- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 27/2011
- Lebenslügen und Trends ...
DAZ-Jubiläumskongress
Lebenslügen und Trends im Gesundheitswesen
Thesen eines Außenseiters
Außenseiter sind vor der Betriebsblindheit geschützt, die manchen Insider befällt. Sie sehen Dinge, die der Insider nicht sieht – oder die er nicht sehen will. Dabei beruht die Ignoranz durchaus nicht auf einem Mangel an Intelligenz, sondern mit den intellektuellen Fähigkeiten wächst sogar die Fähigkeit, "lästige Fakten nicht zu sehen". Mit diesen Thesen empfahl sich Krämer als Experte, um dem Fachpublikum einige Wahrheiten über unser Gesundheitswesen zu vermitteln.
Für wen ist das Gesundheitswesen da?
Wer meint, das Gesundheitswesen sei nur für die Patienten da, der irrt, denn er übersieht, dass das Gesundheitswesen für alle, die darin ihr Geld verdienen, von existenzieller Bedeutung ist. Dies ist – mit graduellen Unterschieden – grundsätzlich immer schon so gewesen. Auch Adam Smith, der britische Theoretiker einer liberalen Nationalökonomie, hatte sich die Frage gestellt, ob ein rein karitatives System funktionieren könnte, und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es scheitern müsste. Dass wir eine Gesundheitswirtschaft haben, ist laut Krämer keine dekadente Erscheinung, sondern die Voraussetzung für eine funktionierende Versorgung.
"Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein medizinisch effizienteres Gesundheitswesen uns als Kollektiv gesünder macht." Prof. Dr. Walter Krämer |
Kostenexplosion durch Überalterung?
Es war schon etwas verwunderlich, das fragwürdige Wort "Überalterung" – als sei bei uns ein erträglicher Altersdurchschnitt der Bevölkerung bereits überschritten – aus dem Munde des Sprachpflegers Krämer zu hören. Allerdings verwendete er es im Zusammenhang mit dem populären Irrtum, das wachsende Durchschnittsalter sei eine Ursache für die (angebliche) Kostenexplosion im Gesundheitswesen.
Krämer berief sich auf Statistiken, die besagen, dass das letzte Lebensjahr eines Krankenversicherten prinzipiell das teuerste ist. Allerdings zeigt ein Vergleich der Altersgruppen, dass das letzte Lebensjahr von Patienten, die im mittleren Lebensalter sterben, teurer ist als bei hochbetagten Patienten.
Kann Rationalisierung die Rationierung verhindern?
Auf diese Frage antwortete Krämer mit einem klaren Nein. Es wird jetzt schon rationiert, und selbst beim rationalen Einsatz aller Ressourcen müsse in Zukunft immer stärker rationiert werden, man könne allenfalls darüber diskutieren, nach welchen Kriterien man dabei verfahren sollte. Aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts gebe es eine wachsende Diskrepanz zwischen dem Möglichen und dem Finanzierbaren, ein "Bedarfsloch".
Die Patienten werden nicht gesünder …
… sondern kränker, je mehr Geld man in das Gesundheitswesen pumpt und je effizienter es arbeitet. Dieses statistische, also auf die Gesamtheit der Patienten bezogene Faktum ist – wenn es auch paradox erscheint – als ein Erfolg der Medizin zu werten. Krämer verdeutlichte das mit einem Ausspruch eines alten Arztes auf einem Medizinerkongress: "Früher hatten wir es einfach. Da war der Patient nach einer Woche entweder gesund oder tot." Heute gelingt es der Medizin, viele Patienten am Leben zu erhalten, die früher sicher gestorben wären, aber sehr viele dieser Patienten werden nicht geheilt, sondern sind dazu verurteilt, ständig mit ihrer Krankheit zu leben wie z. B. Patienten mit dialysepflichtiger Niereninsuffizienz oder Diabetiker. Dies ist die Folge einer hoch entwickelten Medizin, die, gemessen an den Ansprüchen der Patienten, dennoch nicht vollkommen ist; Krämer sprach hier in Ermangelung eines passenden deutschen Begriffs von "halfway technologies".
Dem medizinischen Fortschritt ist auch geschuldet, dass die Ärzte ihre priesterliche Aura ("Götter in Weiß") verloren haben, denn der Fortschritt zeigt sich weniger in den persönlichen Leistungen der Mediziner als in dem enorm gewachsenen diagnostischen und therapeutischen Arsenal, das ihnen heute zur Verfügung steht. Moderne Medizintechnik und hochwirksame Arzneistoffe optimieren zwar die Therapie, aber sie tun dies auf Kosten der persönlichen Zuwendung zum Patienten. Früher gingen in der ärztlichen Praxis "curing" (Behandlung) und "caring" (Zuwendung) Hand in Hand, gerade weil die Behandlung allein nicht so erfolgreich war. Der gegenwärtige Mangel an "caring" bekommt aber vielen Patienten trotz bester Behandlung schlecht.
"Die letztendliche Sterblichkeitsrate bleibt immer 100 Prozent, da kann die Medizin machen, was sie will." Prof. Dr. Walter Krämer |
Prävention bringt finanziell nichts
Prävention ist löblich und nützt in der Regel dem Individuum, aber sie entlastet die Krankenkassen nicht. Denn statt der verhinderten Krankheit bekommt die vorbeugende Person irgendeine andere Krankheit, die sich trotz Prävention nicht verhindern lässt. Dann stellt sich, so Krämer, höchstens die Frage, welche der beiden Krankheiten billiger sei.
Als Misserfolg wertete Krämer die in den 80er Jahren groß angelegte Präventionskampagne im nordbadischen Städtchen Wiesloch, die allmählich im Sande verlaufen ist. Auch einige seriöse Modellrechnungen sind laut Krämer bezüglich des ökonomischen Nutzens von mehr Prävention zu skeptischen Ergebnissen gekommen. Eine Studie habe sogar ergeben, dass Raucher während ihres (kürzeren) Lebens ihre Krankenversicherungen weniger belasten als Nichtraucher. Unter finanziellen Aspekten – nicht unter humanen, wie Krämer betonte – sind Nichtraucherkampagnen demnach kontraproduktiv.
Vorschläge zur Lösung des Problems
Für Krämer folgt aus alledem: "Wir müssen das Bedarfsdeckungsprinzip aufgeben." Beispielsweise sollte man zahnmedizinische Behandlungen und Kuren komplett aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung herausnehmen. Auch bei Organtransplantationen – so segensreich sie im Einzelfall sein können – seien Beschränkungen erforderlich.
Es sei aber unethisch, von Fall zu Fall zu entscheiden, welcher Patient welche Leistung erhält, sondern man müsse die Kriterien auf einer patientenfernen, abstrakten Planungsebene festlegen. Bei der Planung gehe es um das "statistische Menschenleben". Welches Individuum dann unter dieser abstrakten Planung zu leiden hat, ist nicht vorhersehbar und dem Zufall überlassen; daher seien abstrakt geplante Rationierungen moralisch gerechtfertigt.
Krämer erinnerte daran, dass der Bürgermeister von New York in den 80er Jahren die Errichtung einer Spezialklinik für Brandverletzungen abgelehnt hatte, weil er sie gemessen an den zwölf Menschenleben, die dadurch jährlich gerettet werden würden, für zu teuer hielt. Dieses Beispiel von Rationierung bedeute keineswegs, dass in New York Jahr für Jahr zwölf Bürger zum Tode durch Verbrennen verurteilt wurden, sondern dass die statistische Wahrscheinlichkeit, durch Brandverletzungen zu sterben, in New York geringfügig gestiegen ist – für Krämer ein riesengroßer Unterschied.
Ein anderes Beispiel ist der Straßenverkehr. Selbstverständlich muss der Staat die Verkehrswege so bauen und den Verkehr so regeln, dass möglichst wenig Unfälle geschehen, aber er kann nicht jedem Bürger eine Edellimousine "auf Krankenschein verordnen", weil deren Insassen bei einem Unfall eine geringeres Verletzungsrisiko haben als die Insassen eines Kleinwagens.
"Einen Daimler-Benz gibt es nicht auf Krankenschein." Prof. Dr. Walter Krämer |
Die ganze Welt ein Hospital
Trotz seiner Vorschläge, das Gesundheitswesen zu reformieren, zeigte sich Krämer pessimistisch. Er verglich unser Gesundheitswesen mit all seinen Problemen und Konflikten mit einer klassischen Tragödie, bei der es keinen guten Ausgang gibt. Er beendete seinen Vortrag mit einem prophetischen Satz von Goethe, den dieser 1798 an Charlotte von Stein geschrieben hatte und der nach über 200 Jahren Wirklichkeit zu werden scheint:
"Ich halte es für wahr, dass die Humanität endlich siegen wird, nur fürchte ich, dass die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter werden wird."
cae
Inhaltsverzeichnis DAZ-Jubiläumskongress:
150 Jahre Deutsche Apotheker Zeitung: Unabhängigkeit als hohes Gut
Populäre Irrtümer – unpopuläre Wahrheit? Lebenslügen und Trends im Gesundheitswesen
Patientenorientierte Pharmazie: Schon im Studium gehört der Patient in den Mittelpunkt
Leistungsansprüche und Zahlungsbereitschaft: Mehr Geld für das höchste Gut Gesundheit
Apotheke im Versorgungssystem: Glaeske: Beratungsauftrag unter Beweis stellen!
Ende einer Epoche: Wenn Gesundheit zur Ware, Patienten zu Kunden werden
Die Apotheke aus ökonomischer Sicht: Apotheken – effektiv und effizient
Berufspolitische Diskussion: Bahr: "Ich bin bereit, Pick up zu unterbinden"
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.