Arzneimittel und Therapie

"Gefährliches Johanniskraut"

In einem aktuellen Übersichtsartikel hat eine Arbeitsgruppe der China Medical University die publizierte Evidenz (Primär-, Sekundär- und Tertiär-Literatur) der Jahre 2000 bis 2010 zum Thema unerwünschter Interaktionen von Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmitteln mit klassischen Arzneimitteln systematisch recherchiert und ausgewertet. Obwohl die Arbeit epigonal ist und inhaltlich keine neuen Erkenntnisse bietet, rief sie ein breites Echo in der Fach- und Laienpresse hervor.
Unterschätzte Phytopharmaka Nach wie vor gelten pflanzliche Arzneimittel als harmlos, potenzielle Wechselwirkungen werden nicht beachtet. Foto: PASCOE

Die Arbeit wurde in der aktuellen Ausgabe des International Journal of Clinical Practice veröffentlicht [1] und hat in zwei editoriellen Kommentaren – unter anderem im renommierten British Medical Journal – ein unmittelbares fachliches Echo gefunden [2, 3], obwohl die Arbeit inhaltlich keine neuen Erkenntnisse bietet. Aber auch in der Laienpresse wurde die Arbeit aufgegriffen und bildete unter anderem die Grundlage zur neuerlichen Warnung vor lange bekannten Arzneimittelinteraktionen mit Johanniskraut-Produkten [4].

Irritierende Studienauswahl

Von insgesamt 461 initial identifizierten Referenzen aus vier verschiedenen Datenbanken (Medline n = 78, Pubmed n = 70, EMBASE n = 328 und Cochrane Library n = 71) haben die Autoren letztlich 85 Quellen (das heißt nur 18% aller gefundenen Referenzen) als relevant eingestuft und detailliert ausgewertet. Für eine Übersichtsarbeit untypisch und etwas irritierend ist dabei, dass von den Autoren trotz der ungeheuren Breite der untersuchten Produktpalette insgesamt nur 31 relevante Originalarbeiten betrachtet wurden, wovon nur 16 Quellen originäre klinische Interaktionsstudien der höchsten Evidenzkategorie waren. Hingegen bildeten für Arzneimittelinteraktionen wenig relevante Tierstudien (n = 6) sowie nicht-kontrollierte Beobachtungsstudien/Fallberichte (n = 9), insbesondere aber Sekundär- und Tertiär-Literatur in Form früherer Review-Artikel, von Buchbeiträgen und Internet-Quellen (n = 54!) den Hauptanteil der gesichteten Evidenz.

Im Gegensatz dazu hat ein vergleichbarer aktueller Review-Artikel, veröffentlicht in Planta Medica, allein zum Thema pharmakokinetischer Interaktionen von nur sechs populären pflanzlichen Produkten (Ginkgo biloba, Ginseng, Knoblauch, Mariendistel, Gelbwurz und Echinacea) insgesamt 66 Originalarbeiten klinischer Interaktionsstudien identifiziert [5].

Allein aus dieser Diskrepanz der aufgefundenen und berücksichtigten Primärliteratur ergeben sich methodische Fragen bezüglich Vollständigkeit, Güte und Relevanz der verwendeten Datenbasis, insbesondere da die Autoren in ihrer Analyse fast ausschließlich auf dokumentierte Häufigkeiten von Interaktionen der von ihnen untersuchten Phytopharmaka/Supplemente mit verschiedenen anderen Arzneimitteln abheben. Eine qualitative Wichtung der identifizierten Evidenz wurde von den Autoren nicht vorgenommen.

Die Autoren haben durch ihren Review insgesamt 882 dokumentierte paarweise Interaktionen zwischen 213 verschiedenen Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmitteln mit insgesamt 509 verschiedenen verschreibungspflichtigen Medikamenten identifiziert und bezüglich bestimmter Aspekte ausgewertet.

Interaktions-Spitzenreiter

Die Autoren berichten dabei unter anderem, dass unter den Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmitteln für Johanniskraut- (n = 147), Magnesium- (n = 102), Calcium- (n = 75), Eisen- (n = 71) und Ginkgo-Präparate (n = 51) am häufigsten Interaktionen mit anderen Arzneimitteln publiziert wurden. Umgekehrt gehören Warfarin, Insulin, Acetylsalicylsäure, Digoxin und Ticlopidin zu den Arzneimitteln, die am häufigsten als Objekte von Interaktionen mit Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmitteln beschrieben wurden. Keineswegs überraschend handelt es sich bei den betroffenen Arzneimitteln in der Regel (mit wenigen Ausnahmen) um Substanzen mit enger therapeutischer Breite.

Ein Viertel klinisch relevant

Unter den 882 identifizierten paarweisen Interaktionen waren 42% auf pharmakokinetische Mechanismen zurückzuführen, 40% auf pharmakodynamische Mechanismen und 8,5% auf eine Kombination von pharmakokinetisch/pharmakodynamisch-basierten Interaktionen, während in 9% der Fälle derzeit die mechanistische Basis unklar ist. Etwas mehr als ein Viertel (26%) der identifizierten Interaktionen wurden als klinisch relevante, gefährliche Interaktionen (major interactions) kategorisiert.

Unvollständige Datenbanken

Die Autoren weisen ferner auf die bekannte Tatsache hin, dass bislang nur ein Teil der publizierten Interaktionen (hier 59%) in relevante Interaktions-Datenbanken (z. B. MicroMedex® und Natural Product/Drug Interaction Checker in der Natural Medicine Comprehensive Database [NMCD®]) Eingang gefunden hat, und dass die diesbezüglichen Informationen in den verschiedenen Datenbasen nicht nur unvollständig sind, sondern zum Teil auch erhebliche Inkonsistenzen in der Kategorisierung der Interaktions-Schweregrade aufweisen. Dieser Umstand erschwert es natürlich Fachkreisen, sich bezüglich eventueller Interaktionsrisiken von Phytopharmaka und Supplementen rasch, zuverlässig und umfassend zu informieren und ihre Patienten diesbezüglich zu informieren.

Zusammenfassend kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Phytopharmaka grundsätzlich mit einem höheren Interaktionsrisiko mit Arzneimitteln assoziiert sind als diätetische Nahrungsergänzungsmittel wie z. B. Vitamine, Mineralstoffe und Aminosäureprodukte.


Quelle

[1] Tsai, H-H.; Lin, H-W.; Pickard, S.A.; Tsai, H.-Y.; Mahady, G.B.: Evaluation of documented drug interactions and contraindications associated with herbs and dietary supplements: a systematic literature review. Int J Clin Prac (2012) 66: 1056 – 1078.

[2] Ernst, E.: Interactions between drugs and supplements: the tip of an iceberg? Int J Clin Prac; (2012) 66:1019 – 1020.

[3] Anekwe, L.: St John‘s Wort causes most drug interactions, finds review. BMJ. (2012) 29; 345: e7295. doi: 10.1136/bmj.e7295.

[4] Ballwieser, D.: Gefährliches Johanniskraut. Spiegel Online, 25. Oktober 2012.

[5] Hermann, R.; von Richter, O.: Clinical evidence of herbal drugs as perpetrators of pharmacokinetic drug interactions. Planta Medica (2012) 78: 1458 – 1477.

[6] Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC). Assessment Report on Hypericum perforatum L., herba. EMA/HMPC/101303/2008.

[7] Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC). Community Herbal Monograph on Hypericum perforatum L., herba (traditional use). EMEA/HMPC/745582/2009.


Dr. med. Robert Hermann, FCP, Rossittenstraße 15, 78315 Radolfzell


Dr. med. Robert Hermann

Kommentar: Review ohne Bedarf


Ohne Frage weist der Artikel von Tsai und Mitarbeitern auf einen sehr wichtigen und in der klinischen Praxis oft zu wenig beachteten Problemkomplex hin, nämlich, dass Patienten frei erhältliche pflanzliche Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel grundsätzlich als sicher einschätzen, und kaum ein Bewusstsein hinsichtlich möglicher unerwünschter Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln in der Öffentlichkeit besteht.

Unterschätzte Wechselwirkungen

Zudem informieren die meisten Patienten in der Regel ihre behandelnden Ärzte oder Apotheker nicht über bestehende Selbstmedikationen. Daher werden in Fachkreisen Risiken möglicher Wechselwirkungen zwischen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmitteln grundsätzlich noch immer unterschätzt, und überdies können sie im Rahmen der Verordnung verschreibungspflichtiger Medikamente nicht berücksichtigt werden. Dies ist insbesondere angesichts der verbreiteten Poly-Pharmakotherapie unter älteren und chronisch kranken Patienten ein relevantes Problem.

Schlechte Datenlage

Trotz der Wichtigkeit und Relevanz der Thematik für die Arzneimittelsicherheit ist die Anzahl guter, kontrollierter klinischer Interaktionsstudien von Phytopharmaka und OTC-Produkten mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nach wie vor gering, und eine wirklich relevante Zunahme von klinischen Forschungsaktivitäten ist derzeit kaum feststellbar. Die Gründe dafür sind ebenso vielschichtig wie naheliegend. Sie umfassen neben den eingeschränkten Ressourcen der Hersteller von Phytopharmaka bzw. Supplementen auch die mangelnde Beachtung der Problematik auf Seiten der forschenden Pharmaindustrie sowie die beiderseitige Zurückhaltung, aus eigener Initiative Interaktionsrisiken der eigenen Produkte systematisch zu explorieren und in Informationen für Fachkreise darauf hinzuweisen.

Mehr Reviews als Originalia

Dieser Umstand führt zu der etwas paradoxen Tatsache, dass zu der Thematik seit Jahren mehr Review-Artikel als Original-Arbeiten erscheinen. So finden sich bei einer aktuellen Pub-Med Recherche mit den Suchbegriffen "St. John’s Wort" (Hypericum perforatum , Johanniskraut) und "Drug Interactions" allein für den Zeitraum der letzten drei Jahre (2010 – 2012) insgesamt mindestens 26 Review-Artikel. Vor diesem Hintergrund überrascht das beachtliche Medienecho zu der aktuellen Arbeit, insbesondere in Anbetracht der methodischen Limitationen und des Mangels an wirklich neuartigen Erkenntnissen.

Was Reviews leisten sollten …

Üblicherweise ist es die Aufgabe von Review-Artikeln, die vorhandene Primärliteratur zu sichten, nach transparenten Kriterien qualitativ einzuordnen, übersichtlich zusammenzufassen, die gesicherte Evidenz herauszustellen und auf widersprüchliche bzw. inkonsistente Daten und Themengebiete sowie offene Fragen und künftige Forschungsfelder hinzuweisen.

... und was überflüssig ist

Review-Artikel, die sich hingegen überwiegend auf Sekundär- und Tertiär-Literatur stützen, verzichten notwendigerweise auf eine qualitative Bewertung von Primärdaten und eine entsprechende Wichtung der Information im Hinblick auf die tatsächliche klinische Relevanz.

Naheliegende Erkenntnisse

Entsprechend haben Tsai und Mitarbeiter äußerst heterogene Quellen von Tier- und Humandaten, Fallberichten und kontrollierten-randomisierten Studien undifferenziert nebeneinandergestellt und einfach die Zahlen der gefundenen Publikationen zu einzelnen Produkten ermittelt. Dabei überrascht es nicht, dass zu Substanzen, die z. B. grundsätzlich für Interaktionen mit CYP3A4 bekannt sind – einem zentralen Enzym im humanen Arzneistoffwechsel, das am Metabolismus von über 60% aller bekannten Arzneimittel beteiligt ist, – mehr Publikationen zu Interaktionen mit den zahlreichen existierenden CYP3A4-Substraten zu erwarten sind als z. B. für Produkte, die Interaktionen mit anderen Enzymen aufweisen, die eine weniger prominente Rolle im menschlichen Arzneistoffwechsel spielen. Für diese grundsätzlich naheliegende Erkenntnis ist es allerdings nicht erforderlich, im Rahmen eines Review-Artikels Publikationen zu zählen.

Dosierung differenziert betrachtet

Ein weiterer Aspekt, der in den allermeisten Review-Artikeln zu Arzneimittelinteraktionen – so auch bei Tsai und Mitarbeitern – nicht hinreichend gewürdigt wird, ist die differenzierte Betrachtung der eingesetzten Dosierungen. Im Falle von Phytopharmaka schließt dies die Kenntnis der Interaktions-vermittelnden Inhaltsbestandteile und deren teilweise stark unterschiedlicher Gehalt in verschiedenen pharmazeutischen Produkten mit ein. Johanniskraut-Produkte sind hierfür geradezu ein idealtypisches Beispiel. Der Assessment Report des Committee on Herbal Medicinal Products (HPMC) der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA zu Johanniskraut [6] stellt z. B. fest, dass der CYP3A4-induzierende Effekt gut dokumentiert ist und direkt mit dem Hyperforin-Gehalt von Johanniskraut-Produkten korreliert. Produkte, die geringe Mengen an Hyperforin enthalten (< 1%), haben demgemäß keine relevante CYP3A4- Induktion gezeigt. Entsprechend stellt die finale HPMC-Monographie zur traditionellen Anwendung (well established medicinal use) von Johanniskraut-Produkten fest: "Im Falle einer täglichen Einnahme von weniger als 1 mg Hyperforin und einer Einnahmedauer von weniger als zwei Wochen sind keine relevanten pharmakokinetischen Interaktionen zu erwarten." [7]

Qualität ist gefragt

Dieses Beispiel zeigt, dass das alleinige Auflisten von publizierten Interaktionshäufigkeiten ohne differenzierte Betrachtung von Dosis-Aspekten, Produkt-spezifischen Besonderheiten und Fragen der klinischen Relevanz insgesamt von geringem praktischem Nutzen für Ärzte, Apotheker und Patienten ist. Editoren von internationalen Peer-Review-Fachjournalen sollten daher künftig stärker auf die methodische und inhaltliche Qualität von Review-Artikeln achten, wobei für Übersichtsarbeiten, die sich vornehmlich auf Sekundär- und Tertiär-Literatur stützen, grundsätzlich kein Bedarf zu sehen ist und keine wissenschaftliche Akzeptanz gegeben sein sollte.


Dr. med. Robert Hermann, Radolfzell Arzt für Klinische Pharmakologie



DAZ 2012, Nr. 46, S. 34

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