Arzneimittel und Therapie

Erster bundesweiter Aktionstag gegen den Schmerz

„Jeder soll wissen, was bei Schmerzen zu tun ist“

Schmerzpatienten sind in Deutschland noch immer unterversorgt. Es fehlen bis zu 2500 schmerztherapeutische Einrichtungen. Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen und andere psychotherapeutische Verfahren werden zu selten genutzt. Darauf wiesen Schmerzexperten auf dem ersten bundesweiten Aktionstag gegen den Schmerz in München hin. Sie fordern eine bessere Aufklärung der Patienten, mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit und individuelle multimodale Therapiekonzepte.

Multimodales Behandlungskonzept Chronische Schmerzen sollten als ein bio-psycho-soziales Geschehen betrachtet werden. Sie allein mit einem Analgetikum zu behandeln, reicht nicht aus. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen ist notwendig und eine Verzahnung von Kliniken mit niedergelassenen Praxen und Rehabilitationseinrichtungen. Foto: AOK Mediendienst

Die Zahlen sind bedrückend: 10 bis 20% der Deutschen leiden unter chronischen Schmerzen. Das sind acht bis 16 Millionen Menschen. Häufigste Ursache sind Erkrankungen des Bewegungsapparates und hier vor allem der Rückenschmerz, gefolgt von Kopfschmerz und neuropathischem Schmerz. Noch bedrückender aber ist es, dass etwa die Hälfte dieser Patienten schmerztherapeutisch noch immer ungenügend versorgt ist. Selbst in der bayerischen Landeshauptstadt, in der die Versorgung als „gut“ bezeichnet werden muss, liegen die Wartezeiten in spezialisierten Schmerzzentren bei bis zu drei Monaten.

Hausarzt statt Schmerztherapeut

Ein HTA(Health Technology Assessment)-Bericht geht der Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Schmerztherapie auf den Grund und zeigt die Defizite klar auf: So werden noch immer die meisten Schmerzpatienten nicht von einem Schmerztherapeuten, wie eigentlich wünschenswert, sondern vom Hausarzt versorgt. Auch, weil trotz steigender Zahl an schmerztherapeutischen Einrichtungen in den letzten Jahren noch immer Unterversorgung herrscht. Aktuell stehen dem Bericht zufolge in Deutschland nur 500 bis 600 schmerztherapeutische Einrichtungen zur Verfügung, die pro Quartal etwa 440.000 Patienten versorgen. Danach fehlen 2500 schmerztherapeutische Einrichtungen. Zudem finden in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen psychotherapeutische Methoden viel zu selten Anwendung, obwohl es Belege für die Wirksamkeit und Kosteneffektivität kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen und anderer psychotherapeutischer Verfahren gibt, erläuterte Prof. Dr. Thomas Tölle von der Neurologischen Klinik und Poliklinik am Klinikum rechts der Isar der TU München auf dem ersten bundesweiten Aktionstag gegen den Schmerz am 5. Juni in München. Massive Defizite gibt es auch in der Versorgungsforschung.

Optimaler Versorgungsansatz – interdisziplinär und multimodal

Diese Ergebnisse des HTA-Berichts untermauern laut Tölle die Bedeutung von Handlungsfeldern, die die Deutsche Schmerzgesellschaft fördern möchte. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, das Wissen rund um Schmerz und schmerztherapeutische Versorgungsmöglichkeiten in der breiten Bevölkerung zu verankern. „Jeder Mensch soll wissen, was bei Schmerzen zu tun ist und den Weg zum Schmerztherapeuten finden“, so Tölle. Ebenfalls notwendig seien eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen und eine enge Verzahnung von Kliniken mit niedergelassenen Praxen und Rehabilitationseinrichtungen. Denn chronischen Schmerz allein mit einem Analgetikum behandeln zu wollen, greift zu kurz. Es handelt sich um ein bio-psycho-soziales Geschehen, das biologische ebenso wie psychologische, soziale und kulturelle Komponenten hat, erläuterte Prof. Dr. Shahnaz Christina Azad, Leiterin der interdisziplinären Schmerzambulanz und Tagesklinik der LMU München. Mit zunehmender Dauer wirken sich die Schmerzen beeinträchtigend auf die Psyche, aber auch auf Familie, Freundeskreis und die berufliche Situation aus. Neben diesen enormen psychosozialen Folgen für den Einzelnen, verursacht der chronische Schmerz auch enorme Kosten für das Gesundheitssystem. Trägt man der Komplexität und Vielschichtigkeit einer Schmerzkrankheit Rechnung, so sieht eine optimale Schmerztherapie nach derzeitigem Stand eine ganzheitliche Behandlung vor, die alle Komponenten des Geschehens umfasst.

Eckpfeiler der multimodalen Therapie

Um dem gerecht zu werden, sollte ein interdisziplinäres Team ein multimodales Behandlungskonzept entwickeln, das auf den einzelnen Patienten zugeschnitten ist. Neben medizinischen und medikamentösen Maßnahmen gehören dazu auch psychologisch-verhaltensmedizinische Verfahren sowie eine dem individuellen Leistungsvermögen angepasste Bewegungstherapie. Als Eckpfeiler eines multimodalen Behandlungskonzepts nannte Azad:

  • Medikamentöse Therapie: Individuelle medikamentöse Einstellung, angelehnt an den von der WHO empfohlenen Stufenplan bzw. bei Nervenschmerzen weitere Medikamente wie Antidepressiva und Antiepileptika;

  • Nicht-medikamentöse Therapie: TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation), Biofeedback;

  • Interventionen: Nervenblockaden mit Lokalanästhetika (z. B. Sympathikusblockade), Periduralanästhesie mit oder ohne Katheter zur kontinuierlichen Abgabe des schmerzlindernden Medikamentes, GLOA (Ganglionäre Lokale Opiod-Applikation), Implantation einer Stimulationselektrode oder Medikamentenpumpe im Bereich des Rückenmarks;

  • Psychotherapie: Psychotherapeutische Einzelgespräche und Gruppentherapie, Krankheits- und Schmerzbewältigungsstrategien, effektive Methoden zur Stressbewältigung;

  • Physiotherapie: Körper- und Bewegungserfahrung, Ausdauer-, Koordinations- und Krafttraining, Entspannungstherapie, physiotherapeutische Einzeltherapie, Selbsthilfetraining;

  • Sozialpädagogik: Beratung bei sozialen und beruflichen Fragen.


Apothekerin Dr. Beate Fessler



DAZ 2012, Nr. 30, S. 34

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