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Zukunft der Medizin: Besser organisiert, aber nicht billiger

HAMBURG (tmb). Am 31. August luden Prof. Dr. Matthias Augustin und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zum zehnten Mal zu einem Eppendorfer Dialog über die Gesundheitspolitik ein. Bei der Jubiläumsveranstaltung wurden die Zukunftschancen der Medizin aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Trotz unterschiedlicher Positionen bestand Konsens, dass die älter werdende Gesellschaft und die zunehmenden technischen Möglichkeiten neue Strukturen mit einer stärkeren Vernetzung der Berufsgruppen im Gesundheitswesen erfordern.
Foto: DAZ/tmb
Über die Zukunftschancen der Medizin diskutierten (von links nach rechts): Prof. Dr. Jörg F. Debatin, Nobelpreisträger Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Harald zur Hausen, Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks, Gastgeber Prof. Dr. Matthias Augustin, Prof. Dr. Gerd Glaeske und Prof. Dr. Barbara Sickmüller

Augustin betonte die hohe Versorgungsqualität des deutschen Gesundheitssystems im internationalen Vergleich, allerdings sei die Effizienz teilweise fraglich. Die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks räumte ein, dass die Ziele bei vielen Gesundheitsreformen nicht immer klar gewesen seien. Doch in der Gesundheitspolitik sei Evolution statt Revolution gefragt. Die zentrale Herausforderung sieht sie in der älter werdenden Gesellschaft. Statt scheinbar unbegrenzte Innovationen zu bieten, müsse sich das System auf die Versorgung vieler chronisch Kranker einstellen. Dies sollte zu einer anderen Arbeitsteilung zwischen Gesundheits- und Pflegeberufen sowie zu mehr Vernetzung führen. Verbesserungen in der Organisation könnten manchmal größere Vorteile bringen als andere Neuerungen, doch "die Organisation des Gesundheitswesens tritt seit vielen Jahren auf der Stelle", konstatierte die Senatorin. Neben der wohnortnahen Grundversorgung forderte sie stärkere Spezialisierung und Zentralisierung für besondere Leistungen. Prüfer-Storcks forderte mehr zu prüfen, welche Patienten von innovativen Verfahren und Arzneimitteln profitieren. Doch dies könnten die Politik oder der Gemeinsame Bundesausschuss nicht leisten. Statt einer einheitlichen Regelung zur Priorisierung seien Einzelfallentscheidungen in der täglichen Praxis nötig.

Multimorbidität erfordert Vernetzung

Auch Prof. Dr. Gerd Glaeske, Bremen, gestand dem deutschen Gesundheitssystem eine hohe Leistungsfähigkeit zu, sieht aber Entwicklungsbedarf bei der Organisation, Finanzierung und Gerechtigkeit. Das Gesundheitssystem sei fragmentiert, wobei der stationäre Bereich dominiere und einzelne Teile sich nachvollziehbar egoistisch verhalten würden. Dagegen forderte er ein populationsorientiertes und sektorübergreifendes System. Es sei ein "Professionenmix" mit mehr Koordination und Kommunikation nötig. Die bestehende Fragmentierung führe zu Fehlentwicklungen. So hätten die deutschen Ärzte in Europa die längsten Arbeitszeiten und zugleich die kürzesten Konsultationszeiten pro Patientenbesuch. Das Gesundheitswesen müsse sich mehr auf die Versorgung chronisch Kranker einstellen, doch in den medizinischen Leitlinien zu diversen typischen Alterskrankheiten komme nicht einmal das Wort Multimorbidität vor. Zudem beklagte Glaeske, dass neue Arzneimittel vielfach keine Verbesserung für die Patienten bringen würden. Die Evidenzlücke zwischen der Zulassung und dem Nutzen unter Realbedingungen müsse geschlossen werden, doch solche Forschung müsse auch unabhängig von der Industrie finanziert werden.


Eppendorfer Dialog


Der Eppendorfer Dialog fand erstmals im Juli 2006 statt. In den ersten neun Veranstaltungen wurden 44 Vorträge gehalten. Initiator und Gastgeber Prof. Dr. Matthias Augustin sieht es als Ziel der Veranstaltungsreihe, wichtige Personen aus dem Gesundheitswesen zusammenzuführen, die ihr Wissen einbringen und komplexe Vorgänge verständlich erklären. Der Eppendorfer Dialog soll das deutsche Gesundheitssystem transparent machen und kritisch begleiten.

Viele Ansätze für den Fortschritt

Der Fortschritt durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und medizinische Verfahren stand im Mittelpunkt des Vortrages von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Harald zur Hausen, Heidelberg. Der Nobelpreisträger beschrieb den Entwicklungsweg seiner Forschung, die Papillomviren als eine Ursache von Gebärmutterhalskrebs identifizierte und so zur Konzeption einer Impfung führte. Zur Hausen betonte den nahezu hundertprozentigen Schutzeffekt der Impfung gegenüber Krebsvorstufen. Die Wirkung auf die Krebshäufigkeit könne naturgemäß erst in 15 bis 20 Jahren beurteilt werden. Die Impfung gegen Papillomviren schütze zudem vor Anal-, Kehlkopf- und Mundhöhlenkrebs. Zur Hausen sieht eine realistische Chance, demnächst einen Impfstoff gegen alle humanen Papillomvirustypen entwickeln zu können und diese Viren auszurotten. Zugleich plädierte er für einen geringeren Preis des Impfstoffes, damit dieser auch in Entwicklungsländern erschwinglich werde. Ein Zusammenhang zwischen der Impfung und den von Kritikern angeführten unerwünschten Effekten sei nicht belegbar. Aussicht auf weitere erfolgreiche Innovationen mit ähnlichem Ansatz machte die Bemerkung von zur Hausen, dass inzwischen 21 Prozent der weltweiten Krebsfälle mit Viren in Verbindung gebracht würden.

Einen weniger spektakulären Ansatz für Innovationen beschrieb Prof. Dr. Barbara Sickmüller, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie. Sie stellte die Forschung der Pharmaindustrie an bereits bewährten Wirkstoffen vor. Dies sei besonders effizient, weil die Substanzen und ihre Nebenwirkungen bekannt sind. So ergeben sich für einige etablierte Wirkstoffe später zusätzliche Indikationen. Sickmüller verwies beispielsweise auf Forschungen zum Einsatz von Allopurinol bei Angina pectoris. Beispiele im Bereich der seltenen Erkrankungen sind Histamindihydrochlorid bei akuter myeloischer Leukämie und Ibuprofen für Kinder mit angeborenem Herzfehler. Solche Orphan Drugs werden bei Anwendungen für Kinder durch europäische Regelungen mit einem verbesserten Unterlagenschutz belohnt. Doch beklagte Sickmüller, dass diese Regel ihr Ziel verfehlt, weil sie nicht auf das deutsche Sozialrecht wirkt. Denn etablierte Wirkstoffe verbleiben im Festbetragssystem und die Arzneimittel dürften sogar ungeachtet ihrer Zulassung substituiert werden. "Die bestehende Festbetragsregel bietet keinen Anreiz für therapierelevante Weiterentwicklungen", erklärte Sickmüller und forderte Ausnahmeregeln für nachgewiesene neue Anwendungen.

Billiger wird es nicht

Prof. Dr. Jörg F. Debatin, ärztlicher Direktor des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf, betonte die großen Leistungen des technischen Fortschritts, die den Patienten zugutekommen. Doch dies werde in Zukunft sicher nicht billiger. Auch Prävention werde das Gesundheitssystem nicht billiger machen, weil die Menschen dadurch älter werden und an anderen Krankheiten leiden. Für die Zukunft erwartet Dabatin neue Möglichkeiten durch computergestützte Verfahren, mit denen Patienten zu Hause versorgt und überwacht werden können. Als wesentlichen Trend sieht er die individualisierte Medizin. Nach der Standardisierung durch Disease-Management-Programme und evidenzbasierte Medizin werde nun erkannt, dass die Biologie heterogener ist und die Menschen verschieden sind. Ärzte müssten sich daher spezialisieren und teamorientiert arbeiten. Dazu gehören für Debatin Transparenz, Kommunikation, Patientensouveränität und eine effizientere Organisation. Wirtschaftlich erfolgreich sei ein Krankenhaus mit den Leistungen, die es besonders gut erbringe.


Hintergrund: Institut für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen


Der Initiator des Eppendorfer Dialogs, Prof. Dr. Matthias Augustin, ist als Dermatologe und Versorgungsforscher am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf tätig. Er ist Direktor des Anfang 2010 entstandenen Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen, das aus drei Sektionen besteht. Neben der Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei vaskulären Erkrankungen wird eine Hochschulambulanz betrieben. Am Institut arbeiten 39 Doktoranden und 42 weitere Beschäftigte. Das Institut ist beteiligt am neuen Hamburg Center for Health Economics und an mehreren Netzwerken wie dem Wundnetz Hamburg. Aus der Zusammenarbeit mit externen Partnern stammen auch die für die Versorgungsforschung nötigen Daten, beispielsweise aus dem Netzwerk Hautapotheke.de der Gesellschaft für Dermopharmazie. Mehr Informationen über das Institut finden Sie im Internet unter www.uke.de/institute/ivdp



DAZ 2011, Nr. 36, S. 24

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