Biochirurgie

Seraticin – ein antibiotischer Wirkstoff von Fliegenlarven

Von Heike und Lutz Heuer

Weitaus die meisten Antibiotika sind natürlichen Ursprungs. Wegen ihres großen Nutzens wurde diese Substanzklasse kürzlich in einem Internet-Forum zum größten Beitrag der Chemie aller Zeiten erklärt [1]. Leider sind immer wieder erhebliche Nebenwirkungen von Antibiotika zu beobachten, die deren Verwendbarkeit einschränken. Noch bedenklicher ist die Zunahme multiresistenter Bakterien wie MRSA. Deshalb ist die Entwicklung neuer Antibiotika mit neuen Wirkprinzipien erforderlich [2]. In dieser Hinsicht erscheint Seraticin™ interessant, ein Extrakt aus den Maden der Goldfliege (Lucilia sericata).

Foto: Alvesgaspar
Lucilia sericata Die ca. 1 cm große Goldfliege ent­wickelt sich aus der oben abgebildeten Made oder Larve. 

Fliegenmaden werden seit Jahrtausenden in der Wundbehandlung eingesetzt [3]. Die moderne Medizin nutzt ihre wundheilende Wirkung seit über einem Jahrzehnt [4, 5]. Die antibiotische Wirkung der Larven wurde im letzten Jahrhundert etwa zeitgleich zur Entdeckung von Penicillin in den USA beobachtet und patentiert [6]. Das neuerliche Interesse hat zu neuen Publikationen und Patenten geführt, in denen der Wirkstoff charakterisiert wird [7]. Es zeigte sich, dass die Fliegenmaden abgestorbenes Gewebe mithilfe verschiedener Wirkstoffe extrakorporal verdauen [8]. Da "Fliegenlarven zur Biochirurgie" eine physiologische Wirkung auf den Körper ausüben, sind sie seit 1999 in Deutschland als Arzneimittel eingestuft (s. Kasten). Sie werden auf besondere Anforderung (Rezept) im Einzelfall für einen namentlich bekannten Patienten hergestellt und sind somit ein Rezepturarzneimittel [10].

Hypothesen über die antibiotischen Wirkprinzipien

Schon 1935 wurde die bakterizide Wirkung der Extrakte von Fliegenmaden beschrieben; die Wirksubstanz konnte nicht isoliert werden, sie erwies sich aber als hitzestabil. Erst in jüngerer Zeit wurde die Forschung wieder aufgenommen. Doch trotz deutlich verbesserter analytischer Methoden steht bisher nur fest, dass die Larven eine Vielzahl von proteolytischen Enzymen ausscheiden, die zwar das Debridement der Wunde fördern, eine antibiotische Wirkung aber nicht erklären [8].

Kürzlich gelang es, die Ausscheidungen der Larven durch Ultrafiltration in Fraktionen zu trennen, die in Abhängigkeit von der Molekularmasse unterschiedlich gut wirksam waren [11, 12]: eine niedermolekulare Fraktion von < 500 Da und eine thermostabile, proteaselabile Fraktion von 0,5 bis 10 kDa; sie dürfte aus mehreren Peptiden bestehen, z. B. den bei Insekten nicht unüblichen Cecropinen, die mit den bekannten Defensinen der Säugetiere strukturell verwandt sind. Defensine können bis zu 10% der Proteine in Leukozyten oder Makrophagen ausmachen und haben Molekularmassen von 3 bis 5 kDa. Berger postuliert Dermaseptin-ähnliche Propeptide sowie eine zweite antibiotische Komponente mit einer Molekularmasse von 1060 Da als antibiotische Wirkprinzipien der Larven [13]. Dermaseptine sind stark wirksame Antibiotika, die allerdings auf menschliche Erythrozyten toxisch wirken [14].

Die Arbeitsgruppe von Daeschlein und Kramer hat in den Ausscheidungen der Fliegenmaden eine bis zu zehnfach erhöhte Konzentration von Thiocyanat-Ionen (SCN) nachgewiesen und vermutet daher als bakterizides Wirkprinzip die Peroxidase-katalysierte Bildung von Hypothiocyanat (O=SCN) (Abb. 1) [15, 16]. Da die Peroxidase thermisch labil ist, dürfte sie aber nicht allein für die bakterizide Wirkung verantwortlich sein, sondern die antibakteriellen Polypeptide synergistisch ergänzen, was erklären könnte, warum die nativen Extrakte der Larven in den meisten Fällen stärker wirksam waren als die angereicherten Fraktionen. Der Synergismus könnte darin bestehen, dass die zumeist positiv geladenen Cecropine hydrophile Löcher in die Bakterienmembranen stanzen, durch die die Hypothiocyanat-Ionen in die Zelle eindringen (Abb. 2).

Zudem steht auch die Annahme im Raum, dass die Fliegenmaden je nach ihrer Nahrungsquelle und darin vorkommenden Bakterien verschiedene Wirkstoffe ausscheiden. Sie könnte die Beobachtung erklären, dass unsterile Larven stärkere antibiotische Wirkstoffe ausscheiden als sterile Larven.

Definitionen [9]


Biochirurgie. Der Begriff Biochirurgie umschreibt den kontrollierten Einsatz von Larven bestimmter Fliegenarten zum Debridement nekrotischen Gewebes.

Tierkörper. Körper lebender Tiere sind Stoffe im Sinne des [Arzneimittel-] Gesetzes, zum Beispiel Blutegel, Schafläuse und Fliegenmaden, die auch im lebenden Zustand eingesetzt werden.

Kommt das Fliegenlarven-Arzneimittel?

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das antibakteriell wirksame Prinzip von Ausscheidungen oder Extrakten von Lucilia sericata-Larven nicht existiert. Vielmehr scheiden die Larven bei ihrer extrakorporalen Verdauung eine Vielzahl von Komponenten aus, die antibakteriell wirksam sind. Eine aus den Larvenausscheidungen isolierte chemisch definierte Substanz hingegen würde also nur einen Teil der antibiotischen Wirkung der Larven abdecken.

Seraticin™ dürfte eher die Voraussetzungen für die Zulassung als Arzneimittel erfüllen als die Larven, bei denen der Nachweis von fehlenden Nebenwirkungen nicht zuletzt deswegen schwer fallen dürfte, weil die Zusammensetzung der Larvenausscheidungen vom Nahrungssubstrat abhängt und damit patientenindividuell ist.


Literatur

[1] Chemistry‘s greatest contribution to humanity. ICIS Chemical Business, August 18 – 24 2008, S. 29.

[2] Holzgrabe U. Sprung- und Schrittinnovationen bei Antibiotika. Dtsch Apoth Ztg 2006;146:251– 257.

[3] Probst W, Vasel-Biergans A. Wundmanagement, 2. Aufl. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2009, S. 334 ff.

[4] Fleischmann W, et al. A Handbook of Maggot-Assisted Wound Healing. Thieme Verlag, Stuttgart 2004.

[5] Grassberger M, Frank C. Wundheilung durch sterile Fliegenlarven: mechanische, biochemische und mikrobiologische Grundlagen. Wien Med Wochenschr 2003; 153(9 –10):198-201.

[6] Wollina U. Biochirurgie/Madentherapie, Medizin & Praxis "Chronische Wunden". Verlag für Medizinische Publikationen, 2008.

[7] Mehlhorn H, et al. Patente WO 03/013557 (2003), WO 2006/066619 (2004), WO 2007/071540 (2006).

[8] Minde S. Entwicklung einer enzymatisch abbaubaren, biochirurgisch wirkenden Wundauflage. Diss. Univ. Kiel, 2006.

[9] Kloesel/Cyran. Blatt 3f zum § 2 Absatz 1 Nr. 4 AMG Kommentar 68 und Blatt 15f zum § 3 Nr. 3 AMG Kommentar 27.

[10] Schmidt M. Maden als lebende Verbände. PTAheute 2003;17(1):40-41; Schmidt M. Madentherapie statt Amputation. PTAheute 2009;23(23):30 – 32.

[11] Nigam Y, et al. Maggot Therapy: The Science and Implication for CAM Part II – Maggots Combat Infection. Evid Based Complement Alternat Med 2006;3:303 – 308.

[12] Bexfield A, et al. The antibacterial activity against MRSA strains and other bacteria of a < 500 Da fraction from maggot excretions/secretions of Lucilia sericata (Diptera: Calliphoridae). Microbes Infect 2008;10:325 – 333.

[13] Berger M. Identifizierung biologisch aktiver Peptide und Proteine in den Sekreten von Lucilia sericata im Wundheilungsgeschehen. Diss. Univ. Köln 2006.

[14] Navon-Venezia S, et al. Antibacterial properties of dermaseptin S4 derivatives with in vivo activity. Antimicrob Agents Chemother 2002;46:689 – 694.

[15] Daeschlein G, et al. Antibakterielle Wirkung von Fliegenmaden (L. sericata) in vitro. GMS Krankenhaushyg Interdiszip 2006; 1(1):Doc17.

[16] Kramer A, et al. Konsensusempfehlung zur Auswahl von Wirkstoffen für die Wundantiseptik. Z Wundheilung 2004;3:110 –120.

[17] Haussmann W. Biochirurgie mit Fliegenmaden. PZ Prisma 2000;7(4):234 – 240.


Autoren

Apothekerin Heike Heuer und Dr. rer. nat. Lutz Heuer

Am Krausberg 31, 41542 Dormagen
Foto: Fa. Agiltera
Made der Goldfliege, vergrößert; real 1 bis 2 mm lang.
Abb. 1: Die von der Glucoseoxidase katalysierte Reaktion setzt Wasserstoffperoxid frei, welches das von den Larven gebildete Thiocyanat (SCN) mithilfe der in der Wunde vorhandenen Peroxidase zu stark antibakteriell wirkendem Hypo­thiocyanat (O=SCN) umsetzt.
Abb. 2: Cecropin-Moleküle (rot) lagern sich an die Membran des Bakteriums an und öffnen ein Loch, durch welches Hypothiocyanat-Ionen eindringen können; dadurch stirbt das Bakterium.

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