DAZ aktuell

Fortschritt ist Fortschritt

Gerhard Schulze

"Schreiben Sie doch mal was über Zahnpflege", sagte mein Zahnarzt während einer Routineuntersuchung zu mir. Er weiß vermutlich nicht, dass ich diese Kolumne schreibe, aber er kennt meine Bücher und hält die Verbesserung der Mundhygiene für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und damit für ein Thema der Kultursoziologie.

"Wir Zahnärzte können noch so viel reden – wenn die Patienten nicht mitmachen, werden wir die Karies niemals los. Hier, lesen Sie das", sagte er nach Ende unserer Sitzung und drückte mir einen Zeitungsartikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in die Hand. Dem Beitrag war zu entnehmen, dass 70 Prozent der Deutschen angeben, sich mindestens zweimal täglich die Zähne zu putzen, andererseits aber 90 Prozent der über 35-Jährigen an Karies leiden. Wie kann es sein, dass es nach Jahren der Aufklärung über richtiges Zähneputzen immer noch faulende Zähne gibt? Wie erklärt sich die Diskrepanz zwischen der Selbstauskunft der Befragten und der zahnmedizinischen Realität?

Die gute Nachricht lautet: Nur noch 70 Prozent aller Kinder machen eine Karieserfahrung. Nachzulesen ist das in der Mundgesundheitsstudie der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Bei Kindern scheint die Saat der Aufklärung also aufgegangen zu sein. Insgesamt kann man im Vergleich zu früher von einer verbesserten Mundhygiene sprechen. Interessant ist auch, dass sich der Trend zu gesünderen Zähnen in allen sozialen Milieus beobachten lässt.

Bleiben die über 35-Jährigen, bei denen Karies nach wie vor eine Volkskrankheit ist. Wie kann man die Betroffenen erreichen und sie dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern? Es ist ein delikates Thema, in der Zahnarztpraxis und erst recht in der Apotheke, wo viele Ohren mithören. Unappetitliches kommt zur Sprache: Zahnbeläge, Zahnstein, Fäulnisprozesse und deren Folgen.

Zähneputzen beugt Karies nur dann vor, wenn gründlich gereinigt wird. Man muss sich Zeit lassen und auch das Zahnfleisch und die Zahnzwischenräume mit einbeziehen. Wer das weiß und trotzdem hudelt, für den ist Zähneputzen nur ein symbolischer Akt, den man im Rahmen der Körperpflege mindestens zweimal täglich der Form halber durchführt, um kein Ausgestoßener zu sein.

Alles Mögliche geht heutzutage durch: Dreitagebart, Filzlocken, Piercing, Tattoos – die bewusst grenzwertige Umgestaltung des Körpers ist Kult. Vor der Verweigerung des Zähneputzens machen jedoch alle Halt. "Ich putze mir nie die Zähne, und das ist auch gut so" – eine Aussage in diese Richtung wäre nirgendwo anschlussfähig.

Zähneputzen ist eine unumstrittene Kulturtechnik. Sie dient der Gesundheit, zeugt aber auch vom Bemühen, dem Gegenüber angenehm zu sein. Die Perfektionisten der Reinigung erreichen beides, gesündere Zähne und gesellschaftliche Akzeptanz, die Putzmuffel hingegen wahren nur die Form.

An Zahngesundheit scheinen Putzmuffel nicht sonderlich interessiert. Sie putzen, um geliebt zu werden, und das mindestens zweimal täglich. Eine starke Motivation! Dann aber bedrohen Zahnstein, hängengebliebene Speisereste und chronisch entzündetes Zahnfleisch den Erfolg ihrer Bemühungen. Am kulturellen Aspekt der Zahnpflege kann man bei ihnen wirkungsvoller ansetzen als am medizinisch-gesundheitlichen Aspekt.

Der Zahnputzmuffel, der sich aus guten Gründen, die nur etwas zu kurz greifen, um eine gewisse Mundhygiene bemüht, erinnert auch daran, wie leicht der kulturelle Fortschritt hinter dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt zurückbleiben kann. Das Wissen um eine gute Mundhygiene steht längst allen zur Verfügung, der Markt für elektrische Zahnbürsten, Interdentalbürsten und Zahnseide wächst seit Jahren, aber die Karies ist immer noch da, weil noch nicht alle gelernt haben, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen.

Dennoch fällt meine kultursoziologische Bilanz des Zähneputzens positiv aus. Wenn ich mir den Anfang vorstelle, also die Mundhygiene der Steinzeitmenschen, der alten Ägypter, Griechen und Römer, dann haben wir sowohl technisch als auch kulturell einen Weg zurückgelegt, den man ohne Wenn und Aber als Fortschritt bezeichnen kann. Bei keiner Etappe dieses Weges käme jemand auf die Idee zu sagen: Früher war alles besser! Trotzdem denken viele so und üben sich in rückwärtsgewandter Kulturkritik.

Die Geschichte des Zähneputzens ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Fortschritt in der Regel eine gute Sache ist. Sie soll all jene ermuntern, die unverzagt und oft nur noch hinter vorgehaltener Hand, an der Moderne festhalten.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2012, Nr. 39, S. 28

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