Arzneimittel und Therapie

Acetylsalicylsäure (Aspirin®) zur Prophylaxe von Kolonkarzinomen?

Prof. Dr. Dr. Kay Brune

Zwei neue Artikel im Lancet wecken wieder einmal Hoffnungen. Dort berichten die Autoren Rothwell et al [1] zum einen nach Auswertung von fünf Studien, dass die langfristige (bis zu 20 Jahre) Einnahme niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS) mit einer verminderten Inzidenz (25%) und einer geringeren Letalität (35%) von Tumoren besonders des proximalen, angeblich koloskopisch schwer beurteilbaren Kolons einhergeht. In einer weiteren Analyse von acht Studien [2] sehen Rothwell et al. eine geringere Letalität nicht nur durch Kolonkarzinome, sondern auch durch andere gastrointestinale Tumore. Auch Lungen- oder Gehirntumore scheinen unter Langzeiteinnahme von Acetylsalicylsäure reduziert zu werden.

Die Befunde sind interessant, sollten aber nicht zur Empfehlung führen, ASS einzunehmen, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Die zusammenfassende Auswertung mehrerer Studien erlaubt keine sicheren Schlüsse, denn unterschiedliche Studien haben u.a. ganz unterschiedliche Zielparameter [3]. Es liegen also keine gesicherten Ergebnisse, sondern begründete Vermutungen vor.

  • Eine Erklärungshypothese, warum niedrig dosierte ASS diesen nachhaltigen Effekt haben könnte, fehlt.

  • Die Hypothese, dass Cyclooxygenasehemmer, darunter auch ASS, die Entwicklung kolorektaler Karzinome verlangsamen oder verhindern können, geht auf eine These von Rosenberg aus dem Jahre 1991 zurück [4].

  • In den darauffolgenden Jahren wurde wiederholt festgestellt, dass ein Schutzeffekt existiert [5]. Bei der Anwendung klassischer, nicht-selektiver Cyclooxygenasehemmer wird er aufgewogen durch das Auftreten von gastrointestinalen Blutungen [6].

  • Dieser Nachteil schien zu entfallen, als die Cyclooxygenase-2-Hemmer auf den Markt kamen (Celecoxib, Etoricoxib, Rofecoxib und Valdecoxib). In der Tat wurden sowohl Rofecoxib als auch Celecoxib in langfristigen, prospektiven Studien auf ihre Verwendbarkeit zur Verminderung des Auftretens von Dickdarmpolypen und damit auch Karzinomen untersucht. Es zeigte sich, dass die Polypenbelastung unter der Anwendung von Cyclooxygenase-2-Hemmern zurückgeht [7-8]. Allerdings zeigte eine dieser Studien sowie eine parallel durchgeführte Studie zur Prävention der Alzheimer-Krankheit [8], dass es zwar zu einer Verminderung des Auftretens von Dickdarmpolypen kommt, dass dieser therapeutische Gewinn aber durch die erhöhte Inzidenz von Herzinfarkten aufgehoben wird [9].

  • Neueste Arbeiten zur Langzeitanwendung von niedrig dosierter ASS [9-12], insbesondere auch beim älteren Menschen [9, 11] zeigen, dass die Inzidenz von klinisch relevanten, gastrointestinalen Blutungen ansteigt und chronische Blutverluste manifest werden.


Fazit

Die Hemmung der Cyclooxygenasen geht einher mit einer verminderten Inzidenz von Dickdarmpolypen und Karzinomen. Diesem therapeutischen Gewinn stehen Magen-Darm-Blutungen und ein erhöhtes Herzinfarktrisiko gegenüber. Auch bei Anwendung niedrig dosierter Acetylsalicylsäure sind Blutungen und chronische Blutverluste häufig. Diese Negativeffekte widersprechen der Langzeitanwendung mit den Indikationen "Darmkrebsprävention" oder (noch anspruchsvoller) "Karzinomprävention". Für diejenigen Patienten, die zur Infarktprophylaxe chronisch Acetylsalicylsäure (niedrig dosiert) einnehmen, ist der (wohl gemerkt) geringe und statistisch nicht gesicherte Effekt auf die Entwicklung von Darmkrebs ein (möglicher) Gewinn, der – soweit wir heute wissen – anderen Plättchenaggregationshemmern nicht zugeordnet werden kann. Diejenigen Patienten, die keinen Plättchenaggregationshemmer benötigen, sollten besser regelmäßig zur Koloskopie gehen (und zwar zu einem Gastroenterologen, der auch das proximale Kolon sicher bewerten kann). Allen anderen Patienten wird aus heutiger Sicht davon abgeraten, ASS präventiv zur Karzinomvorbeugung zu nehmen.


Prof. Dr. Dr. Kay Brune, Doerenkamp-Stiftungsprofessur, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen


Literatur

[1] Rothwell PM, et al.: Long-term effect of aspirin on colorectal cancer incidence and mortality: 20-year follow-up of five randomised trials. Lancet 2010; 376, 1741– 50.

[2] Rothwell PM, et al.:Effect of daily aspirin on long-term risk of death due to cancer: analysis of individual patient data from randomised trials. Published online December 7, 2010 DOI:10.1016/S0140-6736(10)62110-1

[3] Benamouzig R, Uzzan B: Aspirin to prevent colorectal cancer: time to act? Lancet 2010; 376, 1713 – 4.

[4] Rosenberg L, et al.: A hypothesis: nonsteroidal anti-inflammatory drugs reduce the incidence of large-bowel cancer. J Natl Cancer Inst 1991; 83, 355 – 8.

[5] Rosenberg L, Louik C, Shapiro S: Nonsteroidal antiinflammatory drug use and reduced risk of large bowel carcinoma. Cancer 1998; 82, 2326 – 33.

[6] Dube C et al.: The use of aspirin for primary prevention of colorectal cancer: a systematic review prepared for the U.S. Preventive Services Task Force. Ann Intern Med 2007; 146: 365 – 75.

[7] Bertagnolli MM et al.: Celecoxib for the prevention of sporadic colorectal adenomas. N Engl J Med 2006; 355, 873 – 84.

[8] Baron JA et al.: Cardiovascular events associated with rofecoxib: final analysis of the APPROVe trial. Lancet 2008; 372: 1756 – 64.

[9] Goldberg RM, Bertagnolli MM: VICTOR spoiled? J Clin Oncol 2010; 28: 4546 – 8.

[10] Gaskell H, Derry S, Moore RA: Is there an association between low dose aspirin and anemia (without overt bleeding)?: narrative review. BMC Geriatr 2010; 10: 71.

[11] Cryer B et al.: Low-Dose Aspirin-Induced Ulceration Is Attenuated by Aspirin-Phosphatidylcholine. Am J Gastroenterol 2010 doi:10.1038/ajg.2010.436.

[12] Nakayama M et al.: Low-dose aspirin is a prominent cause of bleeding ulcers in patients who underwent emergency endoscopy. J Gastroenterol 2009; 44: 912 – 8.

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