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Zwischenahner Dialog: Vom Gesundheitswesen zur Finanzkrise und zurück

Zukunftstrends beim Zwischenahner Dialog

BAD ZWISCHENAHN (tmb). Den Bogen von innovativen Arzneimitteln bis zu einer Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund der Finanzkrise spannten die Vorträge am zweiten Tag des diesjährigen Zwischenahner Dialogs am 20. April. Prof. Norbert Walter, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, warnte vor weiteren möglichen Folgen der Finanzkrise, forderte mehr Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und appellierte an die Solidarität im Rahmen kirchlicher Pflegeeinrichtungen, die die Hauptlast des demografischen Wandels tragen müssten.
Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen, warb für die große Bedeutung von Innovationen.

Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen, warb für die große Bedeutung von Innovationen. Es gehe darum, für Menschen in aller Welt Innovationen zu entwickeln und damit entscheidend zum medizinischen Fortschritt beizutragen, aber auch an der Lösung gesellschaftlicher Probleme mitzuwirken. Innovationen sollten ein Treiber für mehr Effizienz in einer Gesellschaft des längeren Lebens sein.

Der Standort Deutschland sei für die Forschung und Entwicklung noch attraktiv. Denn er biete eine sehr gute Infrastruktur mit erfolgreichen Netzwerken und vielen Fachkräften, doch sollten wir diese Bedingungen nicht verspielen. Auch die Gesundheitsversorgung sei in Deutschland hervorragend, aber die Zusammenarbeit und besonders die Verwaltung des sektoral gegliederten Systems seien problematisch. Fischer forderte, die Erfahrungen der Industrie aus der Forschung und Entwicklung für die Versorgung zu nutzen. Es sollte nicht nur die Strukturqualität betrachtet, sondern es sollten auch die Prozess- und die Ergebnisqualität verbessert werden. Ein weiteres Problem sei, dass das national organisierte Gesundheitswesen auf eine international ausgerichtete Industrie treffe. Von anderen europäischen Ländern könne Deutschland lernen, Gesundheit, Wissenschaft und Wirtschaft stärker integriert zu betrachten.

Industrie und Gesundheitswesen müssten sich gegenseitig kennenlernen. Es sei ein fairer Interessensausgleich nötig. So seien Nutzenbewertungen und Preisverhandlungen für Arzneimittel grundsätzlich in Ordnung. Dies gelte aber nicht, wenn schon bei der Nutzenbewertung nur der Preis gedrückt werden solle und alles ohne Differenzierung über einen Kamm geschoren werde. "Der Maßstab ist der Nutzen für den Patienten", so Fischer.


Brigitte Käser, Geschäftsführerin Gesundheitsmanagement ambulant der AOK Niedersachsen, betrachtete die Auswirkungen von Innovationen auf die Kostenträger.

Folgen für die Kostenträger

Die Auswirkungen von Innovationen auf die Kostenträger betrachtete Brigitte Käser, Geschäftsführerin Gesundheitsmanagement ambulant der AOK Niedersachsen. Die Verordnungsmengen für patentgeschützte Arzneimittel seien bei der AOK Niedersachsen leicht zurückgegangen, die Kosten jedoch weiter gestiegen. Besonders hoch seien die Ausgaben für Arzneimittel gegen Krebserkrankungen, in jüngster Zeit besonders für monoklonale Antikörper. Einzelne Fälle mit problematischem Nutzen-Wirtschaftlichkeits-Verhältnis hätten zur Verhärtung der Positionen geführt, erklärte Käser. Lösungen erwarte sie von der nun vorgeschriebenen Nutzenbewertung und den Preisverhandlungen. Dabei müsse die Spitzenorganisation der Krankenkassen zuerst mit den Herstellern verhandeln. Denn in einem solidarischen Sicherungssystem dürfe es bei der Einführung von Innovationen keine Unterschiede geben. Dennoch sollten auf einer zweiten Ebene zusätzliche kassenindividuelle Lösungen gefunden werden. Letztlich müssten fortschrittsbedingte Mehrausgaben kompensiert werden. Im Interesse aller Beteiligten müsse die Bewertung von Innovationen handhabbar und fair sein und zeitnah stattfinden. Außerdem dürften Gesetze nicht schneller erlassen werden, als der G-BA sie umsetzen könne.

Mit Blick auf die geforderte Zusammenarbeit im Gesundheitswesen erklärte Käser, die AOK Niedersachsen habe mit ihrem Schizophrenie-Projekt als erste Krankenkasse eine Industriekooperation eingeführt.


Professor Norbert Walter, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, zur Verwaltungsarbeit im Gesundheitswesen: "Wir müssen besser werden bei der Delegation von betriebswirtschaftlichem Käse."

Herausforderungen für Deutschland

Prof. Dr. Norbert Walter, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, blickte zunächst weit über das Gesundheitswesen hinaus und analysierte die Entwicklung der Finanzkrise. Die Verantwortlichen hätten die Folgen der Lehman-Pleite unterschätzt. Als Fernwirkung sei das Vertrauen in Banken, Finanzmärkte, den Kapitalismus und sogar in die Demokratie erschüttert worden. Wir befänden uns noch immer in einem Suchprozess für die künftige Entwicklung. Die Chinesen würden nun nicht mehr vom westlichen System lernen wollen. "Die sind sicher, dass sie die bessere Antwort haben", so Walter, denn dort gäbe es Wachstum und Innovationen. Er sei dagegen von der Demokratie und der Marktwirtschaft überzeugt. Walter sieht ein nennenswertes Risiko, dass die Finanzkrise noch nicht überwunden ist. Die sinkenden Zinsen in Deutschland würden die Altersvorsorge mit Lebensversicherungen erschweren. Einige Kräfte würden auf eine Abschaffung des Euro hinarbeiten, aber Walter warb entschieden für den Euro und die Unterstützung Griechenlands.

Das deutsche Gesundheitswesen schätzte Walter positiv ein, aber die Schnittstellen sollten besser organisiert werden. Statt Verwaltungsarbeit solle die eigentliche Leistung im Vordergrund stehen. Dazu gehöre Vertrauen zu den Spezialisten und besserer Austausch zwischen den Beteiligten. In den angelsächsischen Ländern sei die interdisziplinäre und projektbezogene Zusammenarbeit besser. Walter forderte Neugier gegenüber der jeweils anderen Seite, mehr Kommunikationsfähigkeit und eine andere Haltung zur Zusammenarbeit. Das Gesundheitswesen sollte von den Bereichen lernen, die weniger staatlich geregelt sind, z. B. von der zahnärztlichen Versorgung. Angesichts der geringen Kinderzahl und des zu erwartenden Arbeitskräftemangels sollte Deutschland gute Beziehungen zu weit im Osten liegenden Ländern mit Bevölkerungsüberschuss aufbauen, um die Pflege der künftigen Alten zu gewährleisten. Es sei nicht zu erwarten, dass die heutigen gering qualifizierten Jugendlichen in Deutschland diese Aufgabe später übernehmen würden. Walter warb dafür, die beiden Organisationen zu unterstützen, die langfristig die wesentliche Arbeit bei der Pflege der künftigen Alten tragen müssten: die Evangelische Diakonie und die Caritas.

Im Rahmen der Abschlussdiskussion forderte Dr. Jörg Berling, stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, die Misstrauenskultur im Gesundheitswesen abzuschaffen. Denn Bürokratie sei ein Ausdruck von Misstrauen. Moderator Peter Buschmann, Hamburg, wertete die Veranstaltung als Appell an die Institutionen des Gesundheitswesens Vertrauen zueinander aufzubauen.



DAZ 2012, Nr. 17, S. 35

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