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- DAZ 15/2011
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Arzneimittel und Therapie
Akute Otitis media:Antibiotika um jeden Preis?
Bis vor einigen Jahren gehörte die Antibiotikatherapie der akuten Otitis media (AOM) des Kindes zur Standardbehandlung in den meisten Industrienationen und auch heute noch führt die AOM z.B. in den USA die Liste der antibiotisch behandelten pädiatrischen Infektionskrankheiten an [2]. Die hohen finanziellen Ausgaben für das Gesundheitssystem (die ihrerseits allerdings auch gewaltige Einnahmen für die Pharmaindustrie bedeuten) und eine zunehmende bakterielle Resistenzentwicklung haben u. a. dazu geführt, dass die uneingeschränkte antibiotische Therapie der akuten Otitis media in den letzten Jahren hinterfragt wurde. Dieser andauernde Prozess hat bis heute nicht zu einheitlichen Therapieleitlinien geführt und das unterschiedliche Verschreibungsverhalten der Ärzte in verschiedenen Ländern hält an. Weitere kontrollierte Studien werden durchgeführt und veröffentlicht, wie kürzlich im New England Journal of Medicine (NEJM) [4,8]. Neue Ergebnisse von einzelnen Studien sollten im Kontext bereits vorliegender Studienergebnisse betrachtet werden, die in mehreren heute vorliegenden systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen zusammengefasst wurden [2,3,6]. Die Frage stellt sich, wie die beiden 2011 im NEJM publizierten randomisierten Studien unter medizinischen und studienmethodologischen Gesichtspunkten zu bewerten sind und ob die Schlussfolgerungen der aktuellen systematischen Übersichtsarbeiten aufgrund dieser Studienergebnisse revidiert werden müssen.
Die Studie von Tähtinen et al. schließt 322 Kinder im Alter von 6 bis 35 Monaten ein, bei denen eine akute Mittelohrentzündung diagnostiziert wurde [8]. Drei Kriterien mussten für die Diagnosestellung erfüllt sein:
ein Mittelohrerguss mit entweder vorgewölbtem Trommelfell, eingeschränkter Beweglichkeit, verändertem Aussehen oder sichtbaren Flüssigkeitsspiegeln;
sichtbare Entzündungszeichen im Bereich des Trommelfells;
akute Krankheitszeichen, wie z.B. Fieber, Ohrenschmerzen oder respiratorische Symptome.
Die Kinder wurden nach dem Zufallsprinzip entweder einer antibiotischen Therapie mit Amoxicillin-Clavulansäure oder einer Placebo-Behandlung für 7 Tage zugeordnet (incl. der Option einer Antibiotikabehandlung bei Verschlechterung). Die primäre Zielgröße "Zeit bis zum Therapieversagen" setzt sich aus sechs Einzelkomponenten zusammen, wobei nicht alle Einzelkomponenten in ihrer Bedeutung für den Patienten die gleiche Relevanz besitzen. Die Studie ergab eine signifikante Überlegenheit der Antibiotika-Therapie für das primäre Zielkriterium, allerdings traten in der antibiotisch behandelten Gruppe auch mehr Nebenwirkungen auf.
Nur die Hälfte wurde randomisiert
An dieser Studie sind u. a. die folgenden Punkte bemerkenswert:
Wenn man sich den Patientenfluss, incl. Screening anhand der Ein- und Ausschlusskriterien, ansieht, fällt auf, dass von den 746 Patienten, die nach dem initialen Telefoninterview noch für potenziell einschlussfähig erklärt wurden, letztendlich weniger als die Hälfte randomisiert wurden, da bei 387 die Diagnose einer akuten Mittelohrentzündung nach den im Studienprotokoll festgelegten Kriterien nicht aufrecht erhalten werden konnte. Aus der klinischen Praxis weiß man, dass, bedingt durch Unsicherheiten und Unschärfen bei der akkuraten Diagnosestellung, die akute Mittelohrentzündung zu häufig diagnostiziert wird [5]. Daher stellt sich die Frage, ob sich die Ergebnisse der Studie von Tähtinen et al. direkt auf den derzeitigen klinischen Alltag übertragen lassen, auch wenn eine strenge Definition und Diagnose des Krankheitsbildes an sich wünschenswert ist.
EXPERTENRAT in Kürze:
Antibiotika sofort oder später?
– Abwarten! Liegen keine besonderen Risikofaktoren vor, kann bei Kindern über zwei Jahren im Sinne einer Nutzen-Risiko-Abwägung anfangs auf eine antibiotische Therapie verzichtet werden, wobei eine kinderärztliche Verlaufskontrolle zu empfehlen ist [1].
– Antibiotische Therapie! Bei Kindern unter zwei Jahren mit akuter Mittelohrentzündung in Verbindung mit einer Otorrhö sowie bei einer bilateralen akuten Otitis media ist eine kausale antibiotische Therapie zu empfehlen und mit den Eltern abzusprechen. Eine 5-tägige Behandlung reicht dabei im Hinblick auf den mittel- bis längerfristigen Therapieerfolg meist allerdings aus und als Mittel der Wahl gilt Amoxicillin [1].
Spontanheilungen in der Placebo-Gruppe
Weiterhin ist bemerkenswert, dass es bei ca. der Hälfte der Kinder in der Placebo-Gruppe zu einer Spontanheilung kam (d.h. diese Kinder erfüllten nicht die Kriterien für ein Therapieversagen). Eine uneingeschränkte antibiotische Therapie jedes Kindes mit akuter Otitis media würde also diejenigen Kinder, die auch ohne Antibiotika gesund werden würden, den unerwünschten Nebenwirkungen der Antibiotika aussetzen, ohne dass sie dabei von den positiven "heilenden" Effekten der Antibiotika profitieren könnten. Diese Überlegungen verlangen nach dem in der Evidenz-basierten Medizin üblichen Konzept der "Number needed to treat" (NNT) und "Number needed to harm" (NNH), um rationale Therapieentscheidungen treffen und zusammen mit den Eltern diskutieren zu können.
Die zweite Studie von Hoberman et al. schließt 291 Kinder im Alter von 6 bis 23 Monaten ein, bei denen eine akute Otitis media diagnostiziert wurde [4]. Drei Kriterien mussten für die Diagnosestellung erfüllt sein:
ein Beginn der Symptome (die ein festgelegtes Minimum an Intensität überschreiten mussten) innerhalb von 48 Stunden,
ein Mittelohrerguss und
- ein vorgewölbtes Trommelfell (in Verbindung mit Ohrenschmerzen oder einer Rötung des Trommelfells).
Die Kinder wurden nach dem Zufallsprinzip entweder einer antibiotischen Therapie mit Amoxicillin-Clavulansäure oder einer Placebo-Behandlung (incl. der Option einer Antibiotika-Behandlung bei Verschlechterung) für 10 Tage zugeteilt. Zwei primäre Zielgrößen werden in der Veröffentlichung genannt (wobei eine der Zielgrößen in zwei unterschiedlichen Weisen erfasst und deren Ergebnisse separat berichtet werden): zum einen die Zeit bis zur Rückbildung der Symptome, und zum anderen das Ausmaß der Beeinträchtigung durch die Krankheitssymptome (Höhe des Symptomscores).
Nicht alle Zielgrößen waren a priori festgelegt
Die Studie ergab keine signifikante Überlegenheit der Antibiotika-Therapie für die Zeit bis zur initialen Symptomfreiheit, während bezüglich der dauerhaften Symptomfreiheit die Antibiotika-Therapie der Placebo-Therapie signifikant überlegen war, ebenso bezüglich der Höhe des Symptomscores. Allerdings traten in der antibiotisch behandelten Gruppe mehr Fälle mit Hautentzündungen im Gesäß- und Windelbereich und mit Durchfall auf.
In der wissenschaftlichen Diskussion im NEJM wird darauf aufmerksam gemacht, dass die in der Vollpublikation als primäre Zielgrößen aufgeführten Endpunkte nicht alle als solche im Studienregister (ClinicalTrials.gov) genannt wurden [7]. Initial war dort nur eine der Zielgrößen als primäre Zielgröße aufgeführt, nämlich diejenige, für die sich kein signifikanter Unterschied zwischen Antibiotika-Gruppe und Placebo ergeben hat. Als beweisend sind randomisierte Studien allerdings nur für die a priori festgelegte primäre Zielgröße zu betrachten. Die Unterschiede, die in den sekundären Zielgrößen gesehen werden, insbesondere wenn keine statistischen Korrekturen für multiples Testen vorgenommen wurden, sollten streng genommen nur für die Generierung neuer Studienhypothesen dienen, die wiederum in weiteren kontrollierten Studien untersucht werden sollten.
Was bedeuten die beiden Studien nun für die klinische Praxis? Sind deren Ergebnisse mit den Ergebnissen der vorliegenden systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen zu vereinbaren?
Eine 2010 im Journal der American Medical Association (JAMA) erschienene systematische Übersichtsarbeit gibt für die Zielgröße "klinische Heilung" eine NNT von 9 für die antibiotische Therapie an [2]. Die systematische Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration gibt eine NNT von 15 an, allerdings für die Zielgrößen "Schmerz, Fieber und Hörvermögen" [3]. Die JAMA-Publikation schloss eine Studie, die in der Cochrane-Arbeit enthalten ist, aus, die zwar "Schmerzrückbildung" als Zielgröße untersuchte, was aber von den Autoren der JAMAArbeit nicht als "klinische Heilung" gewertet wurde. Damit lässt sich die Abweichung der NNT zwischen den beiden Übersichtsarbeiten zumindest teilweise erklären. Eine weitere systematische Übersichtsarbeit ist insofern bemerkenswert, als dass sie auf individuellen Patientendaten von sechs randomisierten Studien beruht und zeigen konnte, dass Kinder, die jünger als 2 Jahre alt sind und an einer bilateralen akuten Otitis media leiden, sowie Kinder mit akuter Otitis media und Otorrhö von einer antibiotischen Behandlung profitieren und Schmerzen und/oder Fieber am 3. – 7. Tag seltener auftreten [6].
Fazit für die Praxis
Wenn man nun die beiden neuen im NEJM erschienenen Studien unter Berücksichtigung der beschriebenen methodologischen Einschränkungen und der Tatsache betrachtet, dass überwiegend junge Kinder (jünger als 35 bzw. 23 Monate) eingeschlossen wurden, so kann für die Praxis die Empfehlung aufrecht erhalten werden, dass bei Kindern mit akuter Mittelohrentzündung über zwei Jahren ohne besondere Risikofaktoren im Sinne einer Nutzen-Risiko-Abwägung anfangs auf eine antibiotische Therapie verzichtet werden kann, wobei eine kinderärztliche Verlaufskontrolle zu empfehlen ist [1]. Bei Kindern unter zwei Jahren mit akuter Mittelohrentzündung in Verbindung mit einer Otorrhö sowie bei einer bilateralen akuten Otitis media ist eine kausale antibiotische Therapie zu empfehlen und mit den Eltern abzusprechen. Eine 5-tägige Behandlung reicht dabei im Hinblick auf den mittel- bis längerfristigen Therapieerfolg meist allerdings aus und als Mittel der Wahl gilt Amoxicillin [1]. Die zukünftige Forschung sollte auf die engere Eingrenzung von Risikogruppen ausgerichtet sein. Weiterhin gilt es, pragmatische Studienprotokolle zu entwickeln, die der Realität im klinischen Alltag entsprechen.
Literatur
[1] Bassler D, Forster J: Was ist die Evidenz-basierte Therapie der akuten Otitis media? Monatsschr Kinderheilkd 2008; 156: 540 – 544.
[2] Coker TR, Chan LS, Newberry SJ, Limbos MA, Suttorp MJ, Shekelle PG, Takata GS: Diagnosis, microbial epidemiology, and antibiotic treatment of acute otitis media in children: a systematic review. JAMA. 2010 Nov 17;304(19):2161 – 9.
[3] Glasziou PP, Del Mar CB, Sanders SL, Hayem M: Antibiotics for acute otitis media in children. Cochrane Database Syst Rev. 2004;(1):CD000219.
[4] Hoberman A, Paradise JL, Rockette HE, Shaikh N, Wald ER, Kearney DH, Colborn DK, Kurs-Lasky M, Bhatnagar S, Haralam MA, Zoffel LM, Jenkins C, Pope MA, Balentine TL, Barbadora KA: Treatment of acute otitis media in children under 2 years of age. N Engl J Med. 2011 Jan 13;364(2):105 – 15.
[5] Pichichero ME, Poole MD: Assessing diagnostic accuracy and tympanocentesis skills in the management of otitis media. Arch Pediatr Adolesc Med. 2001 Oct;155(10): 1137 – 42.
[6] Rovers MM, Glasziou P, Appelman CL, Burke P, McCormick DP, Damoiseaux RA, Gaboury I, Little P, Hoes AW: Antibiotics for acute otitis media: a meta-analysis with individual patient data. Lancet. 2006 Oct 21;368(9545):1429 – 35.
[7] Shreves A: Changes between trial registration and publication. http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa0912254#t=comments.
[8] Tähtinen PA, Laine MK, Huovinen P, Jalava J, Ruuskanen O, Ruohola A: A placebo-controlled trial of antimicrobial treatment for acute otitis media. N Engl J Med. 2011 Jan 13; 364(2):116 – 26.
PD Dr. med. Dirk Bassler MSc, Leiter des Center for Pediatric Clinical Studies, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen Hoppe-Seyler-Str. 1, 72076 Tübingen
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