Recht

Null-Retax ohne gesetzliche Grundlage

Neues juristisches Gutachten gegen Retaxationen auf Null durch Krankenkassen

STUTTGART/DÜSSELDORF (diz). Die Aussage ist deutlich: Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Retaxation auf Null ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Für die Retaxation auf Null fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage.
Dr. Heinz-Uwe Dettling Foto: AZ/cr

Zu diesem Ergebnis kommt ein vom Apothekerverband Nordrhein in Auftrag gegebenes Gutachten. Rechtsanwalt Dr. Heinz-Uwe Dettling befasste sich in diesem Gutachten mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der sog. "Retaxation auf Null" zulasten von Apotheken in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Wie Dettling in seinem Gutachten ausführt, erfolge die Retaxation auf Null nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unabhängig von den Umständen des Einzelfalls. "Sie setzt keinen Schaden der Krankenkasse voraus, fügt den Apotheken aber stets Schaden zu", heißt es in dem Gutachten. Die vom Bundessozialgericht durch Retaxation auf Null geschaffene "Vermögensstrafe" bilde dabei einen Fremdkörper in unserer Rechtsordnung, in der Fragen des Vermögensausgleichs von Fragen der Sanktionierung getrennt behandelt werden.

Ganz klar macht Dettling in seinem Gutachten: "Für die Retaxation auf Null fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage." Mit seiner Rechtsprechung dazu überschreite das Bundessozialgericht die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und richterlicher Rechtsfortbildung.

Hinzu kommt, so Dettling, dass eine Retaxation auf Null auch die Merkmale einer Strafe erfüllt. Der Retaxation auf Null fehle es jedoch an der für eine Strafe notwendigen gesetzlichen Grundlage.

Das Gutachten im Überblick

Nachfolgend ein Überblick über die Ergebnisse des Gutachtens vom 27. Januar 2012 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der "Retaxation auf Null" zulasten von Apotheken in der gesetzlichen Krankenversicherung:


1. Die Retaxation auf Null ist ein vom Bundessozialgericht als Richterrecht geschaffenes, besonderes Sanktionsinstrument in der gesetzlichen Krankenversicherung. In Fällen, in denen Apotheken bei der Abgabe von Arzneimitteln an gesetzlich Versicherte auch nur eine der vielzähligen arzneiliefervertraglichen (oder sonstigen gesetzlichen) Abgabepflichten nicht einhalten, verlieren sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Retaxation auf Null jeglichen Anspruch auf Vergütung oder Wertersatz für das abgegebene Arzneimittel. Dies gilt auch dann, wenn die Apotheke das richtige Arzneimittel abgegeben und damit die Krankenkasse von der Sachleistungspflicht gegenüber ihrem Versicherten befreit hat, der Versicherte also in der medizinisch notwendigen Weise mangelfrei versorgt wurde.


2. Das Bundessozialgericht begründet die Retaxation auf Null mit der Erwägung, dass die Steuerungsfunktion der verletzten Abgabebestimmung vereitelt würde, wenn der Leistungserbringer seine Leistung trotz des Fehlers vergütet erhielte. Das Bundessozialgericht erlaubt es den Krankenkassen dabei auch, angebliche Rückerstattungsansprüche wegen einseitig behaupteter Berechtigung zur Retaxation auf Null ohne gerichtliche Prüfung von laufenden Vergütungsansprüchen der Apotheken in Abzug zu bringen.


3. Das Bundessozialgericht vermengt damit die Frage der Vergütung für Leistungen mit der Frage der Sanktion für Pflichtverletzungen. Dagegen ist nach den gesetzlichen und arzneiliefervertraglichen Bestimmungen die Vergütung für Leistungen und die Sanktion für Pflichtverletzungen getrennt zu behandeln. Die gesetzlichen und arzneiliefervertraglichen Bestimmungen sehen für Pflichtverletzungen gesonderte Sanktionen in der Form von Verwarnungen, Vertragsstrafen und zeitweisem Ausschluss von der Versorgung gesetzlich Versicherter vor.


4. Die Retaxation auf Null erfolgt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unabhängig von den Umständen des Einzelfalls. Sie setzt keinen Schaden der Krankenkasse voraus, fügt den Apotheken aber stets Schaden zu. Die Apotheken verlieren nicht nur ihren eigenen Anteil am Gesamtkaufpreis der Arzneimittel, sondern zusätzlich ihre vielfach sehr hohen Aufwendungen für die Beschaffung der Arzneimittel. Die Retaxation auf Null kann für einzelne Apotheken existenzgefährdend wirken. Ihre Wirkung hängt im Übrigen ausschließlich von dem Zufall des Preises des betroffenen Arzneimittels ab.


5. Das vom Bundessozialgericht mit der Retaxation auf Null geschaffene, undifferenzierte, einseitige und rigide richterrechtliche Modell des Rechtsverhältnisses zwischen Apotheken und Krankenkassen bei der Abgabe von Arzneimitteln an gesetzlich Versicherte (BSG-Modell) steht in einem scharfen Kontrast zu dem vom Gesetzgeber als Leitbild auch im Verhältnis zwischen Krankenkassen und Apotheken anzuwendenden Modell des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB-Modell). Nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches begründen Pflichtverletzungen allenfalls Nachbesserungs-, Minderungs-, Rückabwicklungs- oder, soweit ein Schaden entsteht, Schadensersatzansprüche. Dem Gleichordnungsverhältnis von Apotheken und Krankenkassen entsprechend gewährleistet das differenzierte und ausgewogene BGB-Modell einen gerechten, die Umstände des Einzelfalls berücksichtigenden Ausgleich der Interessen der Apotheken und der Krankenkassen.


6. Die vom Bundessozialgericht geschaffene Retaxation auf Null bei Apotheken geht in ihrer Schärfe auch weit über das vom Schadensprinzip, vom Konsensualprinzip und vom Prinzip der gerichtlichen Klärung streitiger Vergütungsfragen geprägte Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Vertragsärzten durch die Prüfungsstellen hinaus, an denen zum Schutz der Vertragsärzte auch die Kassenärztlichen Vereinigungen als nichtgegnerische, vertragsarzteigene Institutionen beteiligt sind.


7. Die vom Bundessozialgericht mit der Retaxation auf Null geschaffene "Vermögensstrafe" bildet einen Fremdkörper in unserer Rechtsordnung, in der Fragen des Vermögensausgleichs von Fragen der Sanktionierung getrennt behandelt werden. Die Retaxation auf Null birgt überdies ein erhebliches Missbrauchspotenzial. Die Krankenkassen setzen das vom Bundessozialgericht zu ihren Gunsten richterrechtlich geschaffene Institut in zunehmend aggressiver Weise als Instrument zur beliebigen Verschaffung von Finanzmitteln außerhalb ihrer regulären Einnahmeströme ein. Die Auswüchse der Retaxation auf Null durch die Krankenkassen führen bei den Apotheken zu empfindlichen Verlusten bis hin zu existenzgefährdenden Situationen.


8. Für die Retaxation auf Null fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann sie nicht auf die Kollektivverträge nach § 129 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 SGB V gestützt werden. Sowohl § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB V als auch § 13 Abs. 2 des Rahmenvertrags zur Arzneimittelversorgung gemäß § 129 Abs. 2 SGB V bestimmen, dass für das Rechtsverhältnis zwischen Apotheken und Krankenkassen neben den §§ 63 und 64 SGB V und den Bestimmungen des Vierten Kapitels des SGB V "im Übrigen" die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend gelten, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar sind. Von einer generellen Retaxation auf Null bei jeglicher Art von Abgabefehlern ist dort keine Rede. Das BSG-Modell, dessen integraler Bestandteil die generelle Retaxation auf Null bei jeglicher Art von Abgabefehlern bildet, führt zu einem weitgehenden Ausschluss der Vermögensrechte, die sich nach dem Willen des Gesetzgebers für Apotheken aus dem anzuwendenden BGB-Modell auch bei Abgabefehlern ergeben.


9. Mit seiner Rechtsprechung zur Retaxation auf Null überschreitet das Bundessozialgericht die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und richterlicher Rechtsfortbildung. Die Rechtsprechung zur Retaxation auf Null ist aufgrund der Zufälligkeit ihrer Wirkungen und der Widersprüchlichkeit ihrer Begründung durch Elemente der Willkür und durch gravierende Auslegungsfehler geprägt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte beruhen. Die Rechtsprechung zur Retaxation auf Null missachtet die gesetzgeberische Grundentscheidung sowie die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und ersetzt in unzulässiger Weise die gesetzgeberische Grundentscheidung durch eigene Gerechtigkeitsvorstellungen.


10. Der Entzug der Ansprüche der Apotheker für die Abgabe von Arzneimitteln gegen Krankenkassen im Wege der richterrechtlichen Retaxation auf Null verletzt mangels gesetzlicher Grundlage und im Blick auf ihre Willkürlichkeit und Unverhältnismäßigkeit die Grundrechte der betroffenen Apotheker aus Art. 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit), Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlungsgebot) und Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsschutz).


11. Die Retaxation auf Null erfüllt überdies die Merkmale einer Strafe i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG. Sie ist ein missbilligendes, hoheitlich (einseitig öffentlich-rechtlich durch Krankenkassen und Gerichte) auferlegtes Übel zum Zwecke der Ahndung pflichtwidrigen Verhaltens, das über den vermögensrechtlichen Ausgleich eines entstandenen Schadens hinausgeht. Der Retaxation auf Null fehlt es jedoch an der gemäß Art. 103 Abs. 2 GG für eine Strafe notwendigen gesetzlichen Grundlage. Es handelt sich um eine rein richterrechtlich begründete Strafe ohne Gesetz. Sie verletzt somit auch die verfassungsrechtlich geschützten Rechte der betroffenen Apotheker aus Art. 103 Abs. 2 GG. Sie verletzt darüber hinaus als Strafe für partiell fremdes Verhalten das verfassungsrechtliche Erfordernis einer persönlichen Schuld für Strafe und als in ihrer Schwere ausschließlich vom Zufall abhängige Strafe das verfassungsrechtliche Erfordernis der Schuldangemessenheit von Strafe gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG.


12. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Retaxation auf Null ist daher mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Darauf gegründete Urteile sind verfassungswidrig.



AZ 2012, Nr. 6, S. 7

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