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Immunologie
Ende des Superagonisten
Wie der Antikörper TGN1412 Hoffnungen der Immunologen zerstörte
Der TGN1412-Fall
Am 13. März 2006 um 8:00 Uhr nahm das Unglück seinen Lauf: Der Erste von acht gesunden, freiwilligen, männlichen Probanden im Alter von 21 bis 35 Jahren erhielt eine intravenöse Infusion mit 0,1 mg/kg TGN1412. Jede Infusion dauerte bei den einzelnen Probanden ca. 3 bis 6 Minuten, und im Abstand von 10 min erhielten die Studienteilnehmer, einer nach dem anderen, eine Infusion. Um 9:10 Uhr hatten sechs Studienteilnehmer Verum und zwei Probanden Placebo infundiert bekommen. Noch keine 90 min waren vergangen, da zeigten die Probanden, denen der Antikörper infundiert worden war, erste systemische Entzündungsreaktionen, die begleitet waren von Kopfschmerzen, Myalgie, Nausea, Diarrhö, Erythem, Vasodilatation und Hypotonie. Innerhalb der nächsten acht Stunden verringerte sich bei ihnen die Zahl der Lymphozyten und Monozyten, deren Minimum nach 24 Stunden erreicht war. 12 bis 16 Stunden nach der Infusion gerieten alle Verum-Probanden in einen kritischen Zustand mit Infiltraten in die Lunge und Lungenschäden, Nierenversagen und disseminierter intravaskulärer Koagulation. Um Mitternacht lagen bereits alle sechs Verum-Probanden auf der Intensivstation, waren an Herz-Lungenmaschinen angeschlossen, wurden dialysiert und erhielten hoch dosiert Methylprednisolon und einen antagonistischen Antikörper gegen den Interleukin-2-Rezeptor. Glücklicherweise überlebten alle Studienteilnehmer. Allerdings mussten einem Probanden Teile der Zehen und Finger amputiert werden.
Fataler "Zytokin-Sturm"
Im Nachhinein wurde festgestellt, dass die Verabreichung von TGN1412 zu einer massiven Freisetzung von Zytokinen geführt hatte, denn man fand bei den Studienteilnehmern deutlich erhöhte Konzentrationen an TNF-α, IFN-γ, IL-2, IL-6 und IL-10. Aber wie konnte es zu einem solchen "Zytokin-Sturm" kommen? Die In-vitro -Studien an humanen peripheren Blutzellen hatten keinerlei Hinweise auf einen derartigen Effekt gezeigt, und im Tiermodell mit Javaneraffen (Macaca fascicularis) wurden sogar Infusionen von 50 mg/kg Körpergewicht vertragen: Diesen Tieren war eine 500-fach höhere Dosis über vier Wochen einmal pro Woche verabreicht worden! Wieso lagen also die Forscher und die Spezialisten bei den Zulassungsbehörden mit ihren Einschätzungen so völlig daneben?
Die Vorgeschichte
Im Jahr 2000 hatte der Immunologe Thomas Hünig zusammen mit Thomas Hanke das kleine Biotechnologie-Unternehmen TeGenero aus der Universität Würzburg ausgegründet. Der erfolgversprechendste Wirkstoffkandidat dieser Firma war ein monoklonaler Antikörper, der das Signalmolekül CD28 auf T-Zellen binden konnte (Abb. 1).
CD28 gehört zu den Oberflächenproteinen, die eine wichtige Rolle als Kontrolleure des spezifisch auf ein Antigen reagierenden Teils des Immunsystems haben: Die Wechselwirkung zwischen CD28 auf einer T-Zelle und CD80 bzw. CD86 auf einer antigenpräsentierenden Zelle (APC) dient im intakten Immunsystem als Costimulator, wenn gleichzeitig der T-Zellrezeptor (TCR) mit einem von der APC über MHC (major histocompatibility complex) präsentierten Antigen interagiert. Nur wenn die APC ein Fremdantigen präsentiert, exprimiert sie auch den entsprechenden Liganden für CD28, und die T-Zelle kann aktiviert werden. Sollte versehentlich ein Eigenantigen präsentiert werden, findet hingegen keine zusätzliche Stimulation statt. Somit dienen CD28 und sein entsprechender Ligand quasi als Schutzmaßnahme vor einer autoimmunen Reaktion.
Das Besondere an dem Antikörper von TeGenero war und ist, dass er nicht einfach nur an CD28 bindet. Vielmehr ist dieser Antikörper in der Lage, als "Superagonist" die Signalweiterleitung in der T-Zelle auch dann zu initiieren, wenn keine Interaktion zwischen dem T-Zellrezeptor (TCR) und dem antigenpräsentierenden MHC auf der APC stattfindet. Damit kann der Antikörper auch unabhängig von einem Antigen T-Zellen zur Proliferation und Differenzierung aktivieren. Erstaunlicherweise hatte die Gruppe um Thomas Hünig gefunden, dass mit dem Antikörper sehr selektiv CD4+ CD25+ -regulatorische T-Zellen aktiviert werden – eine Zellpopulation, die eine wichtige Rolle in der Unterdrückung von Autoimmunreaktionen spielt (Abb. 2).
Angedacht war demzufolge, den TGN1412-Antikörper als Wirkstoff bei einer B-Zellleukämie, bei der zu wenige T-Zellen vorliegen, aber auch bei Autoimmunerkrankungen wie Rheumatoider Arthritis einzusetzen.
Isoliert wurde der Antikörper zunächst über die klassische Hybridomatechnologie. Dieser ursprüngliche Mausantikörper 5.11A1 wurde dann für die Anwendung am Menschen humanisiert, d. h. die Regionen, die für die Antigenbindung verantwortlich sind, wurden gentechnisch in das Protein-Rückgrat eines humanen Antikörpers gesteckt. Das Endprodukt TGN1412 war ein humanisierter IgG4-Antikörper mit einer leichten κ-Kette, der sehr spezifisch den sogenannten C’’D-Loop von CD28 erkennt und an diesen bindet. Andere, nahe verwandte Strukturen werden hingegen von dem Antikörper nicht erkannt.
Keine Warnsignale in präklinischen Tests
Als Tiermodell für die präklinische, toxikologische Testung boten sich Makaken und Rhesusaffen an: Die extrazelluläre Domäne von CD28 der Affen ist identisch mit der des humanen Moleküls, und die Bindungsaffinität des Antikörpers zu den entsprechenden CD28-Molekülen der Affenarten ist ebenfalls sehr ähnlich. Zudem sind die Fc-Rezeptoren und die nachfolgenden Signalwege vergleichbar, so dass die pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Untersuchungen in diesen Tiermodellen sehr gute Hinweise auf die Wirkung des Antikörpers im Menschen geben sollten. Demgegenüber sind die CD28-Moleküle bei Mäusen und Ratten deutlich unterschiedlich zu den humanen Varianten, so dass entsprechende Tiermodelle nicht herangezogen werden konnten, um Aussagen über Toxizität oder Wirkung machen zu können. Dennoch wurden zusätzlich Tests mit Ratten durchgeführt, wobei ein spezifisches Analogon von TGN1412 gegen das Ratten-CD28-Molekül verwendet wurde.
Alle behandelten Affen reagierten auf die Antikörper-Verabreichung mit einer Vermehrung der CD4+ - und CD8+ -T-Zellen und mit leicht erhöhten Konzentrationen der Interleukine IL-2, IL-6 und IL-5. Sie zeigten somit die erwartete Wirkung. In keinem der Tiere waren Anzeichen eines Zytokin-Freisetzungssyndroms beobachten worden; es traten kein anaphylaktischer Schock, keine Autoimmunreaktionen und auch keine systemische Immunsuppression auf. Die Dosis von 50 mg/kg wurde in diesen Versuchen ohne jegliche unerwünschten Wirkungen vertragen (No Observed Adverse Effect Level = NOAEL). Umgerechnet auf den menschlichen Körper und mit eingerechnetem Korrektur- sowie Sicherheitsfaktor wurde eine sichere maximale Start-Dosis (MSD) von 1,6 mg/kg ermittelt. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland stellte TeGenero den Antrag, die Phase-I-Studie durchführen zu dürfen, wobei zunächst 0,1 mg/kg Wirkstoff verabreicht werden sollte.
Geplant war die Phase-I-Studie als doppelblinde, randomisierte, Placebo-kontrollierte Studie, die an einem Studienzentrum der Parexel Clinical Pharmacology Research Unit (CPRU) durchgeführt werden sollte. CPRU hatte Räume am Northwick Park Hospital in Harrow (UK) angemietet und insgesamt 32 Teilnehmer rekrutiert. In vier Gruppen à acht Personen sollten entweder 0,1, 0,5, 2,0 oder 5,0 mg/kg Wirkstoff bzw. Placebo als Einzeldosis infundiert werden. Damit lagen die Wirkstoffmengen deutlich (maximal 500 x geringer) unter derjenigen, die in den Javaneraffen als ungefährlich identifiziert wurde.
Was lief bei den präklinischen Tests falsch?
Thomas Hünig, einer der Gründer von TeGenero und Entwickler von TGN1412, hat vor Kurzem in einem Beitrag in dem angesehenen Journal Nature Reviews of Immunology die Erkenntnisse zusammengefasst, die in den letzten sechs Jahren seit der missglückten Phase-I-Studie zusammengetragen wurden. Diese machen nun deutlich, warum alle drei präklinischen Testsysteme, das analoge Rattenmodell, die Makaken und die peripheren Blutzellen, bei der Vorhersage des Zytokin-Freisetzungssyndroms versagten.
- Humane periphere Blutzellen
Gibt man TGN1412 in wässriger Lösung zu Zellkulturen von peripheren, mononukleären Blutzellen (peripheral blood mononuclear cells, PBMCs), kommt es zu keinerlei Zytokinfreisetzung oder Proliferation der T-Zellen. Erst wenn T-Zellen in einer dicht gewachsenen Kultur vorliegen, ähnlich den Verhältnissen im Lymphknoten, kann TGN1412 tatsächlich die Zellen aktivieren (Abb. 3).
Unter diesen Bedingungen konnte TGN1412 sogar in einer 50-fach geringeren Konzentration die Expression von TNF-α induzieren.
- Ratten
In Ratten führte die Infusion eines CD28-Superagonisten zunächst zu einer polyklonalen T-Zell-Aktivierung. Allerdings wurden diese T-Zellen wieder recht schnell durch regulatorische T-Zellen (Treg) in Schach gehalten (Abb. 2). Dieser positive Effekt zeigte sich auch in verschiedenen Maus- oder Rattenmodellsystemen für Autoimmun- und Entzündungskrankheiten. Wird Ratten eine niedrige Menge Superagonist infundiert, proliferieren sogar bevorzugt Treg -Zellen, während normale CD4+ -T-Zellen nicht aktiviert werden.
Die Probanden erhielten jedoch TGN1412 in einer relativ hohen Dosis: Die CD28-Moleküle auf den zirkulierenden T-Zellen waren – späteren Kalkulationen zufolge – zu ca. 85% mit dem Antikörper belegt! Dadurch wurden bevorzugt CD4+ -Effektor-Gedächtnis-T-Zellen aktiviert. Diese Zellen werden im Laufe des Lebens infolge der verschiedenartigen Infektionen angelegt und befinden sich vor allem im Gewebe. Dort lauern sie auf die erneute Begegnung mit ihrem Antigen, um dann schnell aktiviert zu werden und die Zytokine IFN-γ, TNF-α und IL-2 auszuschütten.
Labortiere werden demgegenüber in einer annähernd keimfreien Umgebung gehalten und akkumulieren deshalb im Laufe ihres Lebens keine größeren Mengen an Effektor-Gedächtnis-T-Zellen. Bei ihnen war somit das Verhältnis von Treg - zu Effektor-T-Zellen sehr viel günstiger als bei den Probanden.
- Affen
CD28-Moleküle auf den T-Zellen von Makaken haben die identische extrazelluläre Domäne, an die TGN1412 mit ähnlicher Affinität binden kann wie an humane T-Zellen. Nur drei Aminosäuren in der transmembranären Domäne unterscheiden sich und könnten für eine veränderte Signaltransduktion und eine andere Reaktivität der T-Zellen verantwortlich sein. Ein anderer, wesentlich wichtigerer Unterschied liegt darin, dass die T-Zellen von Makaken bei der Differenzierung zu Effektor-Gedächtniszellen die CD28-Moleküle auf der Oberfläche verlieren. Das erklärt auch, weshalb selbst 50 mg/kg TGN1412 keine negativen Effekte hervorrufen konnten: Es fehlten einfach die Zielstrukturen auf den Gedächtniszellen!
Was macht TGN1412 wirklich?
Bereits andere Forschergruppen hatten in vitro gezeigt, dass der Antikörper TGN1412 nur dann T-Zellen effizient stimulieren kann, wenn er immobilisiert oder über den Fc-Anteil quervernetzt ist. Am Paul-Ehrlich-Institut wurden nun humane Endothelzellen mit T-Zellen co-kultiviert und mit TGN1412 inkubiert. Auf diese Weise wurde quasi auch die Situation in den Probanden nach der i.v. Infusion nachgestellt. Humane Endothelzellen exprimieren ebenfalls MHC-II-Moleküle und können T-Zellen Antigen-abhängig re-stimulieren. Anstatt jedoch CD80 oder CD86 als Costimulatoren zu exprimieren, präsentieren diese Zellen überwiegend CD58 (LFA-3), CD134L (OX40L) und CD275 (LICOS). Es zeigte sich, dass die Interaktion zwischen LICOS auf den Endothelzellen mit seinem Bindungspartner ICOS auf T-Zellen verantwortlich dafür ist, dass die Verabreichung von TGN1412 die T-Zellproliferation stimuliert und die Zytokinfreisetzung induziert (Abb. 4).
Hinzu kommt, dass die LICOS/ICOS-Interaktion eine positive Rückkopplung hervorruft, so dass noch mehr ICOS gebildet und in der Folge noch mehr T-Zellen stimuliert werden. Die initiale LICOS-Expression der Endothelzellen wird durch die Zytokine TNF-α und IFN-γ stimuliert, die beide bereits nach kurzer Zeit unter Zellkulturbedingungen sezerniert wurden.
Neue Regularien für Phase-I-Studien
Unmittelbar nach der desaströsen Phase-I-Studie mit TGN1412 initiierte die britische Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA) eine umfassende Untersuchung des Falls. Weder in der Herstellung oder Qualität des Wirkstoffs noch im Studiendesign konnte die Behörde Mängel feststellen. Zusätzlich zu diesen Untersuchungen wurde eine Expertengruppe eingesetzt, die ebenfalls die genaueren Umstände dieses Zwischenfalls aufklären sollte. Das Ergebnis war letztlich einhellig, dass die schwerwiegenden Reaktionen durch unvorhergesehene Wirkungen des Antikörpers im Menschen ausgelöst worden waren. Als Konsequenz entwarf das Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) der Europäischen Zulassungsbehörde EMA neue Richtlinien für die ersten Wirkstofftests am Menschen.
Demnach müssen unter anderem sehr viel mehr Informationen über den Wirkmechanismus des Moleküls, das erstmals am Menschen getestet werden soll, und über die Zielstruktur (und mögliche unspezifische Zielstrukturen) gesammelt werden. Damit soll ausgeschlossen werden, dass pleiotrope Effekte initiiert werden, die nicht mehr über entsprechende Feedback-Mechanismen gestoppt werden können. Auch die Expression der Zielstruktur, ihre Verteilung auf unterschiedlichen Zellen sowie mögliche Polymorphismen innerhalb der Bevölkerung sollten vorab geklärt sein. Und schließlich muss die Relevanz des/der verwendeten Tiermodells/Tiermodelle gezeigt werden, mit denen pharmakokinetische, pharmakodynamische und toxikologische Tests durchgeführt werden.
MABEL statt NOAEL
Nachdem bei TGN1412, wie man inzwischen weiß, eine viel zu hohe Dosis eingesetzt wurde, soll zur Dosisfestlegung nun nicht mehr automatisch der No Observed Adverse Effect Level (NOAEL) verwendet werden, der in präklinischen Sicherheitsstudien ermittelt wurde, sondern der Minimal Anticipated Biological Effect Level (MABEL). Der MABEL ist die Dosis, bei der man annimmt, dass erste Effekte im Menschen zu beobachten sind. Diese Dosis wird aufgrund aller verfügbaren In-vitro- und In-vivo- Daten ermittelt, wobei zusätzlich ein Sicherheitsfaktor mit einkalkuliert wird. Bei Unterschieden zwischen NOAEL- und MABEL-Werten sollte der niedrigere Wert eingesetzt werden. Hätte man die MABEL-Berechnung bei TGN1412 angewendet, hätte die Anfangsdosis nicht 0,1 mg/kg betragen, sondern wäre mindestens 200-fach niedriger angesetzt worden.
Fazit
Der katastrophale klinische Verlauf bei der initialen Testung von TGN1412 an gesunden Probanden war ein tragischer Unglücksfall. Dieser hat aber gezeigt, dass Richtlinien für die Zulassung von klinischen Studien nie alle Eventualitäten abdecken können. Richtig war, dass die EMA recht schnell mit einer Überarbeitung der aktuellen Guideline reagierte. Daraus ergeben sich nicht nur Konsequenzen für den Plausibilitätsbeleg für den Wirkmechanismus, die Zielstruktur und die Initialdosis des potenziellen Arzneistoffs. Auch die Auswahl und Überwachung der Probanden wurden neu geregelt. Thomas Hünig hat "seinen" Antikörper noch nicht ganz aufgegeben und glaubt, dass durch eine entsprechend niedrigere Dosierung und eine eventuelle Corticosteroid-Comedikation die unerwünschten Nebenwirkungen von TGN1412 ähnlich in den Griff zu bekommen sind wie beim pan-T-Antikörper OKT3. Seine Firma TeGenero hat den TGN1412-Fall nicht überstanden: Im Juli 2006 hatte TeGenero die Insolvenz angemeldet.
Literatur
AutorenDr. Ilse Zündorf, Prof. Dr. Theo DingermannInstitut für Pharmazeutische BiologieGoethe-Universität Frankfurt a. M.Max-von-Laue-Str. 960438 Frankfurt
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