisiert mit Calcium und Vitamin D supplementierten Teilnehmerinnen eine grenzgradig höhere Inzidenz der Gesamtrate an Herzinfarkten, Todesfällen durch eine koronare Herzerkrankung, Bypass-Operationen oder eine PTCA gezeigt habe als in der Placebo-Gruppe. Auch gebe es durchaus epidemiologische Daten und pathophysiologische Überlegungen, die diese Befunde unterstützen würden. Die DVO-Experten kamen zu dem Schluss, dass die Daten der Post-hoc-Analyse zwar keinen schlüssigen Beleg für eine schädliche kardiovaskuläre Wirkung von Calciumsupplementen liefern, dass es aber ratsam ist, bis zur weiteren Klärung die tägliche Calciumaufnahme auf eine Menge zu begrenzen, für die bei guter Vitamin-D-Versorgung ein weiterer Nutzen für den Knochen nicht mehr zu erwarten ist. Diese Menge wird mit 1000 mg täglich angegeben.

Die jetzt publizierte Metaanalyse von Bolland et al. zeigt ebenfalls ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, wenn mehr als 500 mg Calcium supplementiert werden. Gefunden wurde ein um 30% erhöhtes Herzinfarktrisiko, allerdings nur, wenn schon mit der Nahrung mehr als 800 mg Calcium aufgenommen worden war.

Auch diese Analyse ist nicht unumstritten. In einem DAZ-Interview hatten wir Prof. Dr. Johannes Pfeilschifter, den 2. Vorsitzenden des Dachverbandes Osteologie, nach den Stärken und den Schwachstellen der Studie gefragt (DAZ 2010; Nr. 32, S. 39). Er hatte die Erhöhung des Herzinfarktrisikos in der Metaanalyse als sehr konsistent bezeichnet und die Interaktion zwischen alimentärer Calciumzufuhr und der Supplementierung als sehr plausibel eingestuft. Die Ärztin Dr. Frauke Höllering teilt diese Meinung nicht. Sie sieht große methodische Mängel und hätte sich eine methodische Überprüfung der Metaanalyse vor der Veröffentlichung durch die Cochrane Collaboration gewünscht (s. Kasten). Allerdings ist das British Medical Journal eine der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, in denen generell Studien vor der Veröffentlichung im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens auch auf methodische Mängel hin überprüft werden. Dr. Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums in Freiburg, hält es für absurd, das Peer-Review-Verfahren einer Zeitschrift durch eine externe Institution überprüfen lassen zu wollen. Für die Diskussion gebe es die Letters to the Editor, die gerade beim BMJ online bis zur Perfektion entwickelt worden seien. Dies sei der geeignete Platz für wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Diese sollten dann Ausgangspunkt für weitere Studien sein. Im Rahmen der BMJ-Letters wird zur Zeit die Metaanalyse intensiv diskutiert. Unter www.bmj.com/cgi/eletters/341/jul29_1/c3691#240590 kann die Diskussion verfolgt werden.

Quelle [1] Bolland M et al.: BMJ 2010, 341 c3691 [2] Bolland et al: BMJ 2008; 336: 262 – 268 [3] DVO-Leitlinie Osteoporose 2009 Leitlinien und Erläuterungen E105 S. 205, www.dv-osteologie.de

 


du
 

Dr. Frauke Höllering

Meinung:
Mehr Herzinfarkte durch Calcium?


Nicht nur die betreffende "Studie", sondern auch die Beiträge in der DAZ dazu sind teilweise irreführend und werfen bei denen, die die Hintergründe kennen, eine Reihe von Fragen auf. Zunächst aber ist es unerlässlich, darauf hinzuweisen, dass der Endpunkt "vaskuläre Erkrankungen" im ursprünglichen Studiendesign nicht vorgesehen war. Das hätte eine retrospektive Analyse nach strengen wissenschaftlichen Kriterien gar nicht zugelassen.

Zu den Fragen: Warum werden in den Beiträgen nicht auch die wichtigen, kritischen Anmerkungen zu den veröffentlichten Analysen gewürdigt? War doch das Thema von den gleichen Autoren schon 2008 diskutiert worden und erntete mehr Kritik als Zustimmung. So berichtete sofort nach der ersten Veröffentlichung einer Studie von Bolland et al. zu diesem Thema eine andere Arbeitsgruppe (BMJ Letters 23. 2. 2008) von ihrer vergleichbaren retrospektiven Analyse einer eigenen Studie (2007). Sie konnte, trotz der gegenüber Bolland et al. doppelten Menge an Calciumsupplementen (1400–1500 mg/Tag), deren Ergebnis in keiner Weise bestätigen! Mehr noch, diese Autoren wunderten sich darüber, dass bei der eigenen Untersuchung die Rate an kardiovaskulären Ereignissen in allen Gruppen nicht einmal halb so groß war wie bei Bolland et al. (und beim Vergleich der beiden Behandlungsgruppen die statistische Rate unter Placebo sogar höher lag). Sie folgerten, dass das Ergebnis von Bolland et al. keine allgemeine Relevanz habe. Wieder andere Autoren bemängelten in der gleichen Zeitschrift, dass relevante Risikofaktoren in beiden Gruppen nicht berücksichtigt worden seien, was die Statistik verfälscht und Signifikanz des Ergebnisses beeinflusst hätte. Deren Fazit: "Es wäre klüger gewesen, erst einmal das Ergebnis zu debattieren, bevor man es veröffentlicht" spricht für sich. Eine dritte Studiengruppe kritisiert schließlich die Vernachlässigung des Einflusses der oft umfangreichen Begleitmedikation von NSAR, Analgetika und Hormonersatztherapien und einen überdies unwissenschaftlichen Umgang mit der Analyse und Auswertung der Studiendaten.

Warum veröffentlichen Bolland et al. jetzt eine Metaanalyse zum gleichen Thema, die dank methodischer Mängel nicht in der Lage ist, die seinerzeitige Kritik zu entkräften, sondern zu neuer Kritik herausfordert? Das Council for Responsible Nutrition (CRN 2010) bemängelt zu Recht, dass aus über 300 Studien zur Wirkung von Calciumsupplementen auf den Knochen nur 15 als "für die Analyse geeignet" ausgewählt wurden. Nach welchen Kriterien? Bei mehr als der Hälfte davon lagen keine oder nur wenige Daten zu kardiovaskulären Ereignissen vor! Zudem blieben alle Studien mit zusätzlicher Vitamin-D-Supplementierung von der Analyse ausgeschlossen. So blieben die Ergebnisse der "Womans Health Initiative" unerwähnt, die den Zusammenhang von kardiovaskulären Ereignissen und Calcium ausdrücklich verneint hatte. Auch zeigen nicht einmal die für die Analyse ausgewählten Studien durchweg einen Risikozusammenhang. Deutliche Hinweise ergaben sich nur in vereinzelten Studien. In diesen verfügte das Kollektiv jedoch über geringere Vitamin-D-Spiegel als in den anderen Kohorten. Ein Faktum, dessen Bedeutung für die Studienergebnisse bekannt ist, aber unerforscht blieb.

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat ihre Sicherheitsdaten auf Basis der Auswertung international publizierter Studien vorgenommen und konstatiert, dass "die Menge von 2500 mg Calcium auch bei langfristiger täglicher Einnahme keine Gesundheitsrisiken birgt". Die Patienten in den von Bolland et al. analysierten Studien erhielten lediglich 500 mg bis 850 mg Calciumsupplement, und hätten selbst bei calciumreicher Ernährung nicht die Menge von 2500 mg täglich erreicht. Das überrascht und führt zu weiteren Fragen:

Kann man allen Ernstes die hochkomplexe Entstehung atheromatöser Veränderungen auf die kurzfristige Anflutung von Calcium nach Gabe von 500 bis 850 mg zurückführen? Ein multifaktorielles Geschehen unter Vernachlässigung der Homöostase auf eine so simple Ursache zurückzuführen, ist atemberaubend.

Es ist bekannt, dass ein dauerhaft erhöhter Serumcalciumspiegel als unabhängiger prognostischer Risikofaktor für Männer im mittleren Lebensalter gilt (Lind et al, Journal Clin. Epidem, Vol. 50, No. 8, pp. 967 – 973 (1997)). Bei den in die Analyse einbezogenen Patienten sollte man jedoch von normalen Calciumspiegeln ausgehen können. Ohne diese hätte man aufgrund der bestehenden Kontraindikationen nicht mit Calciumsupplementen behandeln dürfen. Warum wurde dieses von den Autoren nicht hervorgehoben, berücksichtigt und diskutiert?

Nach der berechtigten, umfangreichen Kritik von 2008 hätte man diese Metaanalyse vor der Veröffentlichung einer methodischen Überprüfung der Cochrane Collaboration vorlegen können, um methodische Fehler dieses Mal frühzeitig zu erkennen. Statt wissenschaftlichen Qualitätsansprüchen Genüge zu tun, hat man es leider vorgezogen, mit plakativen Ergebnissen ein wenig kurzfristige Aufmerksamkeit im Sommerloch zu ergattern. Das führt zu vielen unnötigen Zweifeln und Diskussionen, aber nützt niemandem. Am wenigsten der Reputation der Autoren.


Dr. Frauke Höllering, Maria- Kahle-Weg 15, 59759 Arnsberg


Dr. Höllering ist Fachärztin für Innere Medizin und Allgemeinmedizin. Sie arbeitet u. a. als Referentin für Hexal und medizinjournalistisch für Sandoz, Bayer, Sanofi/Aventis, Roche und Novartis.

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