Diskussion

Muss Paracetamol auf den Prüfstand?

Diskussion um neue Studien zu potenziellen Risiken von Paracetamol

Ginge es nach den Vorstellungen des Erlanger Pharmakologen Prof. Dr. Dr. Kay Brune, dann müssten Paracetamol-haltige Arzneimittel zumindest vollständig der Rezeptpflicht unterstellt werden, wenn nicht sogar ganz vom Markt genommen werden. In einem Gastkommentar in der DAZ (Nr. 49; S. 42 – 43) hatte er dies begründet. Wir wollten wissen, wie die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK), das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) die Situation einschätzen und haben gefragt, ob vor dem Hintergrund neuer Studien insbesondere zur Anwendung in der Schwangerschaft eine neue Nutzen-Risiko-Bewertung erforderlich ist.

In seinem Gastkommentar hatte Brune anhand der folgenden sieben Punkte erläutert, weshalb Paracetamol ein in seinen Augen kein harmloses Schmerz- und Fiebermittel ist:

  • 1. Leberschäden sind bei hoher Dosierung unvermeidlich. Sie kommen aber auch bei niedriger Dosierung vor.

  • 2. Die Entdeckung, dass Paracetamol ein präferentieller, nicht-selektiver Hemmer der Cyclooxygenase-2 ist, erklärt, warum bei kurzfristiger, mehr noch bei längerer Einnahme von Paracetamol der Blutdruck erhöht ist.

  • 3. Ein länger bestehender, erhöhter Blutdruck und die Unterdrückung der Bildung des endothelialen Gefäßschutz-Wirkstoffes Prostacyclin erklären das vermehrte Auftreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen.

  • 4. Die Kombination von Paracetamol mit einem nicht-selektiven Hemmer der Cyclooxygenase, wie Acetylsalicylsäure, führt besonders häufig zu Magen-Darm-Blutungen.

  • 5. Hohe Paracetamolkonzentrationen nach oraler und parenteraler Applikation können zu Asthmaanfällen führen.

  • 6. Aus zwei großen skandinavischen, epidemiologischen Datenbankanalysen ergibt sich ein enger Zusammenhang mit einer verminderten männlichen Fertilität aufgrund von Hodenhochstand und reduzierter Hodenfunktion und der Einnahme von Paracetamol durch die Schwangere. Die Ergebnisse von zwei unabhängigen Untersuchungen sollten nicht verwundern. Schließlich sei die Bedeutung des Prostaglandins bei der fetalen Entwicklung des Urogenitalsystems längst bekannt, so Brune. COX-2-Hemmer sind deswegen in der Schwangerschaft kontraindiziert.

  • 7. Schließlich würden sich die Arbeiten mehren, die zeigen, dass Kinder häufiger an Asthma erkranken, wenn sie als Kleinkinder oder in der Gebärmutter Paracetamol ausgesetzt waren. Ob diese immer noch umstrittene, aber durch zahlreiche Analysen nicht vom Tisch zu wischende Nebenwirkung von Paracetamol auf der Hemmung der Cyclooxygenasen in frühen Entwicklungsstadien zurückzuführen ist, ist nach Ansicht von Brune zurzeit noch unklar. Schließlich würde das Aspirin-induzierte Asthma bei den entsprechend empfindlichen Patienten durch Hemmung der Cyclooxygenase-1 zustande kommen.

BfArM: Neue Risikosignale werden bewertet

Dazu merkt das BfArM an, dass die unter den Punkten 1 bis 5 genannten Nebenwirkungen und Risiken bekannt seien. Sie seien jedoch in erster Linie bei hohen Dosierungen oder Überdosierungen, Missachtung von Kontraindikationen oder längerer Einnahmedauer zu erwarten. In den Gebrauchsinformationen von OTC-Arzneimitteln mit Paracetamol würden sich entsprechende Hinweise zu Dosierung, Kontraindikationen und Einnahmedauer ohne ärztliche Kontrolle finden.

Die Frage der Verschreibungspflicht und einer Begrenzung der Packungsgröße sei im Jahr 2008 vom Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht behandelt worden. Dessen Empfehlung habe zu einer Begrenzung der nicht verschreibungspflichtigen Packungsgrößen geführt: Packungen mit mehr als 10 g Paracetamol seien der Verschreibungspflicht unterstellt worden.

Die angesprochenen neuen Signale für die Risiken Kryptorchismus oder Asthma bei Kindern, deren Mütter in der Schwangerschaft Paracetamol einnahmen oder als Kleinkinder mit Paracetamol behandelt wurden, werden zurzeit unter Mitwirkung des BfArM von der Pharmakovigilanz-Arbeitsgruppe (PhVWP) des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) bewertet. Wenn sich aus dieser Bewertung Empfehlungen für risikomindernde Maßnahmen ergeben werden, so das BfArM, werden diese auch in Deutschland umgesetzt werden.

AMK: kein Anlass für Neubewertung

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) hatte vor Kurzem zusammen mit der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) eine Stellungnahme zur Risikominimierung durch rationalen Einsatz nicht-opioider Analgetika in der Selbstmedikation herausgegeben. AMK und DPhG betonen darin, dass Paracetamol größere Risiken berge als bislang angenommen (s. Kasten).

AMK/DPhG-Stellungnahme zu Paracetamol


Auszug aus der AMK/DPhG-Stellungnahme zur Risikominimierung durch rationalen Einsatz nicht-opioider Analgetika in der Selbstmedikation
(DAZ 2010; Nr. 48, S. 26 – 28):

... Auch Paracetamol birgt größere Risiken als lange Zeit angenommen. Wenngleich der Arzneistoff bei bestimmungsgemäßer Kurzzeitgabe (bis maximal 4 g pro Tag über maximal 3 bis 4 Tage) nur eine geringe Rate an UAW aufweist und in der Pädiatrie, bei Schwangeren sowie bei Patienten mit gastrointestinalen Ulzerationen in der Anamnese eingesetzt werden kann, liegt ein bedeutender Nachteil in der geringen therapeutischen Breite: Schon ab einer dauerhaften Einnahme von 7,5 g täglich können sich bei Erwachsenen Leberzellnekrosen entwickeln [7, 8]. Ähnlich wirken einmalige Dosen ab 10 bis 12 g [7, 8]. Bei vorgeschädigter Leber, Einnahme weiterer hepatotoxischer Substanzen oder Induktoren des Cytochrom-P-450-Systems muss zudem mit niedrigeren Schwellendosen gerechnet werden. Wird nicht rechtzeitig das Antidot Acetylcystein gegeben, entwickelt sich ein Coma hepaticum, das unbehandelt zum Tod führt.

Das Risiko eines unsachgemäßen Einsatzes von Paracetamol wird durch die 4184 Giftberatungsfälle deutlich, die im Jahre 2006 in den deutschen Giftinformationszentren zu diesem Analgetikum registriert wurden. Hierbei handelte es sich zu 63 Prozent um Suizidversuche [9]. Neben beabsichtigten spielen aber auch akzidentelle Intoxikationen eine Rolle, zum Beispiel als Folge der zeitgleichen Anwendung mehrerer Paracetamol-haltiger Fertigarzneimittel wie Tabletten, Suppositorien und (Kombinations-)Arzneimitteln für die Behandlung von Erkältungskrankheiten (u. a. so genannte Heißgetränke). Da hierbei nicht selten supratherapeutische Dosen wiederholt über mehrere Tage eingenommen werden, kann es schon bei tieferen Dosen als bei der akuten einmaligen Überdosierung zu einer Leberschädigung kommen. In den USA sterben jährlich 500 Patienten an den Folgen einer Überdosierung mit diesem Analgetikum/Antipyretikum (10). Für Deutschland sind hierzu keine genauen Zahlen bekannt.

Auf weitere Risiken von Paracetamol bei Langzeittherapie weisen neuere Untersuchungen hin: Da Paracetamol die COX-2 hemmt [11], wird zunehmend eine kritische Analyse seines kardiovaskulären Risikopotenzials durch randomisierte klinische Studien gefordert [4, 5]. Erste prospektive Kohortenstudien weisen der langfristigen und häufigen Einnahme von Paracetamol eine den nicht steroidalen Antiphlogistika vergleichbare Blutdruckerhöhung und Rate unerwünschter kardiovaskulärer Ereignisse zu [12, 13]. Zudem scheint epidemiologischen Studien zufolge die langfristige kombinierte Gabe von nicht steroidalen Antiphlogistika und Paracetamol das Risiko gastrointestinaler UAW überadditiv zu erhöhen [14, 15]. ...


Die Unterstellung von Paracetamol unter die Verschreibungspflicht in Packungen mit mehr als 10 g wird daher uneingeschränkt befürwortet. Weitere Maßnahmen werden nicht gefordert. Im Hinblick auf die Anwendung in der Schwangerschaft sieht die AMK derzeit keinen Anlass zu einer Neubewertung der zulassungskonformen Anwendung, so Prof. Dr. Martin Schulz, Vorsitzender der AMK gegenüber der DAZ. Er beruft sich in diesem Punkt auf die Ausführungen des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie (http://www.embryotox.de/paracetamol.html). Dort heißt es:

  • Planung einer Therapie oder Planung einer Schwangerschaft unter Therapie: Paracetamol ist das Analgetikum und Antipyretikum der Wahl. Es kann in jeder Phase der Schwangerschaft innerhalb des üblichen Dosisbereichs eingesetzt werden.

  • Konsequenzen nach Anwendung in der Schwangerschaft: keine.

  • Besser erprobte Alternativen: keine.

Diesen Ausführungen habe die AMK nichts hinzuzufügen, so Schulz.

BAH: Keine Rechtfertigung für Marktrücknahme

Für den Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) ergeben sich bei näherem Hinsehen aus den von Brune zitierten Arbeiten keine Hinweise auf neue Risiken, die es rechtfertigen würden, Paracetamol-haltige Arzneimittel insgesamt der Verschreibungspflicht zu unterstellen oder vom Markt zu nehmen (s. Stellungnahme).

BAH-Stellungnahme:
"Unterstellung unter Verschreibungspflicht nicht gerechtfertigt!"


In seinem Gastkommentar "Paracetamol – ein Wolf im Schafspelz läuft frei herum!"
(DAZ 2010, Nr. 49, S. 42 – 43) nimmt Professor Brune neuere Publikationen zu möglichen Auswirkungen von Paracetamol in der Schwangerschaft zum Anlass, die Datenlage von Paracetamol "noch einmal genauer anzuschauen".

Brune führt insgesamt 19 Literaturstudien an, die seiner Meinung nach eine Neubewertung des Nutzens und der Risiken von Paracetamol erforderlich machen. Im Rahmen dieser Stellungnahme können selbstverständlich nicht alle Artikel und die darin diskutierten Studien erläutert werden. Viele der zitierten Studien weisen methodische Schwächen oder andere Mängel auf; einige der zitierten Arbeiten enthalten überhaupt keine Daten zu Paracetamol, sondern fassen andere – ebenfalls zitierte – Arbeiten nur erneut zusammen. So stellt die Arbeit von White und Campbell [Zitat 7] lediglich ein Editorial zu Forman et al. [Zitat 6] dar. Die im Zusammenhang mit dem dritten Vorwurf – vermehrtes Auftreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen unter Paracetamol – zitierte Arbeit von Forman et al. [Zitat 6] untersuchte erst gar nicht die Assoziation einer Paracetamol-Einnahme mit Herzinfarkten und Schlaganfällen; die daraus abgeleiteten Empfehlungen können daher auch nicht einen solchen Zusammenhang belegen. Die Arbeit von Chan et al. [Zitat 8], die eine Kohorte US-amerikanischer Krankenschwestern über zwölf Jahre lang befragt hat, fand eine Assoziation einer NSAIDs-Einnahme und dem erhöhen Risiko kardiovaskulärer Ereignisse erst dann, wenn das Arzneimittel an mehr als an 22 Tagen pro Monat eingenommen wurde. Eine solche Dauereinnahme fällt zweifelsohne nicht in den Anwendungsbereich rezeptfreier Analgetika und kann daher auch nicht herangezogen werden, um zu begründen, dass verschreibungsfreie Produkte der Rezeptpflicht unterstellt werden sollen.

Diese Reihe methodischer Schwächen könnte weiter fortgeführt werden. Dass dies nicht notwendig ist, lässt sich auch aus der Arbeit von Brune ableiten, der im Wesentlichen seine Forderung nach einer Neubewertung von Paracetamol nicht aus den ersten fünf, sondern aus den letzten beiden Punkten ableitet, also einer vermuteten verminderten Fertilität männlicher Kinder (Kryptorchismus) und einem erhöhten Asthma-Risiko während der Schwangerschaft bzw. bei Kleinkindern.

Die erstgenannte Behauptung stützt sich auf zwei Publikationen zu epidemiologischen Studien (Jensen et al. [Zitat 11] und Kristensen et al. [Zitat 12]). Jensen et al. fanden jedoch allenfalls sehr schwache Korrelationen zwischen einer Paracetamol-Einnahme während der Schwangerschaft über mehr als vier Wochen und einer verminderten Fertilität. Nahezu alle erfassten Parameter waren schlussendlich statistisch nicht signifikant (die 95% Konfidenzintervalle der hazard ratios schließen 1.0 ein). Bei einem einzigen Parameter (Paracetamol-Einnahme länger als vier Wochen während der Schwangerschaft) fand sich ein gerade eben statistisch signifikantes Ergebnis (95% CI: 1.05-1.83). Zudem hat diese Untersuchung die inhärenten Beschränkungen epidemiologischer Studien (wie z.B. unberücksichtigte confounding factors, recall bias, statistische Bewertung multipler Vergleiche). Kristensen et al. untersuchten die Assoziation zwischen der Einnahme leichter Analgetika während der Schwangerschaft und Kryptorchismus bei dänischen und finnischen Frauen. Eine Paracetamol-Einnahme war in keiner der Kohorten mit einem signifikanten Anstieg der Häufigkeit von Kryptorchismus korreliert.

Beide Publikationen belegen somit nicht das Risiko für Kryptorchismus durch eine Paracetamol-Einnahme der Mutter während der Schwangerschaft.

Bleibt nur noch der siebte Punkt, der Verdacht eines erhöhten Asthma-Risikos bei Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft, bzw. bei Kleinkindern.

Die diesbezüglich angeführten Publikationen sind entweder epidemiologische Studien [Zitate 16, 17, 18] oder eine Metaanalyse epidemiologischer Studien [Zitat 14]. In dem von Brune selbst zitierten kritischen Review [Zitat 15] bemängeln Scialli et al. die Restriktionen der Aussagekraft sowie die Qualität der vorhandenen epidemiologischen Studien und kommen dabei zur Schlussfolgerung, dass die vorliegenden Daten insuffizient seien, um ein Risiko durch Paracetamol zu zeigen.

Schließlich weist Brune in seinem Fazit noch auf die Publikation von Marinetti et al. [Zitat 19] hin. In dieser Arbeit wurden zehn Todesfälle bei Kleinkindern vorgestellt, die z.T. Paracetamol-haltige Präparate erhalten hatten. In einem Fall (Paracetamol-Plasmaspiegel 117 mg/l) wurde als Todesursache Sepsis aufgrund einer Pneumonie diagnostiziert, wobei Paracetamol als verstärkender Faktor benannt wurde, also auch nicht als eigentliche Todesursache. In allen anderen Fällen wurden andere Todesursachen diagnostiziert bzw. traten keine Paracetamol-typischen Intoxikationserscheinungen auf. Auch diese Arbeit (die zudem schon 2005 erschienen ist) liefert somit keine Hinweise auf neue, bisher unbekannte Paracetamol-Risiken.

Fazit


Bei näherem Hinsehen ergeben sich aus den von Prof. Brune zitierten Arbeiten keine Hinweise auf neue Risiken, die es rechtfertigen würden, Paracetamol-haltige Arzneimittel insgesamt der Verschreibungspflicht zu unterstellen oder gar ganz vom Markt zu nehmen. In therapeutischen Dosierungen verwendet ist Paracetamol ein bewährter und sicherer Wirkstoff in der Selbstmedikation. Um Risiken im Zusammenhang mit den bekannten hepatotoxischen Wirkungen von Paracetamol bei erheblicher Überdosierung zu reduzieren, wurde die verschreibungsfrei erhältliche Packungsgröße bereits erheblich reduziert.


Dr. Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft, Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e. V. (BAH), Ubierstraße 71 – 73, 53173 Bonn


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