Apotheke und Markt

Inkontinenzversorgung: Neue Spielregeln für den medizinischen Fachhandel

Am 1. Oktober 2010 trat ein neuer Rahmenvertrag der AOK Baden-Württemberg über die Versorgung der Versicherten mit saugenden Inkontinenzprodukten im ambulanten Bereich in Kraft. Für die Leistungserbringer bedeutet dies eine grundlegende Umstellung ihrer Abläufe, wenn sie als Vertragspartner der AOK im Geschäft bleiben wollen. Was genau sich geändert hat, erläutert Steffen Bonn, Leiter Vertrieb Medizinischer Fachhandel der Paul Hartmann AG*.

Steffen Bonn

Was hat sich seit dem 1. Oktober 2010 durch den "Rahmenvertrag der AOK Baden-Württemberg zur Versorgung mit aufsaugenden Inkontinenzhilfen" für den medizinischen Fachhandel geändert?

Bonn: Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Leistungserbringer, also die Apotheken und Sanitätshäuser, die den Rahmenvertrag unterzeichnet haben, mussten sich von Festbeträgen auf Versorgungspauschalen umstellen. Die Abrechnung aller ambulanten Versorgungsfälle bei AOK-Versicherten erfolgt jetzt im Rahmen der Monatspauschale A in Höhe von 33 Euro inklusive Mehrwertsteuer oder der Monatspauschale B für nicht pflegebedürftige Menschen in Behinderteneinrichtungen in Höhe von 38 Euro inklusive Mehrwertsteuer. Dabei gilt: Die Versorgung muss wirtschaftlich, zweckmäßig und ausreichend sein, darf aber das notwendige Maß nicht überschreiten. Dadurch ist es möglich, dass sich für einige Versicherte die Versorgungsart ändert.


Worin bestehen konkret die Risiken und Herausforderungen bei einer Unterzeichnung des Vertrags für den medizinischen Fachhandel?

Bonn: Für den Leistungserbringer ergibt sich eine Mischkalkulation mit einer gewissen Kalkulationsunsicherheit, die ein finanzielles Risiko beinhaltet. Unterzeichnet er den Vertrag mit der AOK, muss er die Versorgung der Versicherten sicherstellen, ohne jedoch eine feste Zusage über die Anzahl und den Inkontinenzgrad der zu versorgenden Patienten zu erhalten. Je größer die Anzahl der Patienten, desto größer ist aber die Wahrscheinlichkeit des Risikoausgleichs. Letztendlich bestimmen also die Produktauswahl und Produktmenge den Ertrag und demnach Erfolg des Leistungserbringers. Weitere Herausforderungen der neuen und damit ungewohnten Versorgungsform für die Versicherten sind der zumindest anfangs erhöhte Beratungsbedarf sowie die oftmals schwierige und zeitaufwändige Definition der medizinisch notwendigen Versorgung im Einzelfall. Beides muss aber der Leistungserbringer sicherstellen, und dies unter Berücksichtigung der betriebswirtschaftlichen Kennzahlen.


Welche Chancen bieten sich für medizinische Fachhändler bei einer Vertragsunterzeichnung?

Bonn: Zunächst einmal sei erwähnt, dass eine Versorgung innerhalb der genannten Beträge durchaus möglich ist. Allerdings wird sich der Markt verändern: Die Zahl der Leistungserbringer wird zurückgehen, wodurch sich gleichzeitig ein Ausbau des Geschäfts mit Inkontinenzprodukten bei anderen Leistungserbringern ergibt. Für diejenigen, die sich dem neuen Rahmenvertrag anschließen, ergeben sich außerdem andere Chancen. Sie können Zusatzumsätze generieren, zum Beispiel durch den Verkauf von Pflegeprodukten, oder Mehrumsätze durch wirtschaftliche Aufzahlung bei der Abgabe von Komfort-Produkten erzielen. Zu erwarten sind auch Umsätze durch die Einlösung von Rezepten für Arzneimittel, die Kunden dann in der gleichen Apotheke tätigen, von der sie ihre Inkontinenzprodukte beziehen.


Wie unterstützt die Paul Hartmann AG die Leistungserbringer? Oder, anders formuliert: Warum sollen Leistungserbringer auf die Paul Hartmann AG setzen?

Bonn: Aus der Praxis mit Krankenkassenausschreibungen verfügt Hartmann über einen großen Erfahrungsschatz in der Versorgung mit pauschaler Vergütung – sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Wir bieten unseren Kunden ein breites und qualitativ hochwertiges Produktportfolio für alle Kundenbedürfnisse. Dies gilt sowohl für die aufzahlungsfreie Standardversorgung als auch für die Komfort-Versorgung über Aufzahlung. Von dieser Erfahrung profitieren unsere Kunden, die wir als Vertriebspartner im Handel betrachten und partnerschaftlich unterstützen. So begleiten wir sie auf Wunsch im kompletten Versorgungsprozess. Dies beginnt mit Schulungen für Führungskräfte und setzt sich mit Produkt- und Anwendungsschulungen für Beratungspersonal fort. Eine professionelle Verkaufsunterstützung mit Mustern und durchdachten Werbemitteln ist bei uns selbstverständlich. Darüber hinaus bietet Hartmann seinen Partnern eine internetgestützte Software an, mit der Versorgungspläne erstellt und dokumentiert werden. Sie geben dem Leistungserbringer zu jedem Zeitpunkt Auskunft über die wesentlichen betriebswirtschaftlichen Kennziffern pro Patient und in der Gesamtheit.


Verschlechtert sich durch den Rahmenvertrag beziehungsweise durch eine Pauschalversorgung nicht zwangsläufig die Qualität der Inkontinenzversorgung?

Bonn: Nein. In der Regel gibt es nämlich vielfach noch Über- beziehungsweise Doppelversorgungen. Nicht selten tragen Patienten "für alle Fälle" Vorlagen und Slips übereinander, obwohl ein Produkt vollkommen ausreicht, sofern es richtig gewählt wurde. Bei der anfangs notwendigen Einstellung der Patienten ist der Leistungserbringer dazu gezwungen, den realistischen Bedarf an Produkten und Menge zu ermitteln. Dies liegt einerseits in seinem eigenen Interesse, um innerhalb der Versorgungspauschale wirtschaftlich zu agieren. Gleichzeitig ergibt sich daraus aber auch eine optimierte, effiziente und dadurch an den realen Bedürfnissen des Patienten ausgerichtete Versorgung, nach Möglichkeit ohne Aufzahlung.


Ist es für den medizinischen Fachhandel überhaupt möglich, den Vertrag mit einer Monatspauschale von 33 Euro wirtschaftlich zu erfüllen?

Bonn: Selbstverständlich ist das im Rahmen einer Mischkalkulation möglich. Dies setzt aber voraus, dass jeder Patient seinen individuellen Versorgungsbedürfnissen entsprechend versorgt wird. Eine adäquate Versorgung hängt primär vom Schweregrad der Inkontinenz ab. Ebenso wichtig ist die richtige Einstellung des Versicherten, wobei eventuell eine Optimierung, also eine Veränderung der bisherigen Versorgungsform, notwendig ist. Mehrfach- oder Überversorgungen sollten vermieden werden. Damit ist eine individuell angepasste Grundversorgung nach wie vor gewährleistet. Darüber hinaus kann eine vom Patienten gewünschte höherwertige Versorgung immer auch über Aufzahlung abgedeckt werden. Beratungskompetenz ist im neuen System der Versorgungspauschalen also ein kritischer Erfolgsfaktor. In all diesen Fragen hat Hartmann in den letzten Jahren wertvolle Erfahrungen gesammelt und Kompetenzen in der Beratung und im Umgang mit schwierigen Kunden erworben. Diese möchten wir an unsere Partner im medizinischen Fachhandel weitergeben und sie dazu befähigen, dass alle Patienten bestmöglich versorgt werden.


Warum engagiert sich die Paul Hartmann AG in Sachen Rahmenvertrag, obwohl namhafte Kreise den Vertrag ablehnen?

Bonn: Für Hartmann ist der medizinische Fachhändler als Leistungserbringer von großer Bedeutung. Wir möchten diesen Kundenkreis unterstützen. Andernfalls käme es zu einer Konzentration auf wenige, zum Teil überregionale Händler. Dies würde vor allem einen Verlust der Beratungsqualität durch fehlende Patientennähe nach sich ziehen, was nicht im Sinne der Hartmann-Strategie ist.


Stimmt es, dass die Paul Hartmann AG bereits selbst den Rahmenvertrag mit der AOK Baden-Württemberg unterzeichnet hat?

Bonn: Nein, das entspricht nicht der Wahrheit. Wir haben den Vertrag nicht unterzeichnet. Wir versuchen nach wie vor, mit einem flächendeckenden Handelsnetz eine wohnortnahe Patientenversorgung sicherzustellen.


Warum hat die Paul Hartmann AG bereits Maßnahmen zum Rahmenvertrag der AOK Baden-Württemberg wie etwa Seminarreihen für Führungs- und Fachkräfte realisiert, obwohl der Landesapothekerverband Baden-Württemberg und die Innung den Vertrag noch kippen wollten?

Bonn: Zu diesem Zeitpunkt war der Vertrag bereits veröffentlicht und daher nicht mehr verhandel- und umkehrbar. Hartmann ist dem Landesapothekerverband und der Innung somit nicht in den Rücken gefallen. Wir wollten lediglich keine Zeit verlieren und den medizinischen Fachhandel so schnell wie möglich in dieser schwierigen Situation unterstützen. Ziel dabei war es, Aufklärungsarbeit leisten, um das Thema fachlich und sachlich zu vermitteln. Übrigens: Nach Veröffentlichung des Vertrags erreichte uns eine Welle von Anfragen, vor allem von Seiten der Apotheken, in Sachen Schulungsveranstaltungen. Bisher haben 31 Veranstaltungen mit weit über 1000 Teilnehmern in ganz Baden-Württemberg stattgefunden. Die Resonanz war durchweg sehr positiv und unterstreicht somit die Richtigkeit der von uns getroffenen Maßnahme.


*Paul Hartmann AG, Paul-Hartmann-Straße, 89522 Heidenheim



DAZ 2011, Nr. 1, S. 107

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